Juhan Kreem ist Historiker und hat für seine Promotion zum Verhältnis zwischen der Stadt Reval und dem Deutschen Orden als Landesherren geforscht. Seit 1996 arbeitet er als Forscher im Tallinner Stadtarchiv. Den Raum, in den mich Juhan Kreem bei meinem Besuch dort hineinführt, nennt er „Schatzkammer“. Doch er glitzert ganz und gar nicht und sieht – pardon – eher wie ein Heizkeller aus. An der Decke verlaufen dicke Lüftungsröhre, hinter zwei Türen stehen große metallene Schubladenschränke. Hier lagern die wichtigsten Dokumente der Tallinner Stadtgeschichte: Prächtige Urkunden, die mit schweren Siegeln dekoriert sind, Messebücher und Ablassbriefe, Unterlagen der Kämmerei. Die älteste Urkunde ist eine Übertragung von Rechten an das Johannes-Siechenhaus aus dem Jahr 1237. Die wichtigste ist wahrscheinlich die Verleihung des lübischen (also Lübecker) Stadtrechts im Jahr 1248.
Wie ich so die verschiedenen handschriftlich mit Tinte und Feder abgefassten Dokumente betrachte, begreife ich schnell: Im Mittelalter waren die Stadtschreiber ziemlich genau das Gegenteil von mir: Nämlich juristisch gut ausgebildete Menschen, die in der Verwaltung der Stadt arbeiteten und gewissenhaft die tägliche Arbeit dokumentierten. Ihre Tätigkeit besaß einen durch und durch technischen Charakter, an literarische Selbstverwirklichung dachten sie nicht.
Das älteste umfassende Werk eines Tallinner Stadtschreibers ist, wenn man so will, ein so genanntes „Denkelbuch“ für die Jahre 1333 – 1374. Es ist ein Notizbuch, in dem ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung all das festgehalten hat, was nicht zu vergessen war: Ratsherren- und Steuerlisten, Vermerke über den Verleih von Kriegsrüstungen und die banale Notiz, an wen man die Schlüssel zu den Stadttürmen ausgegeben hat.
Von ihrer späteren Bedeutung als Chronisten konnten die Stadtschreiber nichts ahnen. Sie erfüllten nur ihre Pflicht und wussten nicht, dass wir ihr Geschreibsel Jahrhunderte später als Dokument der Zeitgeschichte auswerten und in gut gesicherten Vitrinen ausstellen würden. Welche Quellen werden in 500 oder 600 Jahren für das Jahr 2011 untersucht werden? Dieser Blog sicherlich nicht. Ob es den Historikern der Zukunft überhaupt gelingen wird, die Informationsflut unserer Zeit zu sortieren?

Na dann. Da muss ich das Amt des Stadtschreibers im Internet-Zeitalter wohl doch nicht gänzlich in Frage stellen. Man braucht eben beides, die Zahlen und die wichtigen Fakten und die schönen Worte und die Nebensächlichkeiten.
PS: Bilder Nummer 2, 3 und 4: Stadtarchiv Tallinn.