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Mittwoch, 28. September 2011

Letzte Tage, erste Male und Vollendungen

Die letzten Tage in Tallinn fühlen sich nochmal an wie eine kleine Ewigkeit. Erstaunlicherweise waren sie weniger von letzten Malen geprägt als von ersten Malen. Erst hatte ich gedacht, ich müsste alle guten Orte nochmal aufsuchen. Nochmal mit dem Rad zum Schwimmen nach Paljassaare, nochmal in den bunten Park von Kadriorg, nochmal in die Bäckerei mit den Rosinenschnecken. Doch an all diesen Orten war ich bereits zu einem Zeitpunkt zum letzten Mal, als ich dies noch nicht ahnte.

Stattdessen also: Das erste Mal im Gottesdienst der deutschen Kirchengemeinde, das erste Mal auf ein Bier im Hell Hunt, das erste Mal im botanischen Garten, das erste Mal in einer Ausstellung über Kulturschaffende in Estland. Es fühlt sich an wie immer. Ich bin einfach ganz da und entdecke die Stadt. (Mein Herz will noch nicht verstehen.)

Erste Male in diesen letzten Tagen. Sie zeigen mir ein weiteres Mal, dass meine Bekanntschaft mit Tallinn vielleicht gerade erst begonnen hat. Dieser Blog erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Das wollte er nie. Aber ich denke, er ist so weit gediehen, dass er nun zu Ende gehen darf.

Ich könnte und wollte noch so Vieles schreiben. Und andererseits ist eigentlich alles gesagt.

Im Moment habe ich die Gesichter der Menschen noch ganz unmittelbar vor meinen Augen. Und ich werde sie auch nicht so schnell vergessen. Und selbst wenn irgendwann die Gesichter der Menschen vor meinem inneren Auge zunehmend unscharf werden und verblassen, werde ich noch immer an das Wesen der Menschen denken.

Auch hier gilt: Eigentlich ist alles gesagt, ich habe bereits erzählt, welche Menschen ich hier kennengelernt habe. So manche wurden mir zu Freunden, Ideengebern, geheimen Verbündeten, Kraftspendern, Gute-Laune-Machern oder Vorbildern.

So hänge ich meinen Gedanken nach.

Gestern Abend um Mitternacht auf dem Domberg. Die eine Stadt schläft friedlich, die andere Stadt will noch nicht ins Bett und glitzert in der pechschwarzen Nacht. Eine letzte Fähre aus Helsinki läuft im Hafen ein. Die Linden rascheln mit ihren Blättern und Kati erzählt mir, dass im Winter manchmal der Nebel über der Ostsee hängt.

Heute Nachmittag irgendwo in der Stadt. Gelbe Blätter liegen auf dem kugelrunden Kopfsteinpflaster, füllen die Ritzen zwischen den Steinen. Ein paar Straßenarbeiter haben Laubhaufen zusammen gerecht und sitzen etwas abseits auf einer Bank und machen eine Pause. Ich muss mich beherrschen, damit ich nicht in die Blätterberge hineinlaufe und sie durcheinanderbringe und auf der Straße verteile.

Auch ich hatte im Geheimen einen Wunsch für die letzten Wochen, schaute, wenn ich an ihn dachte, zum Himmel. Gestern Morgen hat er sich erfüllt. Ich liege noch im Bett, gerade hat mein Wecker geklingelt, ich bin sehr müde. Da höre ich durch das gekippte Fenster genau den Lärm, auf den ich gewartet habe. Ich hüpfe aus dem Bett, schalte die Kamera ein und warte an meinem Fenster, schaue nach oben. Es dauert noch ein paar weitere Sekunden, dann sind sie da: Schnattern, flattern und verschwinden.

Im Mai sind zwei Mal Zugvögel über meinen Kopf hinweg gezogen. Sie kamen nach dem Winter zurück. Nun fliegen sie in die andere Richtung, wieder in den Süden.

Ich bin genau so lange in Estland geblieben wie ein Zugvogel.

Und ein solcher kommt wieder.

Ich war's nicht

Das Angebot von Juhan Kreem war nett und provokativ: „Kommen Sie zu uns ins Stadtarchiv, dann zeige ich Ihnen, was ich unter einem Stadtschreiber verstehe!“ Natürlich konnte ich diese Einladung nicht ausschlagen.

Juhan Kreem ist Historiker und hat für seine Promotion zum Verhältnis zwischen der Stadt Reval und dem Deutschen Orden als Landesherren geforscht. Seit 1996 arbeitet er als Forscher im Tallinner Stadtarchiv. Den Raum, in den mich Juhan Kreem bei meinem Besuch dort hineinführt, nennt er „Schatzkammer“. Doch er glitzert ganz und gar nicht und sieht – pardon – eher wie ein Heizkeller aus. An der Decke verlaufen dicke Lüftungsröhre, hinter zwei Türen stehen große metallene Schubladenschränke. Hier lagern die wichtigsten Dokumente der Tallinner Stadtgeschichte: Prächtige Urkunden, die mit schweren Siegeln dekoriert sind, Messebücher und Ablassbriefe, Unterlagen der Kämmerei. Die älteste Urkunde ist eine Übertragung von Rechten an das Johannes-Siechenhaus aus dem Jahr 1237. Die wichtigste ist wahrscheinlich die Verleihung des lübischen (also Lübecker) Stadtrechts im Jahr 1248.


Wie ich so die verschiedenen handschriftlich mit Tinte und Feder abgefassten Dokumente betrachte, begreife ich schnell: Im Mittelalter waren die Stadtschreiber ziemlich genau das Gegenteil von mir: Nämlich juristisch gut ausgebildete Menschen, die in der Verwaltung der Stadt arbeiteten und gewissenhaft die tägliche Arbeit dokumentierten. Ihre Tätigkeit besaß einen durch und durch technischen Charakter, an literarische Selbstverwirklichung dachten sie nicht.

Das älteste umfassende Werk eines Tallinner Stadtschreibers ist, wenn man so will, ein so genanntes „Denkelbuch“ für die Jahre 1333 – 1374. Es ist ein Notizbuch, in dem ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung all das festgehalten hat, was nicht zu vergessen war: Ratsherren- und Steuerlisten, Vermerke über den Verleih von Kriegsrüstungen und die banale Notiz, an wen man die Schlüssel zu den Stadttürmen ausgegeben hat.


Von ihrer späteren Bedeutung als Chronisten konnten die Stadtschreiber nichts ahnen. Sie erfüllten nur ihre Pflicht und wussten nicht, dass wir ihr Geschreibsel Jahrhunderte später als Dokument der Zeitgeschichte auswerten und in gut gesicherten Vitrinen ausstellen würden. Welche Quellen werden in 500 oder 600 Jahren für das Jahr 2011 untersucht werden? Dieser Blog sicherlich nicht. Ob es den Historikern der Zukunft überhaupt gelingen wird, die Informationsflut unserer Zeit zu sortieren?

Früher war wenigstens Pergament ein knappes Gut und damit ein Filter, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Im Jahr 1347 hat man auf einer Pergamentrolle alle Rechte und Privilegien der Stadt Reval zusammengetragen. Fein säuberlich wurde sie eng beschriftet; wäre das Ganze am Computer ausgedruckt worden, hätte man bestimmt Schriftgröße 9 wählen müssen. Entsprechend pragmatisch recycelte man katholische Messebücher, nachdem die Reformation Estland erreicht hatte: Ihre Seiten wurden gebleicht und für Kaufmannsbücher wieder verwertet. So schimmern zwischen manchen Rechnungen über erhaltene Waren noch die Noten liturgischer Gesänge durch.

Doch aller Pedanterie zum Trotz: Eine gewisse Vorliebe für das Schöne und Nebensächliche konnten auch die mittelalterlichen Stadtschreiber nicht unterdrücken. Der Übersichtlichkeit halber kennzeichneten sie die einzelnen Posten in den Rechnungsbüchern oft mit Symbolen – sozusagen anstatt Post-its zu verwenden. So mancher Jurist zeigte wahrhaftig ein künstlerisches Talent, wenn er mit geschicktem Federstrich Waagen, Türme, Hufeisen oder Flaschen skizzierte. Und es blieb nicht immer bei den Symbolen zum schnellen Auffinden bestimmter Posten: Zwischendurch auch mal den Kollegen mit seiner Grimasse zu porträtieren, das konnten sich die Stadtschreiber nicht verkneifen.

Na dann. Da muss ich das Amt des Stadtschreibers im Internet-Zeitalter wohl doch nicht gänzlich in Frage stellen. Man braucht eben beides, die Zahlen und die wichtigen Fakten und die schönen Worte und die Nebensächlichkeiten.

PS: Bilder Nummer 2, 3 und 4: Stadtarchiv Tallinn.

Samstag, 17. September 2011

Zur Zeit


Das ist ein Schornsteinfeger respektive ein Kaminkehrer. Er rennt unweit meiner Wohnung über die Suur-Karja-Straße. Ich glaube, er hat es eilig, er schaut immer auf die Uhr bei dem Café.

Auch ich laufe in diesen Tagen der Zeit hinterher, deshalb schreibe ich so wenig in meinem Blog. Ich bin mit den letzten Vorbereitungen für die Foto-Ausstellung beschäftigt, die ab dem 26. September hier in Tallinn zu sehen sein wird und später auch in Deutschland. Die Foto-Ausstellung ist nach dem Blog der zweite Teil des Stadtschreiberprojekts. Seit Mitte Mai habe ich Motive gesammelt, versucht, die Menschen zum Mitmachen zu motivieren, und viele organisatorische Dinge geklärt. Das war nicht immer leicht. Zwischendurch ging es mir wie dem Mädchen mit den Blütenblättern: Es klappt. Es klappt nicht. Es klappt. Es klappt nicht. Es klappt. Es klappt nicht.

Es klappt wohl doch. Weitere Informationen zu der Ausstellung folgen in Bälde. Vielleicht ist ja der eine oder andere Leser in diesem Herbst in Tallinn und hat Zeit und Lust, sie anzuschauen? Ich freue mich, dass es klappt und dass ich die Ausstellung heute endlich ankündige. Denn dieser September soll, wie gesagt, ein Monat der Vollendungen werden.

Kein schönes Ende nahm indes die Geschichte „Mein Fahrrad und ich“. Mein Fahrrad wurde mir in der Nacht zum Mittwoch geklaut. Sie haben im Hinterhof einfach das Schloss aufgeschnitten. Das ist sehr schade. Und außerdem renne ich der Zeit nun wirklich hinterher. Zuvor bin ich ihr eher hinterher geradelt, da war ich schneller.

Vielleicht hätte ich dem Schornsteinfeger öfter an seinen Jackenknopf fassen sollen? Viele Passanten machen das. Der oberste Knopf ist schon ganz blank poliert. Und der Schornsteinfeger strahlt ob dieser Zuneigung bis über beide Backen. Aber nein, ich will nicht behaupten, dass ich Pech gehabt hätte. Im Gegenteil. Wenn ich das nächste Mal beim Bronzemann vorbeikomme, werde ich ihm zuzwinkern.

Sonntag, 4. September 2011

Ein Fest in der Neuen Welt



Ein großartiges Straßenfest findet an diesem Wochenende im Stadtteil Uus Maailm statt. Das Viertel heißt tatsächlich so, „Neue Welt“, da war keine PR-Agentur am Werk. Wahrscheinlich geht der Name zurück auf das Gasthaus „America“, das es dort gab und das im 18. und 19. Jahrhundert einen legendären Ruf genoss. Als während des industriellen Aufschwungs der Stadt mit einer intensiven Bebauung des Viertels begonnen wurde, bürgerte sich die Bezeichnung „Neue Welt“ ein und manche Straßen tragen sogar passende Namen wie „Großamerika“ und „Kleinamerika“ und „Saturnstraße“.

Durch diese Straßen zieht zur Einstimmung auf das Fest lautstark eine Parade. Ein Typ auf einem selbstgebauten Hochrad vorweg, danach die Bläser mit „Oh, when the Saints go marching in“, ihnen hinterher lauter Menschen mit bunten Hüten, junge, alte, flippige und unscheinbare, stolze Eltern mit Buggy, die Oma nebenher. Tagelang müssen die Nachbarn gebacken und gekocht haben, nun bieten sie all die Kuchen und Suppen und Gemüsequiches in ihren Hinterhöfen und Gärten an, auf Autostellplätzen und Grünstreifen. Auf Picknickdecken und Bierbänken gibt es staubige Schuhe und alte LPs zu erwerben, selbst gemachte Ohrringe und Pralinen, Äpfel aus dem Garten und Marmeladen. Auf zwei Bühnen spielen Bands und die Sonne strahlt zwischen den Herbstwolken hindurch und auf die Regenschirme, die am Hauptplatz zwischen den Stromleitungen aufgehängt sind.


Ein bisschen Wehmut verspürt der eine oder andere Besucher und vor allem Organisator des Fests. Denn das Herz des Viertels, der Ort, an dem in den vergangenen Jahren die meisten Ideen entstanden sind und gemeinsam verwirklicht wurden, ist das „community house“ in der Koidu-Straße. Ein gelbes Holzhaus, nicht mehr in allerbestem Zustand, in dem meistens um die zehn Personen gemeinsam wohnten, kaum Miete zahlten und die meisten Ausgaben aus der Gemeinschaftskasse bestritten. Couchsurfer und sonstige Bekannte kamen im Dachgeschoss unter und so war stets dafür gesorgt, dass in der Küche genug junge und lustige Leute aufeinandertrafen. Nun schließt das Haus zum 12. September. Die letzten Winter waren ziemlich kalt, die Miete ist gestiegen und manche Hausbewohner sind vielleicht auch ein bisschen zu erwachsen geworden. Das Fest aber soll und wird nächstes Jahr wieder stattfinden, da sind sich alle sicher.

Nicht nur, weil ich auf dem Fest war, sondern überhaupt werde ich viele Erinnerungen an interessante und starke Menschen mit nach Hause nehmen. Manche habe ich etwas genauer kennengelernt, manche nur flüchtig, bei vielen male ich mir mehr über ihr Leben aus als ich tatsächlich wüsste. Die Menschen, an die ich hoffentlich denken werde, das sind Menschen, die in ihrem Leben nach Aufgaben suchen. Die sie oft gefunden haben. Aber auch die, die suchen. Zur Suche stehen und nicht behaupten, alles schon entdeckt zu haben, das zeugt doch von Charakter. Das sind Menschen, die sich für etwas einsetzen, die etwas auf die Beine stellen, die etwas wagen, auch wenn es keinen finanziellen Gewinn zu holen gibt oder noch nicht sicher ist, ob sich die Mühe am Ende auch rentieren wird. Die einen wirken im großen Rahmen, die anderen im kleinen, aber alle immer auch jenseits des eigenen Sofas. Ich denke hoffentlich noch oft an diese Menschen, die Ideen haben, die ausprobieren und die wiederum andere Menschen zusammenbringen. Menschen, die aus der ganzen Vielzahl von Lebensentwürfen, die heute möglich sind, mit voller Lust schöpfen.



Samstag, 13. August 2011

Samstag, Einkaufstag


Aufgenommen auf dem Markt am Bahnhof (Balti jaam): Die Sonne zieht sich schon lange wieder zurück. Aber sie hinterlässt uns die Früchte, die sie reifen ließ.

Freitag, 5. August 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail – Folge 3

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Obwohl gar nicht so beabsichtigt, oft sehr nett anzuschauen. Für mich ist das „Zufallskunst“, die Grenzen zur Streetart sind mitunter fließend. Aber hier muss man sich wirklich nicht mehr fragen: Was will der Künstler uns damit sagen? Denn der Künstler hat (wahrscheinlich) keine Kunst im Sinn gehabt.

Er war eine Hausfrau.


Er war ein Trafostationsisolatorenbemaler.


Er hat Kiek in de Kök besichtigt.


Er war ein Mitarbeiter der Straßenmeisterei.


Er hatte vom Joggen die Schnauze voll.

Donnerstag, 21. Juli 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail - Folge 2

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Streetart im weitesten Sinne, auf Hauswände, Stromkästen und Treppen gesprüht. Oder schnell hin geklebt und meistens schon bald wieder abgerissen.


So wie man das von Straßenkunst erwartet, werden gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen: "Koondatud" wäre wahrscheinlich mit "betriebsbedingt gekündigt" ganz gut übersetzt.


Wie ernsthaft diese diskutiert werden sollen, ist nicht immer zu erkennen. Hier die Aufforderung, zur Frage "Ist das eine Familie?" die passende Antwort abzureißen.


Ganz offen gibt man sich, was den Kunstbegriff betrifft: "Ist jetzt Kunst? (2007) Autor: unbekannt"


Also ist vielleicht auch das hier kein Gekritzel?


Über ein Repertoire an zitierfähigem Wissen aus der Kunstgeschichte scheinen die unbekannten Autoren jedenfalls zu verfügen. Hier die Anspielung auf Magrittes "Dies ist keine Pfeife", verbunden mit einem Wortspiel. ("Pfeife" heißt auf estnisch "piip", "diip" wird umgangssprachlich wie das englische Wort "deep" - also auch für tiefsinnig - verwendet.)


Und an den sonnengelben Schildern "Achtung Taschendiebe" kommt man wohl einfach nur schwer vorbei.

Sonntag, 10. Juli 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail – Folge 1

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Zu entdecken zum Beispiel an den Fassaden. Da werden Dachgiebel von Himbeeren umrankt, da dient das Mauerwerk als Maulkorb, da streckt einem die Regenrinne die Zunge raus.





Der Herr mit der Brille wohnt in der Pikk-Straße. Von ihm erzählt man sich folgende Geschichte: Ein reicher Kaufmann hatte einst eine hübsche junge Frau geheiratet. Das Glück des Paares wurde allein dadurch getrübt, dass die Frau, wenn sie sich des Abends umzog und in ihr Nachtgewand schlüpfte, fremde Blicke ertragen musste. Der Nachbar von gegenüber, der alte Gaffer, schaute frech ins Fenster hinein. Wer sich von den Blicken mehr gestört fühlte, ob die schöne Frau oder ihr Gatte, ist nicht überliefert. Doch der reiche Kaufmann war ein findiger Mann und wusste sich zu helfen. Er ließ eine Büste anfertigen, die dem neugierigen Nachbarn wie aus dem Gesicht geschnitten war, und brachte sie am First seines Hauses an. Fortan musste dieser, wenn er die holde Maid bestaunen wollte, auch den Anblick seiner selbst ertragen. Und das verdarb ihm die Lust. Und so lebten der Kaufmann und seine Frau vielleicht glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende …

Freitag, 8. Juli 2011

Nachtrag zu: Strick-Graffiti

Die Strick-Graffiti haben also großen Anklang gefunden. Hier deshalb noch die Regenrinne aus Riga.


Wahrscheinlich ist die Regenrinne das „echteste“ Graffito – da vielleicht spontan von einem unbekannten Künstler so farbenfroh umhüllt. Die Häkeleien in Tallinn sind, wenn man so will, ja "nur" entstanden, weil es die Lehrerin gesagt hat. Und die Künstlerin Elisabeth Thiessen gibt ihren Werken in Berlin bereits Namen, das klingt schon sehr etabliert.

In Deutschland habe ich umhäkelte Laternenpfahle oder Ähnliches noch nie gesehen. Das liegt nicht nur daran, dass ich aus Bayern komme. Meine Cousine aus Berlin kannte Strick-Graffiti bislang auch nicht. Es kann also sein, dass sie – wie Italiano vermutet – tatsächlich gut „ins Baltikum“ passen. Dass es kein Zufall ist, dass wir sie dort entdecken, weil Strick-Graffiti verspielt und unprätentiös sind.

Den Strick-Graffiti irgendwie ähnlich sind, so finde ich, folgende Ergänzungen, die Menschen in Tallinn ihrer Umwelt hinzugefügt haben:




Was ist das also, was wir hier sehen? Kunst? Schon Streetart? Deko? Lebensraumverschönerung? Untermauern diese Funde die These, dass liebevoller und bescheidener Alltagsschmuck typisch für Tallinn oder sogar „das Baltikum“ ist?

Auf jeden Fall zeigen sie, dass Tallinn eine Stadt ist, in der es unglaublich viele Kleinigkeiten zu entdecken gibt. Oder anders gesagt: Ganz viel von Tallinn steckt im Detail.

Samstag, 7. Mai 2011

Verzaubert

An einer Straßenecke, drei junge Männer machen Musik, einer spielt Saxophon, einer Trommel, einer Schellenring. Ich will vorbeigehen, als das Treiben auf der Straße ins Stocken gerät. Da sind Menschen, die einfach nicht weitergehen. Von einem Moment auf den anderen scheinen sie in ihren Bewegungen einzufrieren. Ein Paar verharrt in seiner Umarmung. Eine Frau klebt mit ihrer Hand an der Hauswand fest. Ein Mann zückt sein Handy und erstarrt. Als ob die Musik sie verzaubert hätte.

Weitere Passanten kommen hinzu, bleiben ebenfalls stehen. Einer springt einem der Salzsäulenmenschen in den Weg. Nichts passiert. Dann rührt auch er sich nicht mehr vom Fleck. Ich denke an die Geschichte vom Rattenfänger. Vielleicht ist das Saxophon verhext, vielleicht wird versteinert, wer seiner Melodie zu lange lauscht.

Ein Auto, ein Hupen, ein Klatschen. Der Bann ist gebrochen. Die Menschen erwachen, gehen ein paar Schritte und sind im allgemeinen Gewühl verschwunden. War da was? Meine nachmittägliche Begegnung mit einem Flashmob.