Was ich am Freitagabend dann zu sehen bekam, war ein echtes Spektakel. Die Tanzfläche war ein Meer aus Trachten, das hin und her wogte, in dem Wellen aufeinander zu und voneinander weg liefen. So faszinierend, dass aus den verworrenen Strudeln am Ende immer wieder geometrische Figuren entstanden! Und wenn sich fünftausend Röcke gleichzeitig um ihre eigene Achse drehten, dann drang das Rauschen bis ganz nach oben.
Der wichtigste Tag aber für die Besucher des Tanz- und Sängerfests war der Sonntag. (Kurz zur Info: Das Sänger- und Tanzfest an diesem Wochenende war nicht das große Sänger- und Tanzfest, das findet erst 2014 wieder statt, sondern das Sänger und Tanzfest der Kinder und Jugendlichen. Am Freitag- und Samstagabend fand das Tanzfest statt, am Sonntagnachmittag das Sängerfest. Am Sonntagvormitttag gab es zudem eine große Parade, Tänzer, Sänger und Musiker zogen von der Innenstadt zum Sängerfestplatz.)
Eigentlich versammeln sich die Esten äußerst ungern, das widerspricht, so sagen sie, ihrem Naturell. Aber zum Sängerfest machen sie eine Ausnahme, dann gibt es ein großes Hallo, wenn sich halb Estland, so möchte man glauben, zum Picknick trifft. Wer sich also das Fest im Kopf ausmalt, sollte schließlich noch folgenden Gedanken ergänzen: Dass sich alle Besucher des Fests einfach dadurch, dass sie gemeinsam da sind, als große Familie fühlen. Und sicherlich auch als Nation.
Exkurs: Die Geschichte des Sängerfests
Dass das erste estnische Sängerfest 1869 in Tartu stattgefunden hat, weiß hierzulande jedes Kind. Initiiert wurde es vom Publizisten Johann Voldemar Jannsen und schon damals versammelten sich rund 850 Teilnehmer und 15 000 Zuhörer. Das Fest hatte, wie auch die folgenden in dieser Zeit des Nationalen Erwachens, einen politischen Charakter, die Lieder unterfütterten das Selbstverständnis als Nation und dienten auch der Abgrenzung von Deutschen und Russen.
Inspirieren lassen hatten sich die damaligen Wegbereiter der Sängerfeste freilich dennoch von den Deutschbalten, die schon einige Jahre zuvor ähnliche Veranstaltungen in kleinerem Rahmen abgehalten hatten. Nachdem Janssen 1857 und 1866 an den Baltischen Sängerfesten in Reval teilgenommen hatte, nutzte er 1869 den 50. Jahrestag der Bauernbefreiung in Livland als Anlass, um die Genehmigung für ein estnisches Sängerfest einzuholen. Zehn Jahre später fand das zweite statt. Eine ähnliche Tradition entwickelte sich in Lettland und Litauen.
Was mir am längsten im Gedächtnis bleiben wird, sind die Gesichter der Menschen. Die Kinder beim Auszug vom Sängerfestplatz, völlig ausgelassen, weil alles so gut geklappt hat, manche tragen sich gegenseitig Huckepack. Jungs, die bei der Parade voranschreiten und mit ihren kleinen Kinderarmen schwere Fahnen stemmen. Und erschöpfte Tänzer, selig schlummernd im Schatten.