Dienstag, 5. Juli 2011

Sängerfest - Laulupidu

Ja, ich habe ein klein wenig geweint. Obwohl ich gar keine Estin bin. (Darf ich trotzdem weinen?) Ich hatte – obwohl ich in etwa wusste, was mich erwartet – nicht mit dem gerechnet, was kam. „Was für ein Land ist das?“ haben sie als Eingangslied gesungen und dann die Nationalhymne. Wir saßen in der Loge und damit auf der Bühne und mitten zwischen den Chören, links und rechts jeweils mehrere Hundert singender Menschen. Und dann sangen nicht nur diese Chöre, sondern auch das Publikum stimmte mit ein. So in der Mitte eines Gesangs war ich noch nie gewesen. Um mich herum war nur Lied. Und ja, es war wirklich so, dass es sich anfühlte, als ob ein ganzes Volk singt. Das war sehr feierlich und das ging mitten ins Herz.

Was ich am Freitagabend dann zu sehen bekam, war ein echtes Spektakel. Die Tanzfläche war ein Meer aus Trachten, das hin und her wogte, in dem Wellen aufeinander zu und voneinander weg liefen. So faszinierend, dass aus den verworrenen Strudeln am Ende immer wieder geometrische Figuren entstanden! Und wenn sich fünftausend Röcke gleichzeitig um ihre eigene Achse drehten, dann drang das Rauschen bis ganz nach oben.


Der wichtigste Tag aber für die Besucher des Tanz- und Sängerfests war der Sonntag. (Kurz zur Info: Das Sänger- und Tanzfest an diesem Wochenende war nicht das große Sänger- und Tanzfest, das findet erst 2014 wieder statt, sondern das Sänger und Tanzfest der Kinder und Jugendlichen. Am Freitag- und Samstagabend fand das Tanzfest statt, am Sonntagnachmittag das Sängerfest. Am Sonntagvormitttag gab es zudem eine große Parade, Tänzer, Sänger und Musiker zogen von der Innenstadt zum Sängerfestplatz.)

Die deutschen Leser meines Blogs erahnen die Stimmung am Sonntag wohl am besten, wenn sie sich ein riesiges, riesiges, sehr frohes und sehr buntes Volksfest vorstellen. Nur die Fahrgeschäfte müssen sie sich wegdenken. Und vor allem die bayerischen Leser das Bier, das spielt keine große Rolle. Hinzudenken müssen sie sich einen gewaltigen Chor und eine große Picknickwiese.

Eigentlich versammeln sich die Esten äußerst ungern, das widerspricht, so sagen sie, ihrem Naturell. Aber zum Sängerfest machen sie eine Ausnahme, dann gibt es ein großes Hallo, wenn sich halb Estland, so möchte man glauben, zum Picknick trifft. Wer sich also das Fest im Kopf ausmalt, sollte schließlich noch folgenden Gedanken ergänzen: Dass sich alle Besucher des Fests einfach dadurch, dass sie gemeinsam da sind, als große Familie fühlen. Und sicherlich auch als Nation.

Exkurs: Die Geschichte des Sängerfests

Dass das erste estnische Sängerfest 1869 in Tartu stattgefunden hat, weiß hierzulande jedes Kind. Initiiert wurde es vom Publizisten Johann Voldemar Jannsen und schon damals versammelten sich rund 850 Teilnehmer und 15 000 Zuhörer. Das Fest hatte, wie auch die folgenden in dieser Zeit des Nationalen Erwachens, einen politischen Charakter, die Lieder unterfütterten das Selbstverständnis als Nation und dienten auch der Abgrenzung von Deutschen und Russen.

Inspirieren lassen hatten sich die damaligen Wegbereiter der Sängerfeste freilich dennoch von den Deutschbalten, die schon einige Jahre zuvor ähnliche Veranstaltungen in kleinerem Rahmen abgehalten hatten. Nachdem Janssen 1857 und 1866 an den Baltischen Sängerfesten in Reval teilgenommen hatte, nutzte er 1869 den 50. Jahrestag der Bauernbefreiung in Livland als Anlass, um die Genehmigung für ein estnisches Sängerfest einzuholen. Zehn Jahre später fand das zweite statt. Eine ähnliche Tradition entwickelte sich in Lettland und Litauen.

Viele Jahrzehnte lang konnten die Sängerfeste nur innerhalb des von oben vorgegebenen Rahmens stattfinden, erst musste mit ihnen dem Zaren gehuldigt werden, dann Lenin und Stalin. Trotzdem gelang es den Esten, sich das Fest als ihr ganz eigenes zu bewahren. Nachdem die Pflichtdarbietungen vollbracht waren, stimmten sie zu guter Letzt noch immer ihre geliebten althergebrachten Lieder und Melodien an. 1989 schließlich wurde das, was sich die Menschen in Estland, aber auch in Lettland und Litauen so bewahrt hatten, zur treibenden Kraft der „Singende Revolution“. Seit 2003 sind die Sänger- und Tanzfeste der drei Länder von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt.

Was mir am längsten im Gedächtnis bleiben wird, sind die Gesichter der Menschen. Die Kinder beim Auszug vom Sängerfestplatz, völlig ausgelassen, weil alles so gut geklappt hat, manche tragen sich gegenseitig Huckepack. Jungs, die bei der Parade voranschreiten und mit ihren kleinen Kinderarmen schwere Fahnen stemmen. Und erschöpfte Tänzer, selig schlummernd im Schatten.

Freitag, 1. Juli 2011

Was sich so tut

Schon ziemlich bald nach meiner Ankunft wurde ich von neugierigen Menschen (und insbesondere neugierigen Journalisten aus Brandenburg) gefragt, ob sich Tallinn in der Zeit, die ich schon hier verbracht habe, verändert habe. Und ob das am Kulturhauptstadtjahr läge. Ich fand diese Frage für mich zu früh. Natürlich hatte sich die Stadt verändert, doch das führte ich vor allem auf den Sommeranfang zurück.

Mittlerweile aber ist der 1. Juli, zwei Monate sind rum und ich habe Antworten auf diese Frage gefunden, die ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.

Eine besondere Sympathie hege ich ja von Anfang an für die Gegend rund um den Kulturkilometer. (Er wurde, wie mancher Leser noch weiß, Anfang Mai als Spazier- und Radweg auf einem alten Bahndamm eröffnet und gehört – natürlich – zu Kalamaja.) Regelmäßig bin ich dort unterwegs und bemerke, was sich so tut.

Unlängst hat zum Beispiel auf einem alten Fabrikgelände ein Gemeinschaftsgarten (Katlaaed) aufgemacht. Jeder, der will, bekommt kostenlos ein Stück Beet zur Verfügung gestellt, wenn er verspricht, dieses hübsch zu bepflanzen. Eine Feuerstelle gibt es schon, bald soll eine kleine Open-Air-Bühne dazukommen und vielleicht entsteht zwischen den alten Mauern eine grüne Oase.

Nahezu rund um die Uhr sind die Arbeiter am Meeresmuseum auf den Beinen. In drei großen Hangars, die früher Wasserflugzeuge beherbergten, sollen Schiffe ausgestellt werden. Eigentlich hätte das Museum im Mai eröffnet werden sollen, nun ist November angepeilt, was die Einheimischen ziemlich wurmt. Aber auch dort passiert was, immerhin der Kinderspielplatz mit einem echten Abenteuerschiff ist schon zu besuchen. Und einige besonders motivierte Touristen erkunden schon mal die Baustelle.

Das ganze Gebiet war zu Sowjetzeiten abgeriegelt und durch die Gleise der Güterbahn von der Stadt getrennt ... Wenn man das bedenkt, kann man spüren, wie eine abgewrackte und halb-vergessene Gegend aus dem Schlaf erwacht.

Irgendwann neulich hat auch die Ökoinsel (Ökosaar) im Fischerhafen angelegt. Auf einem Ponton steht ein roter London-Bus, er ist die Bar, rundherum dienen alte Kanister, Plastikplatten und Kabeltrommeln als Tische und Sitzgelegenheiten. Die Idee ist schnell verstanden, offenbar wurde die ganze Insel aus Recycling-Materialien zusammengezimmert. Kein schlechter Ort, um ein billiges Milchspeiseeis zu schlecken oder ein kühles Saku-Bier zu trinken!

Am allerbesten aber gefallen mir die neuen Liegeflächen am Fischerhafen. Der Kai ist dort an vielen Stellen halb ins Wasser gerutscht, die Betonplatten sind rissig und hängen schief Richtung Hafenbecken. Und was hat man vor einer Woche kurzerhand gemacht? Man hat diese Betonplatten mit schönen, gepflegten Holzplanken versehen, die Kanten sorgfältig an die Bruchstellen angepasst und so sind dort Liegeflächen entstanden, wie sie in einem neu eröffneten Freibad nicht besser zu finden wären. Ein perfekter Platz für Mädels, die gerade drei Monate Sommerferien haben.

Natürlich könnte man warten, ob sich der Fischerhafen irgendwann in ein romantisches Kleinod wie an der französischen Atlantikküste verwandelt, mit weiß getünchten Häusern, Segelmasten, die im Wind klappern, Restaurants und Bars, wo die Menschen abends entlang flanieren. Besser aber ist es, das zu nehmen, was jetzt schon da ist.

Jetzt das Beste aus dem machen, was wir haben! Darum geht es doch.



Dienstag, 28. Juni 2011

Strick-Graffiti


Eine Alternative zum Topflappen für Mutti: Strick-Graffiti! Viele, viele Schulkinder haben gestrickt und gehäkelt und nun verschönern ihre Werke den Tammsaare-Park. Gefällt mir!

Montag, 27. Juni 2011

Lieblingswöörter - Folge II

Fortsetzung des Mini-Sprachkurses. Was meine eigenen Fortschritte mit der estnischen Sprache betrifft … nun ja, von großen Sprüngen kann ich leider nicht berichten. Aber ich spitze meine Ohren und habe das Gefühl, zumindest den Charakter der Sprache immer mehr zu erfassen: Estnisch ist sanft und geradlinig und wahrscheinlich könnte einem die Sprache leicht von den Lippen gehen. Was sie auszeichnet, ist bestimmt auch der Verzicht: Der Verzicht auf unangenehme Laute, auf unnötige Silben und erst recht auf komplizierte Schreibweisen bei Fremdwörtern.

Aus der ersten Folge rufen wir uns nochmal ins Gedächtnis, dass die Esten Zischlaute ebenso wie harte Ts und Ps und Ks vermeiden. Genau, das war das mit dem Schloss, das zum Loss wird. Und das mit dem überflüssigen „Z“. Und fühlt sich „sedel“ nicht tatsächlich viel schöner an, im Mund, als „Zettel“?

Unnötige Anstrengungen ersparen sich die Esten auch dadurch, dass sie Silben, die für das Verständnis eines Wortes nicht unbedingt nötig sind, weglassen. Mütze ist müts, Braten ist praad, Kirsche ist kirss. Das reicht doch, ist doch klar, was gemeint ist. Nochmal zum Ausprobieren: Watte? Wappen? Wanne? Werden kurzerhand zu vatt, vapp und vann.

Regelrecht verblüffend ist die Konsequenz, mit der die Regel „Wörter werden so geschrieben, wie man sie spricht“ (vgl. ebenfalls Folge 1) befolgt wird. Ich habe jedenfalls viel Freude, wenn ich Wörter lese wie tüüp, platoo, biskviit und kvaliteet. Oder beebi und treening. (Und, seien wir ehrlich, wenn die Kinder in Deutschland zum Fußballplatz gehen, dann gehen sie doch auch zum „Treening“ und sprechen das Wort sicherlich nicht englisch aus – Training. Und wir bekommen auch Beebis, oder?)

Als Lernzielkontrolle eine kleine Knobelei: Was ist eine puänt?

Und zum Abschluss noch ein besonders nettes Wort, das ich neulich an einer Ladentür entdeckt habe. (Ist aber kein Lehnwort.) Kingsepp! Welcher bayerischer Bub wäre das nicht gerne? Sepp heißt Schmied. King heißt Schuh. Und der Schuhschmied ist der ... Schuster.

Weitere schöne Wörter:




Freitag, 24. Juni 2011

Jaanipäev – Johannitag

Die Stadt ist in diesen Tagen sehr ruhig, denn der Jaani-Tag ist ein Fest, das auf dem Land gefeiert wird. (So ist, wer in der Stadt bleibt und kein Tourist ist, ein wenig zu bedauern. Vielleicht hat er kein Sommerhaus und keine Freunde?) Das „Land“ allerdings beginnt in diesem Fall noch im Stadtgebiet Tallinn, auf dem Gelände des Freilichtmuseums in Rocca al Mare. Dorthin hatten sich gestern Hunderte von Menschen aufgemacht, um bei Musik und Tanz und Würsten vom Grill die Johanninacht zu feiern.

Am allerschönsten waren für mich (neben den frischen Blumensträußen vor den Häusern und in den Zimmern) die Tänze, die eine Gruppe nicht nur für die Zuschauer sondern vor allem für sich selbst getanzt hat. Das waren einfache Kreis- und Reihentänze zur Musik von Geige, Kontrabass und Akkordeon und herrlich ausgelassene, alberne Tanzspiele. Die Männer stupsen ihre Hintern aneinander, mimen einen grölenden Drachen. Die Frauen hocken sich eine hinter der anderen auf die Wiese und formen einen langen Bandwurm. Die Männer ziehen daran, purzeln durcheinander.




Nach einer Weile haben die Herren die Zuschauer aufgefordert, mitzutanzen, und so mischten sich Regenjacken und Kapuzenpullis unter die roten Röcke und immer mehr Menschen füllten die grüne Wiese. Für eine Viertelstunde hat sich mein Leben vielleicht so angefühlt, als wäre ich eine Estin. Die Füße im Wiegeschritt über das Gras, ein fescher junger Mann an meiner Seite, flatternde Bänder in wehenden Haaren in der Abendsonne, durch einen Tunnel aus Armen und den knallbunten Streifen von langen Röcken.

Eine ganz wunderbare Erfindung sind auch die estnischen Schaukeln, die, aus stabilen Brettern zusammengezimmert, an dicken Baumstämmen schwingen. Auf ihnen können acht Kinder gleichzeitig so hoch schaukeln, dass die Schuhspitzen über die Wipfel der Birken hinaus fliegen. In die Klänge des Akkordeons mischten sich helle Lachen und manchmal ein seliges Quietschen.

Ich ahne, wie sehr sich die Kinder in Estland auf den Jaani-Tag freuen müssen. Dann können sie einen ganzen Abend lang schaukeln und tanzen und sich Blütenkränze ins Haar setzen. Und ich ahne, dass einen bei dem Gedanken daran, dass die Tage nun wieder kürzer werden, eine süß schmerzende Wehmut befallen kann.

Mittwoch, 22. Juni 2011

Ankündigung: Morgen WDR 5 hören!

Morgen ist in acht Bundesländern in Deutschland und in Estland Feiertag („Fronleichnam“ bzw. „Siegestag“). Ein guter Anlass, um in Ruhe Radio zu hören, zum Beispiel die Sendung „Scala – Aktuelles aus der Kultur“ auf WDR 5!
In dieser geht es morgen um das Kulturhauptstadtjahr und dessen Motto „Geschichten von der Meeresküste“. Gleich am Anfang der Sendung gibt es ein Interview mit mir und zwei Posts aus meinem Blog. (Eine schöne Abwechslung: Blog nicht lesen, sondern hören ...) Nachzulesen ist das Programm auch auf der Homepage von WDR 5.
Die Sendung läuft von 12.05 bis 13.00 Uhr und in der Wiederholung von 23.05 bis 00:00 Uhr. Wer nicht in NRW wohnt, kann wie immer aufs Internet ausweichen: http://www.wdr.de/wdrlive/wdrplayer/wdr5player.html
Viel Spaß!

Dienstag, 21. Juni 2011

Koit und Hämarik (Morgenröte und Abenddämmerung)

„Die kurze Zeit der Freude, die Zeit der kürzesten Nächte, die so reich an Liedern und Blumen ist, entschädigt die Bewohner des Nordlands für das Leiden des strengen Winters. Zu dieser Zeit, in der die Natur des Nordens ein Fest feiert und in der sich Morgenröte und Abenddämmerung die Hände reichen, hat ein alter Mann den Enkeln, die sich um ihn herum versammelt hatten, die Liebesgeschichte von Koit und Hämarik erzählt. Und so werde ich weitergeben, was ich gehört habe.

Kennst Du den Feuerball im Haus des Großvaters? Gerade jetzt hat er sich zur Ruhe gelegt und dort, wo das Licht erloschen ist, schimmert noch ein ferner Schein am Himmel. Und schon bewegt sich das Licht weiter Richtung Osten, wo es bereits bald wieder in vollem Glanz die ganze Natur begrüßen wird. Kennst Du die Hand, die die Sonne in Empfang nimmt und sie zu Bett bringt, wenn sie ihre Reise vollendet hat? Kennst Du die Hand, die ihre Glut wieder neu entfacht und sie wieder auf die Reise entlang des Himmels schickt? Bei Großvater lebten zwei so treue Diener, denen ewige Jugend gegeben war, und als die Sonne am ersten Abend ihre Reise beendet hatte, sagte der Großvater zur Abenddämmerung: „In Deine Obhut, meine Tochter, übergebe ich die untergehende Sonne. Lösche sie aus und verstecke das Feuer, damit es keinen Schaden nehmen möge.“ Und als am anderen Morgen die Sonne ihre Reise wieder antreten musste, sagte er zur Morgenröte: „Mein Sohn, Deine Aufgabe ist es, das Feuer wieder zu entfachen und es für die nächste Reise vorzubereiten.“ Gewissenhaft erledigten die beiden ihre Pflichten und nicht an einem Tag verfehlte die Sonne ihren Bogen am Firmament. Und wenn sie sich im Winter am Rand des Himmels bewegt, geht sie abends früher aus und morgens beginnt sie ihre Reise später. Und wenn sie im Frühling die Blumen aufweckt und im Sommer die Früchte mit ihren warmen Strahlen reifen lässt, dann ist ihr nur eine kurze Pause vergönnt und die Abenddämmerung übergibt die Glut geradewegs der Morgenröte, die sie sofort wieder zu neuem Leben erweckt. Und als nun diese schöne Zeit begonnen hatte, in der die Blumen blühen und duften und Menschen und Vögel das Gewölbe von Ilmarinen mit ihren Liedern erfüllen, da schauten sich die beiden zu tief in ihre dunkel funkelnden Augen. Und als die erloschene Sonne aus der Hand der Abenddämmerung in die Hand der Morgenröte glitt, geschah es, dass sich Hände und Lippen leicht berührten. Aber die Augen, die nie geschlossen sind, hatten bemerkt, was in stiller Heimlichkeit um Mitternacht entstanden war und am nächsten Morgen rief der Großvater beide zu sich und sagte: „Ich bin zufrieden damit, wie ihr Eure Pflichten erfüllt und ich will, dass Ihr rundum glücklich werdet. So möget Ihr zusammengehören und Eure Aufgaben von nun an als Mann und Frau erfüllen.“ Doch die beiden antworteten wie aus einem Mund: „Großvater, verdirb uns nicht unser Glück, sondern lass uns für immer Braut und Bräutigam bleiben, denn in der Zeit der Verlobung, in der die Liebe jung und zart ist, haben wir unser Glück gefunden.“ Und Großvater erfüllte ihre Bitte und erteilte der Entscheidung seinen Segen. So treffen sich die beiden nur ein Mal im Jahr für die Zeit von vier Wochen um Mitternacht, und wenn Hämarik die erloschene Sonne in die Hände ihres Liebsten legt, folgt dem ein sanfter Händedruck und ein Kuss und Hämariks Wangen färben den Himmel rosenrot, bis Koit den Feuerball wieder anzündet und der ferne goldene Schimmer die wieder aufgehende Sonne ankündigt. Bis heute schmückt Großvater zur Feier ihrer Zusammenkunft die Felder mit den schönsten Blumen und die Nachtigallen rufen Hämarik, die nicht von Koits Wange weichen möchte, fröhlich zu: „Du Mädchen der Muße! Oh lange Nacht!““


Anmerkungen:
Niedergeschrieben hat das Märchen von Koit und Hämarik der Arzt und Philologe Friedrich Robert Faehlmann (1798 – 1850). Er sammelte estnisches Volksgut und leistete auch die Vorarbeit für das Nationalepos „Kalevipoeg“, das von Friedrich Reinhold Kreutzwald herausgegeben wurde. „Ilmarinen“ ist in der finnischen Mythologie ein Schmied, der einem Feuergott ähnelt. Das Märchen habe ich mit Hilfe meiner „Estnischlehrerin“ Eva auf Basis des Textes in der estnischen Wikipedia übersetzt und nacherzählt. (Danke, Eva!)

Montag, 20. Juni 2011

Pfeif drauf!


Nein, es geht hier nicht um die Warnung vor Taschendieben, interessant ist der kleine Aufkleber in der Mitte:

SINGVERBOT FÜR VÖGEL an WERKTAGEN zwischen 23 UHR und 9 UHR.

(Zum Glück pfeifen die Vögel drauf.)

Sonntag, 19. Juni 2011

Eine Geschichte zum Sonntagskaffee

An der Gabelung Pikk – Pühavaimu (Lange Straße - Heiliggeiststraße) steht ein stolzes Haus. Die Fassade ist in hellem Ocker getüncht, weiße Bögen überspannen die Fenster, den Abschluss bildet ein geschwungener Giebel. Über eine kleine Treppe erreicht man das Erdgeschoss und tritt ein in die „Martsipanituba“ – die Marzipanstube, die zur Firma Kalev gehört. Rechts hinter der Vitrine werden edle Pralinen zum Verkauf angeboten. Links sitzt Külli Mihkla und bemalt mit engelsgleicher Geduld und ruhiger Hand Marzipanfigürchen.


Külli ist ausgebildete Grafikerin und hat viele lange Jahre Gebrauchsgrafik gestaltet. Als der Computer ihren Berufsalltag zunehmend dominierte, kehrte sie der modernen Technik den Rücken und tauschte die Maus wieder gegen den Pinsel ein. Eine Zeit lang arbeitete sie als Porzellanmalerin, seit acht Jahren tunkt sie den Pinsel in Lebensmittelfarbe und verpasst jeden Tag vielen kleinen Tieren niedliche Gesichter. Hunde, Affen, Katzen, Vögel, Fische, Schildkröten – in den Schaufenstern ist fast die gesamte Tierwelt vertreten.

Die meisten der rund 200 Formen, mit denen die süße Mandelmasse zu niedlichen Figuren verarbeitet wird, sind Originale aus dem 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit gehörte das Haus der deutschbaltischen Familie Stude, die mit der Marzipanherstellung in der Pikk-Straße eine echte Erfolgsgeschichte schrieb. Die edlen Kreationen waren so berühmt, dass sie einst bis an den Hof des Zaren in St. Petersburg geliefert wurden. Sein Ende nahm dieser Teil der Geschichte 1939 mit der „Umsiedlung“ der Deutschbalten, als auch der damalige Geschäftsinhaber Alexander Reinhold Stude Estland verließ.

Otto Kubo ist 79 und auch im Ruhestand die gute Seele der Marzipanstube. Vor 56 Jahren hat er als Chemiker bei Kalev angefangen, war dann mehr als 30 Jahre Leiter des Zentrallaboratoriums, später Assistent der Geschäftsführung für internationale Beziehungen. Die Firma Kalev, die seit 1948 so heißt, war 1940 entstanden, als das Geschäft in der Pikk-Straße und mehrere andere Konditoreien und Süßwarenhersteller zusammengeschlossen und verstaatlicht wurden.

Otto Kubo spricht fließend Deutsch, er drückt sich sehr gewählt aus und nimmt sich die Zeit, nach den richtigen Ausdrücken zu suchen. Als kleiner Junge hat er die Sprache von seiner Großmutter gelernt, die aus einer deutschbaltisch-schwedischen Familie stammte. So freut sich Otto besonders, wenn sich deutschsprachige Gäste für die Geheimnisse des Marzipans interessieren. Dann tritt er aus dem hinteren Zimmer in den Verkaufsraum und erklärt die Schätze, die er im Lauf der Jahre zusammengetragen hat: Alte Werbeanzeigen aus den Revalschen Wöchentlichen Nachrichten, ein Marzipanpüppchen, das ein Bräutigam seiner Angetrauten im Jahr 1935 zur Hochzeit schenkte, eine Aufnahme des Ladens aus dem Jahr 1924, die die stolze Familie Stude mit Kunden und Personal beim Firmenjubiläum zeigt.

Seine deutschen Vorgänger in der Marzipanstube hat Otto Kubo nicht mehr kennen gelernt, dazu war er in den 1930er Jahren zu klein. Aber wohl erinnert er sich an das Café, das heute noch den gleichen Namen wie einst trägt, Maiasmokk, Leckermaul, und an dessen schmackhafte Kuchen. Unvergessen sind die Schaufensterauslagen, sie waren die schönsten in der ganzen Stadt. Besonders zur Weihnachtszeit hat sich der kleine Otto die Nase an den Fenstern platt gedrückt, denn was es dann hinter den Scheiben zu sehen gab, war ganz und gar zauberhaft: Schneewittchen und die sieben Zwerge, Dornröschen, Wichtel und Weihnachtsmänner und ganze Herden von Rentieren.

Freitag, 17. Juni 2011

Schlaflos in Tallinn


Zu viel Kaffee getrunken, zu lange im Buch von Sofi Oksanen gelesen und als ich um viertel nach zwei immer noch nicht eingeschlafen war, lohnte es sich auch nicht mehr. Draußen war es immer noch nicht und schon nicht mehr richtig dunkel und so setzte ich mich nochmal ein Stündchen an den Computer und machte mich dann um kurz vor vier auf, um vom Domberg aus den Sonnenaufgang zu bestaunen.

Ein paar betrunkene Gestalten vor dem Nachtklub lasse ich schnell hinter mir, oben dann ganz große Stille, nur das Rauschen der Blätter im Wind. Ich versuche immer zu raten, an welcher Stelle sich die Sonne über den Horizont schieben wird. Und liege meistens ein Stück daneben. Dann taucht sie auf, rosarot und schön schiebt sie sich hinter der Viimsi-Halbinsel hervor. Eine Fähre läuft im Hafen ein, das Deck noch festlich mit Lichterketten beleuchtet. Möwen und Schwalben schicken ihre Rufe in die Morgenluft und nach und nach tauchen die Sonnenstrahlen die Dächer der Lai-Straße in goldenes Licht.

Als alles vollbracht ist, komme ich mit Janek und Anko ins Gespräch, die neben mir in zwei Plüschsesseln sitzen. Die beiden haben den Sonnenaufgang mit einer Flasche Rotwein gefeiert und nachdem diese fast geleert ist und die magische Stimmung durchbrochen werden darf, unterhalten wir uns gut. (Weil wir mit Estnisch nicht groß weiterkamen, stellte sich schnell heraus, dass ich Russisch spreche. Und dass eine junge Münchnerin Russisch spricht, hat die beiden so fasziniert, dass sie sichtlich Spaß daran hatten, die passenden Sprachkenntnisse hervorzukramen, was wiederum Kindheitserinnerungen hervorrief, die entsetzen Augen der Mutter, als der dreijährige Stöpsel verkündete: Ich liebe Lenin!)

Die Einladung zum Frühstück schlage ich nicht aus. Mit den Fahrrädern über menschenleere Straßen unter Kastanien hindurch zur Tankstelle, wo wir eine Tüte trockener Mandelcroissants erstehen. Anko kocht Kaffee und dann sitzen wir zu dritt auf der Terrasse und tunken die Croissants in unsere Tassen und unterhalten uns übers Wandern, über estnische Witze und den Bau eines Hühnerstalls – bis um acht. Dann macht sich ein jeder an seine Arbeit.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Gestern

Gestern war der 70. Jahrestag der Juni-Deportation. Die Flaggen waren auf Halbmast gesetzt oder mit Trauerflor versehen. In der Nacht vom 13. zum 14. Juni 1941 rollten in Estland, Lettland, Litauen, der Bukowina und Bessarabien die ersten sowjetischen Massendeportationen an. Auch in Riga waren die Flaggen auf Halbmast gesetzt, das haben mir meine Eltern erzählt, die gestern von Riga nach Tallinn gekommen sind.

Die Verhaftungen in Tallinn begannen gegen ein Uhr in der Nacht, den Menschen blieb eine Stunde Zeit, um einige Sachen zu packen, am Bahnhof in Kopli standen die Viehwaggons bereit. Bis Anfang Juli wurden rund 10.700 Menschen aus Estland ins Innere der Sowjetunion transportiert.

Auf dem Freiheitsplatz (vabaduse väljak) standen gestern ein Eisenbahnwaggon und ein Lkw. Leider habe ich kein Foto von dem Waggon gemacht, da ich gestern ohne Kamera von einem Termin zum nächsten gehetzt bin. Aber es geht ja nicht um das Foto, sondern um den Moment.

Es gab diesen Moment des Innehaltens, des Schauderns und Trauerns. Der Eisenbahnwaggon stand so unvermittelt auf dem Freiheitsplatz. Ich war auch am Tag zuvor dort gewesen und dann gestern recht früh morgens dort unterwegs, und so war der Wagen tatsächlich über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht. Aus dem Waggon waren Stimmen zu hören. Und die Passanten gingen nicht vorbei, sondern änderten sogar ihren Weg über den Platz, um am Waggon stehenzubleiben. Sie lasen die Infotafeln, sie legten Sommerblumen nieder, sie diskutierten. Auch ich habe eine Blume gekauft und hingelegt, vorsichtig.

Heute ist der Waggon wieder weg.

Samstag, 11. Juni 2011

Der Dom – Toomkirik

Von allen Kirchen in Tallinn beeindruckt mich der Dom am meisten. Hier ist der Geist der Vergangenheit so deutlich spürbar, dass ich fast die Luft anhalten möchte. Von außen betrachtet strahlt der Dom weiß und klar, innen bilden die vielen geschnitzten Epitaphe und Kenotaphe deutschbaltischer Adelsgeschlechter den Kontrast dazu. Düster und mächtig hängen sie an den Wänden und erinnern an die einstigen Herren des Dombergs. Die Epitaphe sind Menschen gewidmet, die in der Kirche auch ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Die Kenotaphe erinnern an verdiente Gemeindemitglieder, ohne dass diese dort begraben wären.

Wegen ihres jüngeren Datums sind die Kenotaphe viel besser erhalten als die Epitaphe, sie glänzen golden im Licht. Mich faszinieren die dunkel gewordenen Epitaphe, deren Inschriften meist nicht mehr zu entziffern sind, ungleich mehr. Aufwändig wurden aus dem Holz Symbole der Macht herausgearbeitet, Wappen, Adler, Ritterhelme. Mir ist, als ob durch die Visiere noch die Augen der Ritter blicken und mich hier betrachten.

Die Holzbänke in der Kirche sind von nahezu mannshohen Wänden umschlossen, jede Bank ergibt so ein eigenes Abteil, das durch eine kleine Tür betreten wird. In Estland, so wurde mir erklärt, will man nicht so gerne wissen, was der Nachbar so treibt. Wer hier Platz nimmt, kann die Gegenwart draußen getrost vergessen. Und darüber sinnieren, ob die Nachbarn vor 200 Jahren das Gleiche beschäftigt hat, wie heute.

Donnerstag, 9. Juni 2011

Betrifft: Tourismus


Auf diesem Plakat steht: „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ Die Aussage hat weniger etwas damit zu tun, dass der Mensch, der das Plakat aufgehängt hat, Perlenketten bevorzugt. Vielmehr muss man wissen, dass Pfeffersteak ein Leibgericht der Finnen ist. Und da Helsinki nur 70 Kilometer entfernt ist und die Finnen gerne Wochenendtrips in den Süden unternehmen, haben viele Restaurants das Gericht auf ihrer Karte stehen. Mit Bernstein und Matrjoschka-Puppen wiederum beglücken die Souvenirläden all die Touristen, die auf der Suche nach „typisch“ osteuropäischen Mitbringseln sind.

Mit diesem Wissen lässt sich der Spruch auf dem Plakat verschieden interpretieren. Vielleicht ist der Verfasser einer derjenigen, die das Gefühl haben, dass die Altstadt mit ihrem Leben eigentlich nichts mehr zu tun hat. Viele Menschen hier sagen das. Dass in der Altstadt alles so teuer geworden sei, dass sie sich dort nicht mehr ins Café setzen würden, dass sie Tallinn im Sommer meiden würden.

Es könnte auch sein, dass der Pfeffersteak-Verschmäher die Oberflächlichkeit beklagt, mit der viele Touristen ihrem Reiseziel begegnen. Auch ich erlebe Momente des Kopfschüttelns. Neulich zum Beispiel, als ich den Dialog eines deutschen Ehepaars verfolgte. Beide um die sechzig, sie macht ein Foto von der Nikolaikirche. Er zu ihr: „Du fotografierst die ganze Zeit nur Kirchen.“ Sie zu ihm: „Ja, was Anderes gibt es hier ja auch nicht. Eine ist die Nikolai und eine ist die Olai.“

Es ist wohl das Schicksal von hübschen Innenstädten, dass die Gäste von auswärts sie den Einheimischen ein Stück weit wegnehmen. Und es ist wahrscheinlich das Schicksal des Tourismus, das er oft oberflächlich bleibt. Das Ganze ist, irgendwie, ein Dilemma, zu ändern ist die Situation eigentlich nicht. Unter „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ hat ein anderer unbekannter Mensch die Gegenfrage gekritzelt: „Aber was dann?“ Sie wurde noch nicht beantwortet.

Nachtrag zu: Zwei Tage Tartu


Da ich gefragt wurde, wie der Brunnen mit den küssenden Studenten aussieht: So!

Montag, 6. Juni 2011

Ankündigung: Die Stadtschreiberin im Radio

Noch bevor ich mich auf den Weg nach Tallinn gemacht habe, hat mich Albert Caspari, Redakteur der „Baltischen Stunde“ auf Radio Weser.TV, zum Stadtschreiberprojekt interviewt. Morgen Abend ist zu hören, was ich ihm erzählt habe. Denn im Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe der „Baltischen Stunde“ steht eine Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa, die im April in Berlin stattgefunden hat. Unter dem Motto „Tradition und Internet“ haben dort unter anderem die Kunsthistorikerin Krista Kodres, der Botschafter Estlands in Deutschland, Mart Laanemäe, der Historiker Karsten Brüggemann und der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Tallinn, Mikko Fritze, diskutiert. Auch dieses Gespräch wird in der Sendung zu hören sein. Mehr Infos zum Programm gibt es hier: http://infobalt.blogspot.com/

Zu hören ist die Sendung im Raum Bremen auf UKW 92,5 und im Kabelnetz auf 101,85 sowie als Live-Stream unter http://www.radioweser.tv/index.php?id=33&L=1. Nach der Ausstrahlung ist die Sendung unter: www.baltische-stunde.de zu finden.

Zwei Tage Tartu - Teil 2

Wie vor einem Monat in Tallinn, so sind es auch in Tartu zunächst wieder nur erste Eindrücke, die ich nach ein paar Tagen aus der Stadt mitnehme. Allerdings kann ich nicht anders, als die Stadt sofort mit Tallinn zu vergleichen.

In Tartu wie in Tallinn steht der Dom auf einem Hügel und so tragen auf Deutsch beide Orte den gleichen Namen: Domberg. (Auf Estnisch heißen sie unterschiedlich: Toompea, wörtlich übersetzt Domhaupt, und Toomemägi, Domberg, wobei ein „Berg“ natürlich ein Hügel ist.) Der Domberg – Toompea – in Tallinn war Jahrhunderte lang die Oberstadt, in der sich die Reichen und Mächtigen verschanzten. Noch heute grenzt er sich mit seinen hohen Mauern und stolzen Fassaden von der Stadt ab und wirkt, von unten betrachtet, mitunter unnahbar.

In Tartu hat es so eine strenge räumliche Trennung der sozialen Schichten nie gegeben, hier lebten innerhalb der Stadtmauern Kaufleute und Adelige zusammen. Und der Domberg der Stadt erinnert an ein romantisches Gemälde. Die Ruine der alten Backsteinkirche ist eingebettet in eine Landschaft aus sanften Hügeln und Birkenbäumen, schmale Trampelpfade führen durchs hohe Gras. In der Tat hat man Ende des 19. Jahrhunderts hier und dort ein bisschen nachgeholfen, um die Landschaft dem Zeitgeist anzupassen und Erde aufgeschüttet, eine Grotte angelegt, Brücken gebaut. Wenn man die verschlungenen Wege entlang schlendert, trifft man auf allerlei berühmte Persönlichkeiten aus Bronze. Der Dichter Kristian Jaak Peterson, einer der Begründer der estnischen Nationalliteratur, schreitet durchs Laub, Karl Ernst von Baer, der die Eizelle der Säugetiere entdeckt hat, sitzt in einem Sessel und grübelt.


Im Zentrum von Tallinn sind solche Persönlichkeitsdenkmäler kaum zu finden. Das liegt zum Teil daran, dass in der Sowjetzeit in der Hauptstadt mehr Denkmäler abmontiert und zerstört wurden als in der Provinz. Vor allem aber hat Tartu mehr berühmte Söhne hervorgebracht als Tallinn. Denn während die Universität in Tartu 1632 gegründet wurde, gab es in Tallinn bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine Hochschule.

Interessant ist auch der Vergleich der jeweils bekanntesten Denkmäler. In Tallinn erinnert die monumentale „Siegessäule des Unabhängigkeitskrieges“ an den Kampf um die estnische Unabhängigkeit in den Jahren 1918 – 1920. In Tartu lässt sich ein küssendes Studentenpaar unter einem Regenschirm fröhlich vom Wasser eines Springbrunnens beregnen.

Tartu ist die Stadt des Geistes und der Ideen, Tallinn die Stadt der Macht und der Taten. Politiker, Geschäftsleute, Kulturschaffende … bis heute ist es so, dass die wichtigen Persönlichkeiten des Landes fast ausnahmslos in Tartu studiert haben. Die Menschen in Tartu sagen, dass das Leben in ihrer Stadt geruhsamer ist als in Tallinn. Das passt zum Emajõgi, der durch die Stadt fließt. Tallinn liegt an der Ostsee und bildet das Tor zur Welt.

Es musste wahrscheinlich so sein, dass Tallinn seine Stadtschreiberin zuerst nach Tartu schickte.

Sonntag, 5. Juni 2011

Zwei Tage Tartu - Teil 1

In der Tat ist es bemerkenswert, dass die erste Lesung mit der Tallinner Stadtschreiberin in Tartu stattgefunden hat. Vielleicht ist das Zufall, vielleicht sehr charakteristisch.

Am Donnerstagabend hatte die Goethe-Gesellschaft im Deutschen Kulturinstitut Tartu zu einer Lesung geladen. Ich trug einige Texte aus dem Blog vor und Triinu Lukas, Studentin der Theaterwissenschaften und Hobby-Schauspielerin, las die estnischen Übersetzungen. Das Ganze war eine kleine und wirklich schöne Veranstaltung. Die etwa 20 Zuhörer waren sehr aufgeweckt und stellten viele Fragen. Besonders großen Anklang fand auch in dieser Runde mein Beitrag zu den Lieblingswörtern. Mit einem harten Kern gingen wir im Anschluss in das Restaurant Wilde und setzten dort die Unterhaltung bis in den späten Abend hinein fort.

Das Gebäude des Deutschen Kulturinstituts in der Kastani-Straße 1 ist ein echtes Schmuckstück, ein stolzes Jugendstilhaus mit Türmchen auf dem Dach. Es wurde 1904 von der deutschbaltischen Studentenverbindung „Neobaltia“ errichtet. Als sich Anfang der 1990er Jahre in Tartu mehrere Gesellschaften und Vereine formierten, die die deutsch-estnischen Beziehungen neu beleben wollten, suchten sie ein gemeinsames Dach und fanden es, nachdem das Gebäude mit Unterstützung aus Deutschland renoviert wurde, eben dort.

In dem Haus weht, wie es so schön heißt, ein guter Geist. Alte Dielen, Ornamente an den Wänden, schlichte Holzstühle für das Publikum und überall hatte die Sekretärin der Goethe-Gesellschaft liebevoll frische Blumen arrangiert, auf dem Kaminsims, auf dem Fensterbrett, auf dem Klavier. Ein Ort der Muße, an dem es nicht in erster Linie um Ergebnisse geht und sicher nicht um Profitabilität, sondern um Ideen und um Begegnungen.

Eine ähnliche Funktion erfüllt in Tartu das Domus Dorpatensis. Das Haus liegt direkt neben dem Rathaus und gehörte von 1849 bis 1939 der deutschbaltischen Familie von Rücker. Als die Familie die Rechte auf das Haus nach der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit wieder zugesprochen bekam, entschied sie sich, das Haus der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Nun sitzt in dem Haus die Stiftung „Wissenschaft und Kultur Domus Dorpatensis“, es gibt Seminarräume und gemütlich eingerichtete Gästewohnungen. So will das Haus ein Ort sein, an dem man Ideen und Erfahrungen austauscht.

Für mich ist die heutige Nutzung des Hauses der Neobaltia und des Domus Dorpatensis die schöne Fortsetzung einer langen Geschichte. Wie könnten diese im Jahr 2011 besser genutzt werden, als als Begegnungszentren für kulturinteressierte Menschen?

Samstag, 4. Juni 2011

Fliederduft


Ich kenne keine andere Stadt, in der so viele Fliederbüsche wachsen. Seit Tagen trägt der Wind ihren Duft durch die Stadt und macht mich regelrecht betrunken.

Donnerstag, 2. Juni 2011

Ankündigungen: Ekspress, Kommentar, Tartu

Heute ist im Eesti Ekspress ein kurzer Fragebogen erschienen, den ich ausgefüllt habe. Es geht darum, welche/r/s Buch, Film, Musik mich in letzter Zeit bewegt hat. Wenn der Text im Internet zu sehen ist, werde ich an dieser Stelle den Link posten.

Außerdem möchte ich darauf aufmerksam machen: Zum Post "Tramm" gibt es einen wirklich lesenswerten Kommentar.

Ich mache mich jetzt auf den Weg nach Tartu, wo ich heute Abend im Deutschen Kulturinstitut das Stadtschreiberprojekt vorstellen und einige Texte aus diesem Blog vortragen werde. Mit einem Post zur zweitgrößten Stadt Estlands ist also zu rechnen ... Bis bald!

Mittwoch, 1. Juni 2011

Der Saal mit der schwarzen Decke

Wie es sich 1989 angefühlt hat, in der Harju-Straße 1 zu wohnen, hat Irja Grönholm in ihrer ersten E-Mail beschrieben. Wie ich den gleichen Ort mehr als zwanzig Jahre später erlebe, unterscheidet sich davon durchaus. Und doch ahne ich nun, wie es gewesen sein könnte. Denn fünf Tage lang musste ich nur über den Hinterhof laufen, um das Literaturfestival „HeadRead“ zu besuchen.

Der Saal mit der schwarzen Decke (Musta laega saal) wurde für das Fest üppig mit orangener Löcherfolie dekoriert und empfing so herausgeputzt bestens gelaunte Gäste. Die meisten machten es sich in kleinen Grüppchen an runden Tischen gemütlich, manche lehnten weiter hinten an Stehtischen und wer gerade lieber selbst diskutieren als zuhören wollte, setzte sich im Vorraum auf die Heizung und beobachtete das Geschehen aus dem Augenwinkel. Als Verpflegung gab es Piroggen, Säfte und Bier.

So wie im Stundentakt jeweils andere Menschen auf der Bühne saßen, änderte sich auch das Publikum. Mal platzte der Saal mit der schwarzen Decke aus allen Nähten, mal hatten sich nur ein paar Dutzend Eingeweihte zusammengefunden. Familien mit Kindern, die junge Generation in Blumenkleidern und Cordhosen, Ehepaare, ältere Herrschaften, sie alle kamen und gingen und hatten offenbar wirklich Lust auf Literatur.

Zumindest für diese Tage hat der Vergleich mit dem Taubenschlag seine Gültigkeit zurückerhalten.


Maarja Kangro (rechts) kündigt Robert Service (links) und Mart Laar an.
Foto: Kärt Kukkur

Montag, 30. Mai 2011

Treten Sie ein!

Der ein oder andere Leser erinnert sich vielleicht, dass Eduard ihm im zweiten Post schon begegnet ist. Da spazierte er mit einer Gruppe Lehrerinnen über den Domberg. Eduard Kohlhof ist Stadtführer und sagt, wenn man Tallin wirklich kennenlernen will, muss man seine Nase hineinstecken. Sich nicht mit dem Vorbeigehen begnügen, sondern in die Hinterhöfe schauen, einen Umweg einplanen, höflich fragen, ob man eintreten darf.

Neulich war Eduard einen ganzen langen Abend mein persönlicher Stadtführer. Zuerst sind wir in einem Stadtturm herum geklettert. Man betritt den Turm durch eine Tür, im Erdgeschoss können Touristen Töpferwaren kaufen. Von dort führt eine Wendeltreppe in das Büro einer Meisterschule für Keramik. Vor den hohen schmalen Fenstern stehen Schreibtische, voll mit schönen Dingen und Skizzen. Noch eine Etage höher wird manchmal gefeiert, darauf deuten Kissen und Teelichter hin. Schließlich führt eine schmale dunkle Steintreppe zum letzten Boden. Der Raum ist leer. Wir schieben ein Brett zur Seite und stoßen vorsichtig eins der Holzfenster auf. Der Wind bläst hinein und trägt etwas Möwendreck davon, der sich unter dem Fenster angesammelt hat. Der Blick wagt sich hinaus und verschlingt Türme, Dächer, Wolken, die ganze wunderbare Stadt.

Dann besuchen wir die ukrainische griechisch-katholische Kirche. Das verwinkelte Speicherhaus ist erst dann als Gotteshaus zu erkennen, wenn man den kleinen Glockenturm oben auf dem Dach bemerkt. Eine Besuchergruppe lässt sich eine Ausstellung über galizische Ostereier erklären – eine der vielen kleinen feinen Veranstaltungen des Kulturhauptstadtjahres. Wir bestaunen Werkstätten, in denen geschnitzt, getischlert, Papier geschöpft wird. Dann den kleinen Garten im Hinterhof, voller Blumen und Skulpturen. Und in der Küche treffen wir Anatolij, der als Gemeindeoberhaupt all dies auf die Beine stellt und nun auf einem alten Steinofen für die Gäste des Abends Kartoffeln schmort.

Zum Schluss schlendern wir durch Kalamaja. In einem besonders hübsch hergerichteten, pastellgelb gestrichenen Haus befindet sich ein Informationszentrum, in dem sich Hausbesitzer zum Thema nachhaltiges Renovieren beraten lassen können. An diesem Abend findet ein Workshop statt. Es geht darum, welche Lasuren für welches Holz geeignet sind. Neugierig tauchen die Teilnehmer ihre Pinsel in die Farbtöpfe und ich kann mir gut vorstellen, wie sie bald ihre eigenen vier Wände streichen werden.

Mit nach Hause nehme ich das Gefühl, dass die Kulisse dem Blick hinter sie standhält.



Freitag, 27. Mai 2011

Zum Wochenende ...

... wartet auf den, der mag, viel Lesestoff!

Seit heute gibt es unter der Rubrik "Briefwechsel" endlich richtig viel zu lesen. Deshalb an dieser Stelle der Hinweis für alle, die die Seite noch nicht bemerkt oder schon lange nicht mehr besucht haben: Anschauen!

Ich freue mich, dass es auf den neuen Seiten schon viel Interessantes zu entdecken gibt und hoffe, dass die Briefwechsel diesen Blog und das ganze Stadtschreiberprojekt um weitere schöne und spannende Facetten bereichern.

Mein Dankeschön geht an die Briefpartner, die sich auf dieses Projekt einlassen. Und allen Lesern meines Blogs wünsche ich viel Spaß und/oder Freude bei der Lektüre!

Mittwoch, 25. Mai 2011

Blumen vor der Stadt

Am Freitag beginnt das Blumenfest, das „Lillefestival“. Gärtner und Architekten aus verschiedenen Ländern gestalten 31 Miniaturgärten zu den Themen „Nationalornamente“ und „Küstengärten“, die drei Monate lang den Platz der Türme schmücken werden. Die Vorbereitungen für das Fest sind schon seit Tagen nicht zu übersehen. Egal, wann ich vorbeikomme, immer sind dort Menschen beschäftigt, pflanzen, hämmern, buddeln. Die Kinder im Schlepptau und mit Klapphockern und Thermoskannen ausgerüstet, machen sie aus den Wiesenflächen ein großes Freiluftwohnzimmer.

Mit den Gärten direkt vor den Toren der Stadt knüpft das Blumenfest an frühere Zeiten an. Denn die Bürger Revals besaßen früher meist auch ein Grundstück außerhalb der Stadt, wo sie Gemüse anbauen konnten, ein paar Tiere weiden lassen. In der jüngeren Vergangenheit, so berichten die Tallinner, war der Platz der Türme ein Grünstreifen, den man eilig passierte. Doch seit dem Jahr 2009 holt das „Lillefestival“ die Blumen zurück an die Stadtmauer – und mit den Blumen die Menschen.


P.S. Wer wissen will, wie die Gärten vor der Stadt früher aussahen, sollte einen Blick auf die Homepage des Kadrioru Parks werfen.

Montag, 23. Mai 2011

Aus der Ferne


Um Städte wie Tallinn kennenzulernen, ist es gut, sie zwischendurch zu verlassen. Gestern habe ich also mit dem Rad die Viimsi-Halbinsel nördlich von Tallinn erkundet. Auf Höhe des Strands von Pirita, wo das Segelzentrum der Stadt liegt, beginnt die Silhouette Tallinns sich zu verändern. Das dichte Zusammenspiel von Kirchen und Hochhäusern zieht sich auseinander, aus der einen Stadt werden zwei. Rechts das vertraute Ensemble von Olaikirche, Nikolaikirche und Domberg. Links die Skyline kühn konstruierter Hochhäuser.

Früher muss Tallinn aus der Ferne ganz anders beeindruckt haben. Wenn bei der Einfahrt in den Hafen die Türme der Kirchen und der Domberg sich aufgerichtet haben, waren die Verhältnisse zurechtgerückt, stolz empfing die Stadt ihre Besucher. Heute können die Menschen wählen, welcher Stadt sie sich anvertrauen wollen, ob dem alten Reval oder der neuen Innenstadt, die seit dem Ende der 1990er Jahre erbaut wurde.

Mit dem Sonnenuntergang ergibt sich am Strand von Pirita ein eigenartiger Effekt. Die letzten Strahlen lassen die verspiegelten Fassaden der Hochhäuser golden leuchten. Klar treten sie aus der Silhouette hervor, während die Altstadt bereits in einen Dämmerschlaf zu fallen scheint. Wer stiehlt hier wem die Show? Die eine Stadt putzt sich im letzten Tageslicht heraus, ihre Schwester legt sich zur Ruhe, wie sie es seit Hunderten von Jahren am Ende des Tages zu tun pflegt.

Freitag, 20. Mai 2011

Mein Fahrrad, Tallinn und ich


Schon seit einer Woche bin ich glückliche Besitzerin eines Fahrrads und gehöre damit zu dem kleinen aber unerschrockenen Kreis von Radlern, die sich gerade daran machen, die Stadt zu erobern. Hier eine Aufnahme im Hafen von … Kalamaja.

Donnerstag, 19. Mai 2011

Alles in Kalamaja

Kalamaja – das ist die alte Vorstadt Fischermaie (Estnisch: kala = Fisch, maja = Haus). Sie entstand wahrscheinlich im 13. Jahrhundert. Westlich des Hafens lebten hier nicht nur Fischer, sondern auch Matrosen, Lotsen, Fuhr- und Karrleute. Wer mit dem Schiff nach Reval kam, setzte seinen Fuß zuerst in diese Siedlung, Wirtshäuser und Bordelle warteten auf die Gäste.

Kalamaja – das ist alles gleichzeitig: Aufwändig restaurierte Häuser, wunderschöne Holzarchitektur. Armselige Baracken, verfallene Mauern. Liebevoll gestaltete Gärten, Primeln neben dem Gehsteig, Johannisbeersträucher. Pastellgelb, Hellblau, Schwedischrot, Lindgrün und Braun und Grau. Jugendstil und Funktionalismus. Ein alter Friedhof ohne Grabsteine, sie wurden zu Sowjetzeiten entfernt. Als Erinnerung an diese Zeit auch Gebäude im Zuckerbäckerstil, ein pompöses Kulturzentrum. Konzerte. Ein Montessori-Kindergarten, Edelrestaurants und Designerläden. Und kleine Kioske an der Trambahnhaltestelle. Der Geruch von Holzfeuer und frisch gemähtem Gras. Heimat der Bohème, hier trinkt man Tee, nicht Kaffee. Alte Räucheröfen, Schornsteine, eine verlassene Werft. Der Kulturkilometer, begeistert genutzt von Radlern und Spaziergängern. Grüne Wiesen zum Picknickmachen, Hunde an der Leine, singende Vögel.

Kalamaja – das ist in diesen Tagen mein Lieblingsstadtviertel.

Montag, 16. Mai 2011

Lieblingswöörter - Folge I

Estnisch gehört nicht zu den Sprachen, die für deutsche Muttersprachler leicht zu erlernen sind. Das liegt zum Beispiel an den 14 Fällen, den verschiedenen Formen für den Infinitiv und am Vokalreichtum. (Einschub: Estnisch ist als finno-ugrische Sprache eng mit dem Finnischen und entfernter mit dem Ungarischen verwandt.)

Beim Vokabellernen können deutsche Muttersprachler allerdings nicht wirklich klagen. Denn die deutschen Lehnwörter, die sich im Lauf der Jahrhunderte in der estnischen Sprache angesammelt haben, sind zahlreich. Diese nach und nach zu entdecken, macht Spaß und motiviert. Fast ist es, als ob die Sprache durch diese Wörter sagen würde: Lern mich!

Also gut: Reise heißt reis, Apotheke apteek, Treppe trepp. Bei Wörtern, die mit dem Laut „sch“ beginnen, wird dieser einfach weggelassen, zischen mögen die Esten nicht. Tund heißt Stunde, tuba Stube, pekk Speck. Und der Schlossplatz wird zum Lossi plats.

Ein Z gibt es im estnischen Alphabet ebenfalls nicht. In der Tat ist dieses eigentlich ein überflüssiger Buchstabe, wie man merkt, wenn man der Reihe nach liest: Politsei, residents und vürts. Vürts heißt Gewürz, wer das G geschluckt hat, weiß ich nicht.

Die eingesparten Buchstaben bieten Platz für viele ÖÖs und AAs: Mööbel, daatum, fotoaparaat. Wer sich dann noch um einen fränkischen Zungenschlag bemüht, P und T nicht zu hart ausspricht, versteht bereits eine ganze Menge: Pilt, tekk und prillid – ja?

Wenn ich Esten erzähle, dass mich solche Wörter schmunzeln lassen, verstehen sie das nicht: Wieso lustig? Man schreibt die Wörter einfach so, wie man sie spricht. Das ist richtig. Eben deshalb fühle ich mich manchmal an die Schreibversuche von sechsjährigen Kindern erinnert. Und das ist kein Tsufall.

Besonders schöne (deutsche und andere) Lehnwörter:





Freitag, 13. Mai 2011

Nachtrag zu: Sommerfrühling


Aufgenommen vor dem Kumu-Museum, als es am Himmel plötzlich laut wurde: Auch die Zugvögel kehren zurück.

Donnerstag, 12. Mai 2011

Musik am Morgen

Was mich in der Früh weckt, ist kein Klingeln, Rasseln oder Ringen. Es ist die estnische Nationalhymne. Jeden Morgen um sieben wird auf dem Langen Hermann die estnische Flagge gehisst. Dazu erklingt die Hymne: Mu isamaa, mu õnn ja rõõm. (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude.) Der Lange Hermann (Pikk Hermann) gehört zur Schlossanlage auf dem Domberg, die Sitz des Parlaments ist.

Die Melodie der Hymne hat Friedrich Pacius komponiert, der aus Hamburg stammte und die meiste Zeit seines Lebens in Finnland verbrachte. Zusammen mit dem Text des estnischen Publizisten Johann Voldemar Jannsen entstand ein Lied, das 1869 auf dem ersten nationalen Sängerfest in Tartu gesungen wurde. 1920 wurde es zur Hymne der Ersten Estnischen Republik.

Zu Sowjetzeiten war die Hymne verboten. Trotzdem bekamen viele Esten sie täglich zu hören. Im Norden des Landes konnte man den finnischen Rundfunk empfangen und dort ertönte die Melodie jeden Abend vor Sendeschluss. Denn auch die finnische Nationalhymne wird – mit einem eigenen Text – zur Komposition von Pacius gesungen.

Mit der Singenden Revolution kehrte die estnische Hymne in die Öffentlichkeit zurück – so wie die blau-schwarz-weiße Trikolore. Bereits 1989, zwei Jahre vor der tatsächlichen Unabhängigkeit Estlands, wehte sie oben auf dem Langen Hermann wieder im Wind.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Tramm (estn. Straßenbahn)

Das mit der Straßenbahn, das funktioniert hier so: Die Fahrgäste warten brav auf dem Gehsteig. Die Tram fährt in der Mitte einer mehrspurigen Straße. Die Haltestelle wird durch ein entsprechendes Hinweisschild auf dem Gehsteig markiert. Wenn die Tram in etwa die Höhe des Schildes erreicht hat, hält sie an. Die Menschen laufen los, über zwei Spuren der Straße hinweg, zwischen den Autos hindurch, die dann doch anhalten, und landen am Ende irgendwie wohlbehalten an den Türen. Sie steigen ein, die Türen schließen, die Straßenbahn fährt weiter.

Sommerfrühling


Aufgenommen im Harjumägi-Park unterhalb des Dombergs (Toompea): Damit keiner mehr glauben muss, ich laufe mit Mütze und Handschuhen durch die Gegend. Das ist lange vorbei, das war letzte Woche. Der Himmel ist seit Tagen wolkenlos, die Bäume werden immer grüner und die Menschen tanken: Sonne! Seit heute ist: Sommerfrühling.