Montag, 30. Mai 2011

Treten Sie ein!

Der ein oder andere Leser erinnert sich vielleicht, dass Eduard ihm im zweiten Post schon begegnet ist. Da spazierte er mit einer Gruppe Lehrerinnen über den Domberg. Eduard Kohlhof ist Stadtführer und sagt, wenn man Tallin wirklich kennenlernen will, muss man seine Nase hineinstecken. Sich nicht mit dem Vorbeigehen begnügen, sondern in die Hinterhöfe schauen, einen Umweg einplanen, höflich fragen, ob man eintreten darf.

Neulich war Eduard einen ganzen langen Abend mein persönlicher Stadtführer. Zuerst sind wir in einem Stadtturm herum geklettert. Man betritt den Turm durch eine Tür, im Erdgeschoss können Touristen Töpferwaren kaufen. Von dort führt eine Wendeltreppe in das Büro einer Meisterschule für Keramik. Vor den hohen schmalen Fenstern stehen Schreibtische, voll mit schönen Dingen und Skizzen. Noch eine Etage höher wird manchmal gefeiert, darauf deuten Kissen und Teelichter hin. Schließlich führt eine schmale dunkle Steintreppe zum letzten Boden. Der Raum ist leer. Wir schieben ein Brett zur Seite und stoßen vorsichtig eins der Holzfenster auf. Der Wind bläst hinein und trägt etwas Möwendreck davon, der sich unter dem Fenster angesammelt hat. Der Blick wagt sich hinaus und verschlingt Türme, Dächer, Wolken, die ganze wunderbare Stadt.

Dann besuchen wir die ukrainische griechisch-katholische Kirche. Das verwinkelte Speicherhaus ist erst dann als Gotteshaus zu erkennen, wenn man den kleinen Glockenturm oben auf dem Dach bemerkt. Eine Besuchergruppe lässt sich eine Ausstellung über galizische Ostereier erklären – eine der vielen kleinen feinen Veranstaltungen des Kulturhauptstadtjahres. Wir bestaunen Werkstätten, in denen geschnitzt, getischlert, Papier geschöpft wird. Dann den kleinen Garten im Hinterhof, voller Blumen und Skulpturen. Und in der Küche treffen wir Anatolij, der als Gemeindeoberhaupt all dies auf die Beine stellt und nun auf einem alten Steinofen für die Gäste des Abends Kartoffeln schmort.

Zum Schluss schlendern wir durch Kalamaja. In einem besonders hübsch hergerichteten, pastellgelb gestrichenen Haus befindet sich ein Informationszentrum, in dem sich Hausbesitzer zum Thema nachhaltiges Renovieren beraten lassen können. An diesem Abend findet ein Workshop statt. Es geht darum, welche Lasuren für welches Holz geeignet sind. Neugierig tauchen die Teilnehmer ihre Pinsel in die Farbtöpfe und ich kann mir gut vorstellen, wie sie bald ihre eigenen vier Wände streichen werden.

Mit nach Hause nehme ich das Gefühl, dass die Kulisse dem Blick hinter sie standhält.



Freitag, 27. Mai 2011

Zum Wochenende ...

... wartet auf den, der mag, viel Lesestoff!

Seit heute gibt es unter der Rubrik "Briefwechsel" endlich richtig viel zu lesen. Deshalb an dieser Stelle der Hinweis für alle, die die Seite noch nicht bemerkt oder schon lange nicht mehr besucht haben: Anschauen!

Ich freue mich, dass es auf den neuen Seiten schon viel Interessantes zu entdecken gibt und hoffe, dass die Briefwechsel diesen Blog und das ganze Stadtschreiberprojekt um weitere schöne und spannende Facetten bereichern.

Mein Dankeschön geht an die Briefpartner, die sich auf dieses Projekt einlassen. Und allen Lesern meines Blogs wünsche ich viel Spaß und/oder Freude bei der Lektüre!

Mittwoch, 25. Mai 2011

Blumen vor der Stadt

Am Freitag beginnt das Blumenfest, das „Lillefestival“. Gärtner und Architekten aus verschiedenen Ländern gestalten 31 Miniaturgärten zu den Themen „Nationalornamente“ und „Küstengärten“, die drei Monate lang den Platz der Türme schmücken werden. Die Vorbereitungen für das Fest sind schon seit Tagen nicht zu übersehen. Egal, wann ich vorbeikomme, immer sind dort Menschen beschäftigt, pflanzen, hämmern, buddeln. Die Kinder im Schlepptau und mit Klapphockern und Thermoskannen ausgerüstet, machen sie aus den Wiesenflächen ein großes Freiluftwohnzimmer.

Mit den Gärten direkt vor den Toren der Stadt knüpft das Blumenfest an frühere Zeiten an. Denn die Bürger Revals besaßen früher meist auch ein Grundstück außerhalb der Stadt, wo sie Gemüse anbauen konnten, ein paar Tiere weiden lassen. In der jüngeren Vergangenheit, so berichten die Tallinner, war der Platz der Türme ein Grünstreifen, den man eilig passierte. Doch seit dem Jahr 2009 holt das „Lillefestival“ die Blumen zurück an die Stadtmauer – und mit den Blumen die Menschen.


P.S. Wer wissen will, wie die Gärten vor der Stadt früher aussahen, sollte einen Blick auf die Homepage des Kadrioru Parks werfen.

Montag, 23. Mai 2011

Aus der Ferne


Um Städte wie Tallinn kennenzulernen, ist es gut, sie zwischendurch zu verlassen. Gestern habe ich also mit dem Rad die Viimsi-Halbinsel nördlich von Tallinn erkundet. Auf Höhe des Strands von Pirita, wo das Segelzentrum der Stadt liegt, beginnt die Silhouette Tallinns sich zu verändern. Das dichte Zusammenspiel von Kirchen und Hochhäusern zieht sich auseinander, aus der einen Stadt werden zwei. Rechts das vertraute Ensemble von Olaikirche, Nikolaikirche und Domberg. Links die Skyline kühn konstruierter Hochhäuser.

Früher muss Tallinn aus der Ferne ganz anders beeindruckt haben. Wenn bei der Einfahrt in den Hafen die Türme der Kirchen und der Domberg sich aufgerichtet haben, waren die Verhältnisse zurechtgerückt, stolz empfing die Stadt ihre Besucher. Heute können die Menschen wählen, welcher Stadt sie sich anvertrauen wollen, ob dem alten Reval oder der neuen Innenstadt, die seit dem Ende der 1990er Jahre erbaut wurde.

Mit dem Sonnenuntergang ergibt sich am Strand von Pirita ein eigenartiger Effekt. Die letzten Strahlen lassen die verspiegelten Fassaden der Hochhäuser golden leuchten. Klar treten sie aus der Silhouette hervor, während die Altstadt bereits in einen Dämmerschlaf zu fallen scheint. Wer stiehlt hier wem die Show? Die eine Stadt putzt sich im letzten Tageslicht heraus, ihre Schwester legt sich zur Ruhe, wie sie es seit Hunderten von Jahren am Ende des Tages zu tun pflegt.

Freitag, 20. Mai 2011

Mein Fahrrad, Tallinn und ich


Schon seit einer Woche bin ich glückliche Besitzerin eines Fahrrads und gehöre damit zu dem kleinen aber unerschrockenen Kreis von Radlern, die sich gerade daran machen, die Stadt zu erobern. Hier eine Aufnahme im Hafen von … Kalamaja.

Donnerstag, 19. Mai 2011

Alles in Kalamaja

Kalamaja – das ist die alte Vorstadt Fischermaie (Estnisch: kala = Fisch, maja = Haus). Sie entstand wahrscheinlich im 13. Jahrhundert. Westlich des Hafens lebten hier nicht nur Fischer, sondern auch Matrosen, Lotsen, Fuhr- und Karrleute. Wer mit dem Schiff nach Reval kam, setzte seinen Fuß zuerst in diese Siedlung, Wirtshäuser und Bordelle warteten auf die Gäste.

Kalamaja – das ist alles gleichzeitig: Aufwändig restaurierte Häuser, wunderschöne Holzarchitektur. Armselige Baracken, verfallene Mauern. Liebevoll gestaltete Gärten, Primeln neben dem Gehsteig, Johannisbeersträucher. Pastellgelb, Hellblau, Schwedischrot, Lindgrün und Braun und Grau. Jugendstil und Funktionalismus. Ein alter Friedhof ohne Grabsteine, sie wurden zu Sowjetzeiten entfernt. Als Erinnerung an diese Zeit auch Gebäude im Zuckerbäckerstil, ein pompöses Kulturzentrum. Konzerte. Ein Montessori-Kindergarten, Edelrestaurants und Designerläden. Und kleine Kioske an der Trambahnhaltestelle. Der Geruch von Holzfeuer und frisch gemähtem Gras. Heimat der Bohème, hier trinkt man Tee, nicht Kaffee. Alte Räucheröfen, Schornsteine, eine verlassene Werft. Der Kulturkilometer, begeistert genutzt von Radlern und Spaziergängern. Grüne Wiesen zum Picknickmachen, Hunde an der Leine, singende Vögel.

Kalamaja – das ist in diesen Tagen mein Lieblingsstadtviertel.

Montag, 16. Mai 2011

Lieblingswöörter - Folge I

Estnisch gehört nicht zu den Sprachen, die für deutsche Muttersprachler leicht zu erlernen sind. Das liegt zum Beispiel an den 14 Fällen, den verschiedenen Formen für den Infinitiv und am Vokalreichtum. (Einschub: Estnisch ist als finno-ugrische Sprache eng mit dem Finnischen und entfernter mit dem Ungarischen verwandt.)

Beim Vokabellernen können deutsche Muttersprachler allerdings nicht wirklich klagen. Denn die deutschen Lehnwörter, die sich im Lauf der Jahrhunderte in der estnischen Sprache angesammelt haben, sind zahlreich. Diese nach und nach zu entdecken, macht Spaß und motiviert. Fast ist es, als ob die Sprache durch diese Wörter sagen würde: Lern mich!

Also gut: Reise heißt reis, Apotheke apteek, Treppe trepp. Bei Wörtern, die mit dem Laut „sch“ beginnen, wird dieser einfach weggelassen, zischen mögen die Esten nicht. Tund heißt Stunde, tuba Stube, pekk Speck. Und der Schlossplatz wird zum Lossi plats.

Ein Z gibt es im estnischen Alphabet ebenfalls nicht. In der Tat ist dieses eigentlich ein überflüssiger Buchstabe, wie man merkt, wenn man der Reihe nach liest: Politsei, residents und vürts. Vürts heißt Gewürz, wer das G geschluckt hat, weiß ich nicht.

Die eingesparten Buchstaben bieten Platz für viele ÖÖs und AAs: Mööbel, daatum, fotoaparaat. Wer sich dann noch um einen fränkischen Zungenschlag bemüht, P und T nicht zu hart ausspricht, versteht bereits eine ganze Menge: Pilt, tekk und prillid – ja?

Wenn ich Esten erzähle, dass mich solche Wörter schmunzeln lassen, verstehen sie das nicht: Wieso lustig? Man schreibt die Wörter einfach so, wie man sie spricht. Das ist richtig. Eben deshalb fühle ich mich manchmal an die Schreibversuche von sechsjährigen Kindern erinnert. Und das ist kein Tsufall.

Besonders schöne (deutsche und andere) Lehnwörter:





Freitag, 13. Mai 2011

Nachtrag zu: Sommerfrühling


Aufgenommen vor dem Kumu-Museum, als es am Himmel plötzlich laut wurde: Auch die Zugvögel kehren zurück.

Donnerstag, 12. Mai 2011

Musik am Morgen

Was mich in der Früh weckt, ist kein Klingeln, Rasseln oder Ringen. Es ist die estnische Nationalhymne. Jeden Morgen um sieben wird auf dem Langen Hermann die estnische Flagge gehisst. Dazu erklingt die Hymne: Mu isamaa, mu õnn ja rõõm. (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude.) Der Lange Hermann (Pikk Hermann) gehört zur Schlossanlage auf dem Domberg, die Sitz des Parlaments ist.

Die Melodie der Hymne hat Friedrich Pacius komponiert, der aus Hamburg stammte und die meiste Zeit seines Lebens in Finnland verbrachte. Zusammen mit dem Text des estnischen Publizisten Johann Voldemar Jannsen entstand ein Lied, das 1869 auf dem ersten nationalen Sängerfest in Tartu gesungen wurde. 1920 wurde es zur Hymne der Ersten Estnischen Republik.

Zu Sowjetzeiten war die Hymne verboten. Trotzdem bekamen viele Esten sie täglich zu hören. Im Norden des Landes konnte man den finnischen Rundfunk empfangen und dort ertönte die Melodie jeden Abend vor Sendeschluss. Denn auch die finnische Nationalhymne wird – mit einem eigenen Text – zur Komposition von Pacius gesungen.

Mit der Singenden Revolution kehrte die estnische Hymne in die Öffentlichkeit zurück – so wie die blau-schwarz-weiße Trikolore. Bereits 1989, zwei Jahre vor der tatsächlichen Unabhängigkeit Estlands, wehte sie oben auf dem Langen Hermann wieder im Wind.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Tramm (estn. Straßenbahn)

Das mit der Straßenbahn, das funktioniert hier so: Die Fahrgäste warten brav auf dem Gehsteig. Die Tram fährt in der Mitte einer mehrspurigen Straße. Die Haltestelle wird durch ein entsprechendes Hinweisschild auf dem Gehsteig markiert. Wenn die Tram in etwa die Höhe des Schildes erreicht hat, hält sie an. Die Menschen laufen los, über zwei Spuren der Straße hinweg, zwischen den Autos hindurch, die dann doch anhalten, und landen am Ende irgendwie wohlbehalten an den Türen. Sie steigen ein, die Türen schließen, die Straßenbahn fährt weiter.

Sommerfrühling


Aufgenommen im Harjumägi-Park unterhalb des Dombergs (Toompea): Damit keiner mehr glauben muss, ich laufe mit Mütze und Handschuhen durch die Gegend. Das ist lange vorbei, das war letzte Woche. Der Himmel ist seit Tagen wolkenlos, die Bäume werden immer grüner und die Menschen tanken: Sonne! Seit heute ist: Sommerfrühling.

Dienstag, 10. Mai 2011

Ans Meer

Inmitten der Altstadt lässt sich das Meer vergessen. Die Speicherhäuser stehen stumm da, die Türen zu den Lagern bleiben geschlossen, an den Aufzügen werden keine Lasten mehr hochgezogen. Nur die Möwen, die zwischen den Kirchturmspitzen hin und her fliegen, erzählen davon, dass Tallin Hansestadt war, noch heute Hafenstadt ist.

Früher stieß Tallinn direkt hinter der Großen Strandpforte ans Meer. Am nördlichen Ende der Stadt bildete sie zusammen mit der „Dicken Margarete“ das Bollwerk für den Hafen. Bei Sturm, so ist es in den Ratsprotokollen festgehalten, klatschten die Wellen ans Tor. Im Laufe der Jahrhunderte verlandete die Gegend, wo einst Schiffe ankerten, lenkt heute eine sechsspurige Straße den Verkehr um die Stadt.

Jenseits davon soll der neu geschaffene Kulturkilometer die Bewohner Tallinns wieder ans Meer führen. Auf einer stillgelegten Eisenbahnstrecke zieht er sich durch ehemaliges sowjetisches Sperrgebiet vom Fährhafen zur alten Vorstadt Fischermaie. Industriebrache formt die Küste: Lagerhallen, verfallene Mauern, ausrangierte Schiffe. Aber ja, es ist Meer. Menschen sitzen auf Stufen und starren hinaus. Ein Kind sammelt Steine. Männer haben ihre Angeln ausgelegt.

Weiter östlich liegt der Fährhafen. Hinter den Verwaltungsgebäuden des Terminals sind die großen Schiffe kaum auszumachen. Es ist Nachmittag und kaum etwas los, ein paar müde Menschen mit Ziehköfferchen inspizieren das Warenangebot in einer kleinen Markthalle. Ich überquere wieder die Straße. Als wäre das der Beweis, signalisieren die Schilder: Die Wege aus Tallinn führen nach Tartu, Pärnu, Narva. Und nach Stockholm und Helsinki. Dann trete ich durch die Große Strandpforte zurück in die Stadt.



Samstag, 7. Mai 2011

Chancen

Heute die erste Veranstaltung mit mir in Tallinn, eine Podiumsdiskussion auf dem Freiheitsplatz (Vabaduse väljak). Wer genau wissen will, wer mit mir worüber sprach, kann (noch mal) den zweiten Eintrag in diesem Blog lesen.

Ein Aha-Effekt für mich: Die Chance, die ein Kulturhauptstadtjahr bietet, steckt bei weitem nicht nur im offiziellen Programm und der damit verbundenen Hoffnung, dass die Veranstaltungen viele Besucher anziehen. Ein Kulturhauptstadtjahr ist immer auch Anlass für andere Institutionen und Privatpersonen, Projekte zu verwirklichen. Oft waren diese schon länger geplant, dann gibt es endlich den Grund, sie in die Tat umzusetzen.

Eine Anmerkung von Andreas Fülberth: Eine solche Häufung an Buch-Neuerscheinungen zu Tallinn, wie sie in diesen Monaten zu beobachten ist, gab es zuletzt 1980, als in der Stadt die olympischen Segelwettbewerbe ausgetragen wurden. Und Maris Hellrand berichtet, dass die meisten Anfragen zu Tallinn 2011 aus Deutschland kommen. Ob das an den besonderen deutsch-estnischen Beziehungen liegt oder ob die Deutschen Kulturhauptstädte einfach gut finden, wissen wir nicht.

Zwei Bilder des Tages: Winfried Smaczny, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Kulturforums östliches Europa, führt in die Diskussion ein; Blick auf die Bühne auf dem Freiheitsplatz.



Von links nach rechts zu sehen: Die Dolmetscherin Juta Voogla, der Kunsthistoriker Andreas Fülberth, der Vorstandsvorsitzende des Kulturforums, Winfried Smaczny, die Stadtschreiberin Sarah Jana Portner, die Kommunikationsmanagerin von Tallinn 2011, Maris Hellrand, Moderator und Literaturredakteur Peeter Helme.
Fotos: Deutsches Kulturforum östliches Europa

Abendprogramm

Das Kulturhauptstadtjahr mit seinen Veranstaltungen hat auch für mich begonnen. Gestern Abend war ich im Tanztheater im Kanuti Gildi Saal. Einst haben dort die Mitglieder der Kanut-Gilde gefeiert, heute sind es die Besucher des POT-Theaterfestivals. Der Darsteller: Mart Kangro. In seinem Stück „Start. Based on a True Story“ tanzt der estnische Choreograph seine Karriere nach. Sein körperliches Verlangen, zu tanzen. Und die schmerzvolle Begegnung mit der großen weiten Welt außerhalb Estlands.

Schon vor ein paar Tagen habe ich eine Vorstellung des MIMprojects gesehen. Das Stück wurde in einem Container gezeigt und hieß „MIM Goes Sustainable“. Die Idee: Eine CO2-neutrale Theater-Aufführung. Die Besucher strampeln abwechselnd auf Fahrrädern, um die Bühnenbeleuchtung sicherzustellen, müssen aber auch keinen Eintritt zahlen.

Verzaubert

An einer Straßenecke, drei junge Männer machen Musik, einer spielt Saxophon, einer Trommel, einer Schellenring. Ich will vorbeigehen, als das Treiben auf der Straße ins Stocken gerät. Da sind Menschen, die einfach nicht weitergehen. Von einem Moment auf den anderen scheinen sie in ihren Bewegungen einzufrieren. Ein Paar verharrt in seiner Umarmung. Eine Frau klebt mit ihrer Hand an der Hauswand fest. Ein Mann zückt sein Handy und erstarrt. Als ob die Musik sie verzaubert hätte.

Weitere Passanten kommen hinzu, bleiben ebenfalls stehen. Einer springt einem der Salzsäulenmenschen in den Weg. Nichts passiert. Dann rührt auch er sich nicht mehr vom Fleck. Ich denke an die Geschichte vom Rattenfänger. Vielleicht ist das Saxophon verhext, vielleicht wird versteinert, wer seiner Melodie zu lange lauscht.

Ein Auto, ein Hupen, ein Klatschen. Der Bann ist gebrochen. Die Menschen erwachen, gehen ein paar Schritte und sind im allgemeinen Gewühl verschwunden. War da was? Meine nachmittägliche Begegnung mit einem Flashmob.

Freitag, 6. Mai 2011

Nachtrag zu: Eindrücke


Aufgenommen im Pikk jalg (übersetzt: langen Bein), das auf den Domberg (Toompea) führt: Was ist das Bild, was ist die Stadt?

Donnerstag, 5. Mai 2011

Eindrücke

Mir schwirrt der Kopf, in den vergangenen drei Tagen habe ich ungefähr 127 Menschen kennengelernt. Aber jetzt wartet die Stadt auf mich, will entdeckt werden, möchte, dass ich mich auf sie einlasse.

Den ganzen Nachmittag streune ich herum, bleibe hier und dort eine Weile sitzen, suche nach Fotomotiven für später. Auf der Aussichtsterrasse oben auf dem Domberg treffe ich einen der 127 Menschen wieder, Eduard. Er führt eine Gruppe Lehrerinnen durch die Stadt. Ich schließe mich an und bestaune Fassaden, höre Anekdoten und schlüpfe in kleine Ateliers, in denen Kunsthandwerker ihre Arbeiten präsentieren.

Was wären die Eindrücke, die ich mit nach Hause nehmen würde, wenn ich die Stadt in wenigen Tagen wieder verlassen müsste?

Die Kirchen, die Stadtmauer, viele, viele Türme. Die verwinkelten Gassen mit dem Kopfsteinpflaster, die alten Speicherhäuser. Die Mädchen, die rote Mäntel und Kopftücher tragen und mit ihren Holzwägen an den Straßenecken stehen und frisch gebrannte Gewürzmandeln verkaufen.

Und die Frage nach dem Löffel. In einer kleinen Küche im Rathausgebäude bestelle ich eine Elchsuppe. Die Frau, die mir die Suppe in ein Tongefäß schöpft, trägt ebenfalls ein Kopftuch und strahlt mich an: Ob ich denn keinen Löffel dabei hätte, ob sie mir einen leihen sollte … Es ist gelungen, das Spiel mit dem Mittelalter.

Dienstag, 3. Mai 2011

Erwartungen

Da bin ich. Gelandet pünktlich am 1. Mai. Allerdings spätabends, der ursprüngliche Flug war ausgefallen. Erst war ich enttäuscht, weil ich Estland und Tallinn im Hellen sehen wollte. Dann aber: Die Sonne wollte einfach nicht untergehen. Das Flugzeug flog immer gen Norden und die Sonne mit. Als die Maschine um 22.45 Uhr (Ortszeit) die Kurve Richtung Landebahn drehte, erspähte ich über der Ostsee noch einen letzten Fetzen roten Himmel. Ein Vorgeschmack!

Ich werde in diesen Tagen gefragt, was ich von meiner Zeit in Tallinn erwarte. Gar nicht so viel. Denn in dem Moment, wo ich etwas erwarte, gehe ich nicht mehr unvoreingenommen durch die Stadt. Aber auf einen langen hellen Sommer freue ich mich.

Noch ist es kühl, fast frostig. Der Wetterbericht im Internet zeigt drei Grad an. Und die Menschen in Tallinn versichern mir: Es sei schon wärmer gewesen, letzte Woche. Noch ist an den Bäumen kein Grün zu sehen und in den Hinterhöfen schmelzen Reste von schmutzigen Schneehaufen.

Ich bin geduldig und mag die drei Grad wohl ertragen, der Sommer kommt bestimmt schneller als gedacht. In Tallinn ging die Sonne heute um 5.17 Uhr auf. Um 21.19 Uhr geht sie unter, macht einen Tag von 16 Stunden und zwei Minuten. Zum Vergleich: Der heutige Tag in München dauert nur 14 Stunden und 37 Minuten. (Sonnenaufgang 5:52 Uhr, Sonnenuntergang 20.29 Uhr.) Und Frühlingsblumen gibt es schon jetzt. Dick eingepackte Frauen und Männer verkaufen Narzissen und Tulpen und kleine Sträußchen mit Primeln und Scilla aus dem Garten.

Als Kind habe ich ein Gedicht gelernt, in dem es hieß, dass das Kleid der Scilla sagen soll: „So blau und rein wird der Sommerhimmel sein.“

Montag, 2. Mai 2011

Veranstaltung mit Sarah Jana Portner

Europäische Kulturhauptstadt 2011: Tallinn/Reval – Podiumsdiskussion mit Maris Hellrand, Andreas Fülberth, Sarah Jana Portner und Peeter Helme (Moderation)

Eine Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Kooperation mit dem Organisationsbüro Tallinn 2011, der Deutschen Botschaft Tallinn und dem Goethe-Institut Tallinn | im Rahmen der Kulturtage »Saksa kevad – Deutscher Frühling«

Sonnabend, 7. Mai 2011
14.45 Uhr
Vabaduse väljak – Freiheitsplatz
Kesklinn, 10142 Tallinn


Das Konzept der Kulturhauptstädte rückt die gewählten Orte ein Jahr lang in den Mittelpunkt des europäischen Interesses – mit großem Aufwand und enormen Kosten versuchen die Verantwortlichen, dieser Aufmerksamkeit mit einem attraktiven Programm zu begegnen.
Gelingt das und profitieren die Städte dauerhaft? Im Rahmen des Europatages erwartet das Publikum zu dieser Frage eine Podiumsdiskussion über Tallinn aus ganz verschiedenen Perspektiven.

Auf dem Vabaduse väljak/Freiheitsplatz diskutieren:

Aus dem Programmbüro Tallinn 2011 legt Maris Hellrand, internationale Kommunikations-Managerin, die Potentiale Tallinns in Bezug auf seine zukünftige Stadtentwicklung dar und berichtet, wie das Programm der Kulturhauptstadt die Besonderheiten Tallinns herausstellt, Probleme und Lösungen illustriert und für Nachhaltigkeit zu sorgen versucht.

Der Historiker Andreas Fülberth, wiss. Mitarbeiter an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Autor des 2011 erschienenen illustrierten Kunstreiseführers tallinn/reval. ein kunsthistorischer rundgang durch die stadt am baltischen meer, wird einen kurzen Einblick in das Buch geben und ein besonderes Augenmerk auf die deutschen Einflüsse in der Geschichte der Stadt legen.

Die Journalistin Sarah Jana Portner erhielt das diesjährige Stadtschreiber-Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa und wird ab Mai 2011 in ihrem Blog www.stadtschreiber-tallinn.de über Tallinn berichten – was ihr dabei wichtig ist und wie sie ihre Präsenz in der Stadt gestalten will, ist ebenfalls Thema bei diesem Podiumsgespräch.

Moderiert wird das Podium von Peeter Helme, Historiker und Theologe, seit 2007 freischaffender Journalist, Literaturkritiker und Autor in Estland.