Dienstag, 30. August 2011

... dass das Feuer nie aufhört zu brennen


Am letzten Samstag im August entzünden die Menschen an der Ostseeküste Hunderte von Feuern, um gemeinsam den Sommer zu verabschieden und die „Nacht der alten Lichter“ zu feiern. Also bin ich nach Sonnenuntergang an den Strand von Kadriorg gefahren, denn auch dort hatten sich einige Dutzend Menschen zusammengefunden und ein Feuer entfacht, Fackeln in den Sand gesteckt und Windlichter in den Dünen verteilt.

Lagerfeuer haben es sowieso so an sich, dass man zu gerne in sie hinein starrt und das lodernde Spiel der Flammen beobachtet, um hier und da einen Gedanken zu entdecken, dem man nachhängen kann. Wenn sich gleichzeitig der Sommer zurückzieht und die dunkle Nacht die Erde überspannt, muss man ein leichtes Frösteln schon verscheuchen. Vielleicht auch deshalb bemerkte ich besonders viele Paare. Die jüngeren standen umschlungen am Wasser. Die älteren saßen weiter hinten, zwischen den Dünen, hatten sich Kerzen mitgebracht und schauten schweigend hinaus aufs Meer, das als schwarzglänzende Fläche an den Strand schwappte.

Die Tradition der nächtlichen Feuer ist gleichzeitig sehr alt und sehr jung. Früher entzündeten die Menschen an der Küste Leuchtfeuer, um den Schiffen den Weg zu weisen, sie vor Gefahren zu warnen und in den sicheren Hafen zu lotsen. Die Idee, eine „Nacht der alten Lichter“ zu feiern, entstand 1992 in Finnland, zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit. Nach und nach verbreitete sich der Brauch in den Nachbarländern und so erhellten am Samstag nicht nur in Finnland Feuer die Nacht, sondern auch in Estland, Schweden, Russland, Lettland, Litauen und Polen.

Ein anderes Feuer außer „unserem“ am Strand von Kadriorg konnte ich zwar nicht erblicken. Aber ich wusste, was die Idee der Lagerfeuernacht ist, dass sie die Menschen rund um die Ostsee verbinden soll. Und so habe ich den Anflug von Wehmut genossen, weil ich mir vorstellte, dass ich ihn, so wie die Erinnerung an den Sommer, die Vorfreude auf den Herbst und das Unbehagen angesichts des schwarzen Meeres, mit anderen teile.

P.S. Wer zum Beispiel nächstes Jahr an der deutschen Ostseeküste ein Feuer entfachen will, sollte sich die Seite www.ancientlights.eu anschauen.

Freitag, 26. August 2011

Graffiti ohne Strick


Seit kurzem ein farbenfroher Hingucker am Kulturkilometer bzw. am Fischerhafen: Die Installation „KONT“, die zwei Wochen lang von Graffiti-Künstlern aus Estland, Frankreich, Italien, Polen und Brasilien gestaltet wurde. Wenn genug Menschen die Kunst bestaunt haben, reisen die Container weiter auf Schiffen und Lkws um die Welt.

Donnerstag, 25. August 2011

Parsifal in der Kapsel

Die Premiere von Parsifal (und die erste Aufführung der Oper in Estland überhaupt) findet heute in der Noblessner-Halle statt. Seit 2009 wird die ehemalige Gießerei auf dem Gelände einer Werft immer wieder für Konzerte genutzt und dass dort alles andere als Festspielhaus-Atmosphäre herrscht, macht den Reiz aus. So etwas sei in Deutschland nicht zu finden, sagt Regisseurin Nicola Raab, und dass die Spielstätte für sie so etwas wie eine „Zeitkapsel“ sei.

Tatsächlich entzieht sich die Zeit in der Industriebaracke jeglichem Zugriff. Wahrscheinlich haben die Arbeiter ihre Halle schon vor zwanzig Jahren aufgegeben, vielleicht auch erst vor drei Wochen. Überall stehen Blechtonnen herum, in der Ecke lehnt ein Besen, zwischen Kabeln und Werkzeugen liegt auf dem Boden ein Hinweisschild mit der pädagogischen Mahnung in Du-Form: „Verstelle nichts an den Maschinen!“ Der rote Teppich führt über ein Gerüst auf die Ränge hinauf und wer in den Zuschauerraum tritt und sich umdreht, blickt auf eine Uhr hoch oben an der Wand. Das Ziffernblatt ist zerschlagen, die Zeiger stehen für immer auf halb acht, darunter ist aufs Wellblech die Losung gepinselt: „Marxismus und Leninismus sind das Banner unserer Epoche.“ Die Bläser hocken, wie in einer Garage, im Seitenflügel der Halle, zwischen alten Gerätschaften und unter dem überlebensgroßen Konterfei eines emsigen Arbeiters. Sogar der metallisch-beißende Geruch ist noch erhalten und hat wohl, obgleich er über die Jahre hinweg doch etwas nachgelassen hat, drei Bratschistinnen und eine Cellistin veranlasst, Mundschutz zu tragen.

Reminiszenzen an die real existierende Vergangenheit der Halle sind in der Inszenierung mit Bedacht platziert, sie lassen sich finden, aber nicht überall und mitunter nur mit Phantasie. Ich entdecke naheliegende, dass Lüftungsrohre eine Hügellandschaft mit Burg formen, beklemmende, als die Gralsritter für mich aus Sibirien zurückkehren und erheiternde, weil sich unter der grünen Arbeiterkluft der Blumenmädchen Spitzenröcke verstecken. Eine kurzweilige fünfstündige Generalprobe, so dass ich mich schon auf die „echte“ Aufführung am Sonntag freue.




P.S. Die Noblessner-Halle befindet sich in Kalamaja, unweit des Kulturkilometers.

Dienstag, 23. August 2011

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt

Als ich gestern über den Weg Estlands in die Unabhängigkeit geschrieben habe und über die Menschenkette zwischen Vilnius und Tallinn am 23. August 1989, machte mich der eine Jahrestag auf den nächsten aufmerksam. Denn die Menschenkette formierte sich am 50. Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, der vor allem als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist. Heute ist also der 72. Jahrestag dieses Abkommens und ich nehme ihn als Anlass für eine kurze Skizze. Natürlich haben wir alle in der Schule gelernt, dass es diesen Pakt gab. Was er für die Menschen, die damals in Estland lebten, und deren Nachkommen bedeutet hat, habe ich erst richtig begriffen – so begriffen, dass ich es nicht mehr vergesse – als ich vor drei Jahren einen Tag im Heimatmuseum in Kuressaare (auf Saaremaa) verbracht habe.

In den geheimen Zusatzprotokollen zum Nichtangriffspakt teilten das Deutsche Reich und die Sowjetunion Osteuropa unter sich auf, die eine Hälfte wurde als deutsche „Interessenssphäre“ deklariert, die andere als sowjetische. Estland, so wurde abgemacht, sollte an die Sowjetunion fallen. Konkretisiert und zum Teil noch modifiziert wurden die Abmachungen am 28. September 1939 im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Mit ihm wurde unter anderem beschlossen, dass die deutschen Bevölkerungsgruppen, die in der sowjetischen „Interessenssphäre“ lebten, nach Deutschland „umgesiedelt“ werden sollten.

In Kuressaare habe ich Fotos gesehen, auf denen Familien mit ihrem Gepäck die Schiffe betreten, auf denen die estnischen oder schwedischen Freunde zum Abschied winken, mitunter weinen. „Heim ins Reich“ sollten die Deutschbalten geholt werden, „heim“ in die neu gegründeten „Reichsgaue“ Wartheland und Danzig-Westpreußen, die zum größten Teil auf zuvor polnischem und soeben annektiertem Gebiet lagen. Die Tränen der Menschen waren nicht nur dem Abschiedsschmerz geschuldet. Sowohl die, die Estland verließen, als auch die, die blieben, ahnten sehr genau, warum die Deutschen gingen.

Ende September verlangte die Sowjetunion von Estland, Lettland und Litauen den Abschluss von „Beistandspakten“ – die Forderung war ultimativ, Widerstand gegen die Übermacht Sowjetunion aussichtslos. Am frühen Morgen des 18. Oktobers 1939 begannen 25 000 sowjetische Soldaten, die Grenze zu Estland zu überschreiten, die Stationierung der Truppen wurde durch den „Beistandspakt“ ermöglicht. Am gleichen Tag verließ das erste Schiff mit den deutschbaltischen „Umsiedlern“, die „Utlandshörn“, den Tallinner Hafen. Bis zum Jahresende hatten die meisten Deutschbalten (rund 14 000) Estland verlassen, auch wenn 1941 noch die „Nachumsiedler“ folgten – darunter viele Esten, die eine deutsche Abstammung belegen konnten.

Neben den Fotos hat sich mir in Kuressaare eine Landkarte mit Demarkationslinien und Frontverläufen ins Gedächtnis eingebrannt. Im Juni 1940 marschierten weitere Soldaten ins Land ein, besetzten Gebäude und Häuser, die politische Kontrolle übernahm Andrej Ždanov, ein Vertrauter Stalins, Estland war von der Sowjetunion okkupiert. Nach der Durchführung von Scheinwahlen wurde im August die formelle Aufnahme Estlands in die Sowjetunion vollzogen – zeitgleich mit der von Lettland und Litauen. Mitte Juni 1941 liefen die sowjetischen Massendeportationen an.

Eine Woche später begann die deutsche Wehrmacht die „Operation Barbarossa“ – den Angriff auf die Sowjetunion, am 7. Juli erreichte sie estnischen Boden. Im ersten Moment wirkten die deutschen Soldaten für viele Esten nach dem erfahrenen Leid und Schrecken mitunter eher wie Befreier, doch sie waren es nicht. Estland wurde wirtschaftlich für den Krieg ausgebeutet und die Besatzer machten sich an die „Säuberung“ des Territoriums, in den Arbeits- und Konzentrationslagern auf ehemals estnischem Gebiet wurden Juden (vor allem, aber nicht nur aus Litauen; die jüdische Gemeinde in Estland war verhältnismäßig klein), politische Gefangene und andere Personengruppen interniert und ermordet.

Im März 1944 begannen die sowjetischen Luftangriffe gegen das deutsch besetzte Estland (auch Tallinn wurde großflächig zerstört) und als sich im Sommer 1944 abzeichnete, dass die Sowjetunion Estland zurückerobern würde, begann eine Massenflucht nach Schweden. Nicht jeder, der wollte, ergatterte einen Platz auf einem Schiff. (Es flüchtete auch: Ilon Wikland.) Mitte September 1944 war Estland wieder in den Händen der Roten Armee. Zur gleichen Zeit wurden die Menschen, die es ein paar Jahre zuvor aus Estland ins besetzte Polen verschlagen hatte, Teil des riesigen Menschenstroms, der aus Polen westwärts flüchtete oder vertrieben wurde.

(Zusammengefasst nach den Besuchen des Heimatmuseums in Kuressare sowie des Okkupationsmuseums in Tallinn und nach der Lektüre von "Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt" von K. Brüggemann und R. Tuchtenhagen sowie "Die Deutschbalten" von W. Schlau.)

Montag, 22. August 2011

Luftballons am Nachthimmel


„Happy birthday“ – das haben die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton und die irische Sängerin Sinéad O´Connor Estland gewünscht. Wenn man so will, stieg zum 20. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit am Samstag eine große Geburtstagsparty. Es gab ein kostenloses Konzert („Song of Freedom“) mit verschiedenen Musikgruppen, Ansprachen und Videobotschaften und am Ende ein Feuerwerk. Am Tag darauf fand ein „Islandtag“ statt.

Dass Estland am 20. August 1991 wieder unabhängig wurde, kam nicht aus heiterem Himmel – und doch war bis zuletzt nicht damit zu rechnen gewesen. Seit der Mitte der 1980er Jahre schwand die sowjetische Autorität dahin, während National- und die Reformbewegung erstarkten. Höhepunkte wie die Menschenkette zwischen Vilnius und Tallinn am 23. August 1989 und politische Wegmarken wie die einseitige Souveränitätserklärung 1988 oder die Wiedereinsetzung der Nationalhymne reihten sich aneinander und schufen die Voraussetzungen dafür, dass am 20. August 1991 im Windschatten des Putschversuchs in Moskau der letzte Schritt vollbracht werden konnte.

Während die Politiker berieten, wie auf die Moskauer Ereignisse zu reagieren sei, versammelten sich die Menschen in Tallinn vor dem Schloss auf dem Domberg und am Fernsehturm. Denn es war unklar, ob das Militär den Putsch in Moskau unterstützen würde, und man wollte sich ihm im Fall des Falles entgegenstellen. Doch das Militär griff nicht zu den Waffen und spätabends, um 23.02 Uhr, riefen der estnische Oberste Sowjet und der Estnische Kongress gemeinsam die Wiederherstellung der Unabhängigkeit aus. Als erstes westeuropäisches Land erkannte zwei Tage später Island die Estnische Republik offiziell an.

In den letzten Sekunden vor der magischen Uhrzeit von vor 20 Jahren zählten die Menschen auf dem Sängerfestplatz am Samstag gemeinsam den Countdown. Dann ließen sie die Luftballons los, die sie am Eingang bekommen hatten. Tausende weiße Kugeln stiegen zum Nachthimmel empor.

Ob jeder dieser Ballons einen Wunsch zu den Wolken getragen hat? Wonach sich die Esten Ende der 1980er Jahre sehnten, wofür sie kämpften, war eindeutig zu benennen. Die Menschen, die in den Videos von damals zu sehen sind, gutmütige Vokuhila-Männer, Frauen in bunten Nylonblousons, dazwischen die Alten, die Gesichter voller Falten, erinnern mich auch an Friedensdemobilder aus der 1980er-BRD. Für Deutschland schon kommt es mir vor, als seien diese Zeiten ewig her, doch der Zeitensprung, den Estland in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, ist ungleich krasser. Was wünschen sich die Menschen, die damals für die Freiheit sangen, heute? Oder waren die meisten Menschen auf dem Sängerfestplatz am Samstag wunschlos glücklich? Wenn ich die Menschen hier beobachte, und zum Beispiel schmunzle, weil vierzigjährige Männer ohne Scheu ein blau-schwarz-weißes Häkelkäppchen auf dem Kopf tragen, kommt es mir oft vor, als ob viele Esten durch ihre Nationszugehörigkeit ein regelrechtes Glücksgefühl erfahren.

Sonntag, 21. August 2011

Ein Tag Haapsalu - Teil 2

Im Stadtmuseum in Tallinn werden den Besuchern, didaktisch geschickt, auf großen Tafeln Fragen gestellt und durch die passenden Exponate beantwortet. Eine davon lautet: „Haben weltbekannte Menschen in Estland gelebt?“ Ich hätte sie vor einigen Monaten nicht beantworten können.

Dabei kannte ich schon als Kind eine berühmte Estin: Ilon Wikland, die Frau, die all meinen Helden ihre stupsnasigen Gesichter verpasst hat. Madita, Ronja Räubertochter, den Kindern von Bullerbü, den Brüdern Löwenherz und Lotta aus der Krachmacherstraße … Die Illustratorin kam 1930 in Tartu zur Welt und weil sie als Mädchen mehrere Jahre in Haapsalu bei ihren Großeltern lebte, wurde dort 2006 ein Museum („Ilons Wunderwelt“) eröffnet. Ich habe es mir angeschaut und nun eine Ahnung, warum Ilon Wikland so malt, wie sie malt.

Weil ihre Eltern immer so schrecklich beschäftigt waren, lebte Ilon Wikland die ersten drei Jahre ihres Lebens bei den Großeltern in Tartu. Als der geistig behinderte Onkel dort mit der Pistole herumschoss und eine Kugel die kleine Ilon an der Schulter streifte, holten ihre Eltern sie zu sich nach Tallinn. Dort war Ilon ziemlich oft allein. Das hatte zwar auch Vorteile, zum Beispiel den, dass man sich hauptsächlich von Schokoladenkuchen ernähren konnte, doch im Geheimen schwor sich das Mädchen damals, später eine bessere Mutter zu werden als ihre eigene.

Als ihre Mutter beruflich nach Italien ging, wurde Ilon, die damals acht Jahre alt war, zu ihren Großeltern nach Haapsalu gebracht. Dort in der Kleinstadt fühlte sie sich geborgen, sie spielte mit ihren Freunden am Strand, die Großeltern passten auf sie auf und ihr Hund war auch immer dabei.


Weil die Eltern sich scheiden ließen und weiterhin in der Weltgeschichte unterwegs waren, blieb Ilon dort, bis sich abzeichnete, dass die Sowjetunion Estland erneut besetzen würde. Dann, im Herbst 1944, schickten die Großeltern die 14-jährige Enkelin nach Schweden. Bei der Überfahrt geriet das Flüchtlingsschiff in einen Sturm, Ilon dachte, sie würden alle umkommen. Aber irgendwann erreichten sie die Schären vor Stockholm und Ilon nahm sich vor, so schnell wie möglich eine Schwedin zu werden.

Sie kam bei Verwandten unter, lernte die Sprache mühelos, ging auf die Kunstschule und als junge Mutter, die nach der Geburt des ersten Kinds endlich wieder zeichnen wollte, traf sie auf Astrid Lindgren, die gerade einen Illustrator für „Mio mein Mio“ suchte. Eine lange, inspirierende und vertrauensvolle Zusammenarbeit begann.

Nach Haapsalu kehrte Ilon Wikland zusammen mit Astrid Lindgren im Jahr 1989 zurück. Dass dies nochmal möglich werden würde, hatte sie eigentlich nicht mehr geglaubt. Als sie vor den Ruinen der Bischofsburg stand, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Nach und nach wurde ihr klar, dass in ihrer Seele all die Jahre auch ganz viel Estnisches gesteckt hatte.

Nachdem ich das wusste, entdeckte ich auf Ilon Wiklands Bildern Kleinigkeiten, die ich so ähnlich in den letzten Monaten fotografiert habe: Blühende Kastanienbäume, Rauchschwalben und einen Fliederzweig auf dem Fensterbrett.

Auch Tallinn hat Ilon Wikland gemalt – auf zwei Bildern zu dem Buch „Mein unglaublicher erster Schultag“ („Sammeli, Epp och jag“). Auf dem ersten rennt die Mama mit ihrer Tochter den Domberg hoch, weil sie am ersten Schultag zu spät dran sind. Auf dem zweiten vertreiben sich zwei Freundinnen auf dem Rathausplatz die Zeit.



Und die Mattisburg von Ronja Räubertochter hat Ilon Wikland keiner anderen Burg nachempfunden als der Bischofsburg von Haapsalu.

Samstag, 20. August 2011

Ein Tag Haapsalu - Teil 1

Auch in Haapsalu war ich nun, wieder war der Besuch ein Sonntagsausflug und für den schnellen Vergleich halte ich fest: Haapsalu ist eigentlich wie Pärnu, nur dörflicher und dadurch heimeliger.

Bekannt ist Haapsalu für die hauchdünnen Schals, die dort hergestellt werden. Sie müssen so fein gearbeitet sein, dass sie sich durch einen Ring ziehen lassen. Als wir durch das Städtchen spaziert sind, fand gerade ein Straßenfest statt und ein Programmpunkt von diesem war der Strickwettbewerb. Rund zwanzig Damen strickten nach Anleitung um die Wette und, von wegen Handarbeit sei etwas für Omas, die jüngste Teilnehmerin war vielleicht gerade 16.


An mondäne Zeiten erinnert der Bahnhof, der leider nicht mehr von Zügen, aber immerhin von Bussen angefahren wird. Als er 1907 erbaut wurde, konnte sich Haapsalu rühmen, den längsten überdachten Bahnsteig Europas (214 Meter) zu besitzen. Stillgelegt wurde die Strecke nach Haapsalu Mitte der 1990er Jahre, seitdem enden die Züge aus Tallinn in Riisispere. Seit 2004 gibt es nicht mal mehr Gleise, nur noch das Eisenbahnmuseum und ein alte paar Loks dazu.


Ihre einstige Bedeutung weniger verloren haben das Kurhaus und die Strandpromenade. Dort genießen die Gäste auch heute Kaffee und Kuchen auf Spitzendeckchen und flanieren gemächlichen Schrittes am müde platschenden Wasser entlang. Und über all den hellen Holzhäuschen thront schützend die Ruine der Burg, die über Jahrhunderte hinweg Sitz der Bischöfe von Ösel-Wiek war.


Freitag, 19. August 2011

Ein Rad, wo zwei Leute drauf sitzen können

Neulich haben meine Schwester und ich uns ein Tandem gemietet und sind zu meinem Lieblingsstrand auf der Halbinsel Paljassaare geradelt. Das Wetter war augustig, herrlich windig, es gab hohe Wellen zum Drüberhupfen und viel Sonne dazu. Doch nicht vergessen werde ich den Nachmittag allein wegen der Menschen, die uns in Kalamaja und Kopli begegnet sind.

Zuerst ist uns ein kleines Mädchen mit seiner Oma entgegengekommen. Als es uns gesehen hat, hat es große Augen gemacht und dann ernst und gar nicht so laut gesagt: „Super!“ Kurz darauf sprach uns ein älteres Ehepaar auf einer Parkbank an: „Wie nennt man denn so ein Fahrrad?“ Dann zeigten drei Buben gleichzeitig auf uns: „Mama, schau mal!“ Ein Motorradfahrer, der an uns vorbeifuhr, ließ kurz den Motor aufheulen, eine Gruppe Jungs, die auf einer Wiese Picknick machte, rief uns zu, wir sollten uns zu ihnen setzen. Und als wir das Rad einen kleinen Berg hochschieben mussten, fragten uns zwei Frauen, beide in unserem Alter: „Und wie steigt man da auf?“ Na so, haben wir gesagt, uns auf den Sattel geschwungen und unsere Tour fortgesetzt. An den Holzhäusern vorbei, den Kulturkilometer entlang, klingelnd zwischen den Fußgängern hindurch. Am nettesten und denkwürdigsten war die Begegnung an der Bushaltestelle. Dort saß eine Frau mittleren Alters in einem verwaschenen T-Shirt auf der Bank, mehrere Plastiktüten zu ihren Füßen. Sie sieht uns, stutzt, und fängt lauthals an, zu lachen, so ein richtiges Glucksen, von ganz innen heraus, völlig perplex. Wir haben ihr fröhlich zu gewunken und auch gelacht.

Donnerstag, 18. August 2011

Staumeldung

Ein neuer Tag beginnt und ich habe wieder nichts in meinen Blog geschrieben. Mir fehlt das schon und in meinem Kopf gibt es einen Gedankenstau, so viel hätte ich von den vergangenen Tagen zu erzählen. Von der Heiterkeit des Tandemfahrens zum Beispiel. Oder von idyllischen Bildern in Haapsalu. Aber im Moment besteht mein Stadtschreiberleben aus ganz anderen Aufgaben und Erfahrungen als gewöhnlich. Ich stehe für Deutsche Welle TV in Hinterhöfen und Museen vor der Kamera und sitze in Cafés vor der Kamera und gehe mitunter fünf Mal um die gleiche Straßenecke, vor der Kamera. Wer heute Abend auf einen neuen Post wartet, sollte vielleicht besser Fernschauen: Um 22.30 Uhr sendet das ZDF in der Reihe „Die Schönen des Ostens“ einen ausführlichen Bericht über Tallinn.

Montag, 15. August 2011

Ankündigung: Porträt auf Deutschlandradio Kultur

Morgen eine Vormittagspause gefällig? Wie wäre es mit zehn Minuten Radiohören zwischen 10:50 Uhr und 11 Uhr? In dieser Zeit läuft in der Sendereihe "Profil" von Deutschlandradio Kultur ein kurzes Porträt von mir. Entstanden ist es, als eine Gruppe des Journalistenverbands Berlin-Brandenburg im Juni die Kulturhauptstädte Tallinn und Turku besucht und an einem Abend auch mich getroffen hat. Nach der Ausstrahlung ist die Sendung noch für einige Zeit auf www.dradio.de zu finden. Viel Spaß beim Zuhören!

Überbleibsel


Unten bei mir im Haus gibt es einen Buchladen. Das gehört sich so, für das Schriftstellerhaus, auch wenn es nicht mehr der gleiche ist, wie in den sowjetischen Jahrzehnten, sondern ein Antiquariat, das erst vor einigen Jahren eröffnet hat. Es gibt dort, natürlich, viele Bücher, vor allem auf Estnisch, aber auch englische Taschenbücher und russische Bilderbücher. Man kann sich dort hinsetzen und einen Kaffee aus dem Automaten trinken. Touristen finden Postkarten und Briefmarken, Musikliebhaber alte Platten. Und in einer Ecke stehen zwei Regale mit besonders abgefingerten und zerfledderten Büchern – das ist die deutschsprachige Abteilung des Ladens.


Bislang unentdeckte Schätze sind dort nicht zu heben, nein. Wenn deutsche Touristen kommen und fragen, ob es einen gut erhaltenen Stadtplan aus dem 18. Jahrhundert gibt, oder den Nachlass einer deutschbaltischen Adelsfamilie, oder irgendwelche handgeschriebenen Dokumente, ärgert sich Maiu Varner ein bisschen. Dann antwortet die Mitarbeiterin des Ladens, dass so etwas ins Museum gehöre, und nicht hier in die Regale. Und dann verlieren die meisten Kunden schnell das Interesse an den deutschen Büchern.

Das allerdings ist ein bisschen schade, denn ein vergnüglich-besinnliches Stündchen kann man mit ihnen allemal erleben.

Zunächst fallen einem so sperrige Titel wie Abwasser-Hauskläranlagen und Siedlungsabwässerverwertung (1938), Jahrbuch der Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1911 (1911) oder Wirtschaftslehre des Forstwesens (1943) ins Auge und erinnern daran, dass die Deutschbalten fast alle zur gebildeten Oberschicht gehörten.

Dann gibt es die Widmungen, die in Schönschrift erklären, wer wen zu welchem Anlass mit einem Büchlein bedacht hat. Zur Konfirmation gab es einen Band mit geistvollen Gedichten, der Schwägerin wurde ein Kochbuch vermacht und in den Roman Zur Neujahrszeit im Pastorat zu Nöddebo (1884) ist geschrieben: „Meiner lieben lieben Galja ein kleines Zeichen, dass ich ihrer in Freundschaft gedenken und sie nicht vergessen werde. Die alte Hessinka.“ Vielleicht ist das Buch das letzte Ding, was an die innige Verbundenheit der beiden Damen erinnert …

Kleine Aufkleber und Stempel verweisen auf die einstigen Besitzer und Verkäufer der Bücher: „Vereidigter Rechtsanwalt E. R. Koch, Reval“ hat sich Amerika und der Amerikanismus (1927) zu Gemüte geführt, bei „Emil Treufeldt, Buch & Musikalien-Handlung Pernau“ war die Zeitschrift Der Angelsport (1933) erhältlich. Natürlich, die Leute gingen auch früher gerne Angeln und haben sich über die neuesten Ruten und Fischkrankheiten informiert. Auch So spielt man Tennis (1927), Balkongärtnerei und Vorgärten (1922) und einige Bücher zum Stricken und zum Singen sind Überbleibsel des Teils vom Leben, der auch früher ein heiterer und banaler Alltag war. (Und wieder taucht Renata auf, die so oft mit Olaf Tennis gespielt hat.)

Besonders gerne mag ich das Buch Heim und Herd, das 1901 in Riga erschienen ist. Dicht an dicht sind die Leerseiten am Anfang und Ende des Buches mit fein säuberlich notierten Kochrezepten beschriftet: Eins für Kürbissuppe, eins für Piroggenteig, eins für Apfelsinensaft und eins für Okroshka (das ist eine russische Gurkensuppe). Im Lauf der Jahre hat das Nachschlagewerk so manchen Soßenspritzer abbekommen.


Zu guter Letzt entdecke ich die vielen, vielen Karten und Broschüren zu Italien, sie alle wurden Anfang der 1930er Jahre vom italienischen Fremdenverkehrsamt herausgegeben. Die italienische Riviera, Die oberitalienischen Seen, By mail motor coach to Italy … Im Heftchen Sommer- und Herbstferien in Italien ist eine Panoramaansicht von Meran zu sehen und darunter steht der Satz: „Die erste Reise nach Italien bleibt sicher nicht die einzige, denn wer Italien einmal gesehen hat, sehnt sich immer wieder dahin zurück.“ Ich wünsche dem einstigen Besitzer dieser Broschüre posthum, dass die erste Reise stattgefunden hat.

Samstag, 13. August 2011

Samstag, Einkaufstag


Aufgenommen auf dem Markt am Bahnhof (Balti jaam): Die Sonne zieht sich schon lange wieder zurück. Aber sie hinterlässt uns die Früchte, die sie reifen ließ.

Donnerstag, 11. August 2011

Was die Tauben tun


Aufgenommen beim Morgenspaziergang auf dem Domberg. Siebenundzwanzig Tauben saßen auf einem Dach. Die einen sechs flogen weg. Die anderen sechs flogen weg. Die einen sechs kamen wieder. Die anderen sechs kamen wieder. Da sitzen sie alle siebenundzwanzig wieder. (Oder so ähnlich.)

Mittwoch, 10. August 2011

Ein Tag Pärnu

Die Städte in Estland sind miteinander verwoben und erfüllen oft ganz spezifische Funktionen. Tartu ist, habe ich im Juni gelernt, die Stadt des Geistes und der Ideen. Pärnu ist die Stadt der Muße und der Erholung, man nennt sie die Sommerhauptstadt.

Am Wochenende hat mich ein Sonntagsausflug dorthin geführt. Die Sommerhauptstadt ist natürlich viel kleiner als die echte. Beschaulicher, bunter und über und über mit Jugendstilblüten berankt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die erste Badeanstalt gegründet und so etablierte sich die Stadt als Kurort im russischen Zarenreich und erlebte einen echten Hochbetrieb schließlich in den 1930er Jahren, als eine Schiffsverbindung über die Ostsee eingerichtet wurde. An diese glanzvollen Tage erinnert die Villa Ammende, die der Kaufmann Hermann Ammende 1904 errichten ließ, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.


Mein Andenken an Pärnu ist eine Musik, ich muss kurz ausholen, um zu erzählen, welche:

Neulich habe ich einen anderen Sonntagnachmittag in einem Café in der Lai-Straße verbracht, wo man auf verschnörkelten Holzstühlen sitzt und von Spitzendeckchen Schokoladenkuchen isst. Meine Lektüre war das ebenfalls etwas altmodische Buch „Liebe Renata“, in dem die jungen Mädchen ständig mit rosigen Wangen Walzer und Mazurka tanzen. Und die CD im Hintergrund spielte – fast schon zu passend – heitere Salonmusik dazu.

In Pärnu sitzt vor dem Kursaal ein Mann auf einer Mauer und spielt Akkordeon. Die Musik kommt aus einem Lautsprecher, der in einer Hecke versteckt ist. Für einen Moment kann ich sehen, wie die Sommergäste im Kursaal tanzen, wie die Herren den Damen ihren Arm anbieten, wie diese lächelnd nicken, leichtfüßig den Takt aufnehmen, sich drehen lassen, bis ihnen schwindlig wird. Oh, wie Renata solche Abende liebte! Da ist sie wieder, die Melodie, die mich neulich im Café begleitet hat.


Froh über diese Entdeckung frage ich ein älteres Ehepaar, das auf einer Parkbank sitzt, was das für Musik sei. Die beiden schauen mich verwundert an: Da müsse ich die Leute fragen, die diese Party organisieren. Ein paar hundert Meter weiter ist eine Open-Air-Bühne aufgebaut und zum Soundcheck testet man gerade die Bässe. Die Weise, die leise aus der Hecke tönt, hat das Ehepaar überhört.

Zum Glück habe ich den entscheidenden Hinweis auch ohne das Ehepaar entdeckt, es ist der Name des Mannes mit dem Akkordeon: Raimond Valgre. Der wurde 1913 geboren und starb 1949. Dazwischen, in den 1930er Jahren, füllte er die Salons und ließ die Menschen tanzen – unter anderem zum Saaremaa-Walzer (Saaremaa valss).

Montag, 8. August 2011

Straßen

Ich male mir aus, dass die Leser, die gerade nicht in Tallinn sind, oder sogar noch nie hier waren, sich, wenn sie meinen Blog lesen, eine Vorstellung von der Stadt machen können. In den letzten Wochen habe ich von einigen Menschen berichtet, Geschichten erzählt, die Aufmerksamkeit auf Details gelenkt, sogar auf Mülleimer. Nun ist mir aufgefallen, dass für das Bild im Kopf noch etwas Wichtiges fehlt: Der Blick in die Straßen.

Man denke sich deshalb zum kugelrunden Kopfsteinpflaster zum Beispiel solche Fassaden dazu:






Fast zufällig sind alle Bilder Hochformate. Weil der Vergleich mit Paris gerade im Raum steht, würde ich also sagen: Paris ist, Eiffelturm hin oder her, eine horizontale Stadt, die ihren Prunk auf der ganzen Breitseite präsentiert. Tallinn ist eine vertikale Stadt, schlanker, in ihrer Eleganz nach oben strebend. Tallinn, das ist zum Beispiel die Silhouette mit den Kirchtürmen, das sind gotische Fassaden und hohe alte Lindenbäume. Paris, das sind Paläste, Brücken, die sich über die ganze Seine erstrecken, weite Alleen akkurat gestutzter Bäume im Park.

Ich muss aufpassen, dass etwas nicht deshalb unerzählt bleibt, weil es mir allzu vertraut geworden ist. Doch auch dann werde ich niemals alle Facetten dieser Stadt in meinen Blog packen können. Ich komme mir vor wie eine Schmetterlingsfängerin, die buntschillernden flüchtigen Momenten hinterher läuft und sie alle in ihr Netz stopfen will. Aber es gelingt ihr nicht. Wenn sie links zwei erhascht, fliegen rechts drei davon. Vielleicht waren sie nie mehr gesehen.

Über meinem Schreibtisch hängt eine Liste, auf der ich vermerkt habe, worüber ich noch schreiben möchte. Zum Beispiel über andere Stadtteile als die Altstadt und Kalamaja. „Immer nur Altstadt“ – das habe ich neulich über die Auswahl auf den Postkartenständern gesagt. „Immer wieder Altstadt“ – das gilt für meine hier veröffentlichten Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen, unabhängig von der Liste über dem Schreibtisch. Denn hier wohne ich und hier sind die Spuren der schon vor einiger Zeit vergangenen Vergangenheit, nach denen ich suche, besonders gut zu finden.

Noch hat die Schmetterlingsfängerin fast zwei Monate Zeit.

Samstag, 6. August 2011

Ankündigung: Zwei Interviews

Nun, da ich drei Monate da bin, interessieren sich auch die Journalisten in Tallinn für die Stadtschreiberin. Deshalb gibt es heute gleich zwei Interviews mit mir, eins in der Zeitung und eins im Radio. Die Zeitungsleser werden auf der Literaturseite des Eesti Päevaleht fündig, dort beantworte ich ein paar Fragen zum Blog. Abrufen kann man den Artikel auch unter www.epl.ee. Und wer von 13 Uhr bis 14 Uhr die Sendung „Publikumärk“ auf Radio Kuku anhört, kann mittendrin erfahren, was ich im estnischen Kulturleben so entdecke. Wer nicht in Estland wohnt (aber Estnisch versteht), kann natürlich im Netz mithören: www.kuku.ee.

Freitag, 5. August 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail – Folge 3

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Obwohl gar nicht so beabsichtigt, oft sehr nett anzuschauen. Für mich ist das „Zufallskunst“, die Grenzen zur Streetart sind mitunter fließend. Aber hier muss man sich wirklich nicht mehr fragen: Was will der Künstler uns damit sagen? Denn der Künstler hat (wahrscheinlich) keine Kunst im Sinn gehabt.

Er war eine Hausfrau.


Er war ein Trafostationsisolatorenbemaler.


Er hat Kiek in de Kök besichtigt.


Er war ein Mitarbeiter der Straßenmeisterei.


Er hatte vom Joggen die Schnauze voll.

Mittwoch, 3. August 2011

Apothekengeheimnisse

Rein, kurz gucken, raus. Die wenigsten Touristen, die in die Tallinner Ratsapotheke strömen, haben Kopfschmerzen oder Blasen an den Füßen. Die meisten wollen die älteste Apotheke Europas sehen. Zwar beanspruchen diesen Titel noch ein paar andere Einrichtungen, zum Beispiel in Florenz und Dubrovnik, doch der Besucherfrequenz tut dies keinen Abbruch. Und eine der ältesten Apotheken in Europa ist die Raeapteek ganz gewiss.

Das genaue Gründungsdatum der Apotheke ist unbekannt, doch aus einem alten Notizbuch der Stadtverwaltung geht hervor, dass sie im Jahr 1422 bereits den dritten Besitzer hatte. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte die Apotheke sieben Tage die Woche rund um die Uhr geöffnet, um die medizinische Versorgung der Stadt sicherzustellen. Zusätzlich erfüllte sie die Funktion eines Cafés. Hier trafen sich Ratsherren und Kaufleute und bekamen süßen Klarett (einen Würzwein) gereicht – dass der Apotheker dafür nichts verlangen durfte, war vertraglich festgesetzt. Im Pfarrhof der Heiliggeistkirche, hinter der Apotheke, wurden Heilpflanzen gezüchtet, ein weiterer üppiger Apothekergarten lag vor den Stadtmauern, zuerst beim Harju-Tor, dann beim Nunne-Tor.

In der längsten Zeit ihres Bestehens lag das Schicksal der Apotheke in den Händen einer Familie – der Familie Burchart. Im Jahr 1580 kam Johann Burchart Belavary de Sykava aus Ungarn nach Reval und pachtete die Apotheke. Als er sich zur Ruhe setzte, übergab er sie seinem Sohn und so ging es über zehn Generationen hinweg immer weiter, und immer hieß der nächste Apotheker Johann. Und auch wenn der eine Johann den Laden besser zu führen verstand als der andere, hielten die Männer doch von 1582 bis 1911 den Ruhm der Familie hoch. Sie studierten an den angesehensten Universitäten Europas, in Petersburg, Tartu, Lübeck, Halle und Stockholm, und nahmen ihr Wissen und neue Rezepturen mit in ihre Heimatstadt.

Wer mag, kann die Geschichte der Apotheke in den Chroniken nachvollziehen, die im hinteren Raum auf einer Truhe liegen. Er kann an der Holzdecke die fast verblassten Bemalungen bewundern, die noch aus dem Mittelalter stammen, und in Gläsern die Heilmittel von einst – zum Beispiel sonnengebleichten Hundekot. Und am alten Ofen sind Kräutersträußchen zum Trocknen aufgehängt: Weidenröschen, Johanniskraut, Schafgarbe, Thymian, Kamille ...


Dass diese Pflanzen an die alte Kunst des Apothekerhandwerks erinnern, ist Silja Pihelgas zu verdanken. Vor ein paar Jahren haben die Betreiber der Apotheke beschlossen, dass es schön wäre, wenn die Geschichte des Ortes nicht in Vergessenheit gerät und zusammen mit der Stadt ein kleines Projekt auf die Beine gestellt und in die Obhut von Silja übergeben. Seitdem sorgt sie dafür, dass ein bisschen was von der Atmosphäre, die die Apotheke in all den Jahrhunderten ausmachte, noch heute zu spüren ist. Über eine schmale Holztreppe nimmt mich Silja mit, hinunter in den Keller.

Was den Burcharts wohl gefallen hätte, diese Frage hatte Silja immer im Hinterkopf, als sie die Räume der Apotheke umgestaltete und einrichtete. Und so entstand im Keller nach und nach ein Refugium, in dem noch manche Schätze zu entdecken sind. Regelmäßig führt Silja Schulklassen und andere Gruppen dorthin. Dann dürfen die Kinder Apotheke spielen, Rezepte schreiben, Heilkräuter im Mörser zerstoßen. Aus den Regalen lassen sich dicke vergilbte Bücher hervorziehen, zum Beispiel die Ausgaben der Pharmaceutischen Centralhalle für Deutschland. Die älteste von ihnen stammt aus dem Jahr 1866 und in Deutschland wäre solch ein alter Schinken längst hinter einer Vitrine verschwunden. Hier steht er einfach so herum.


Aus dem Garten eines alten Herrenhauses bringt Silja immer wieder Kräuter mit und als ich da bin, stellt sie mit einem Destillierapparat eine Essenz aus Mädesüß her. Tropfen um Tropfen sammelt sich im Glasröhrchen und ab und an gießt Silja dessen Inhalt in ein Fläschchen. Unlängst wurde entdeckt, dass Mädesüß Wirkstoffe enthält, die gut gegen Falten sind. Nun ist die Pflanze mit dem lateinischen Namen Filipendula ulmaria auf dem Kosmetikmarkt hoch gefragt und ihre Essenz wird teuer bezahlt. Im Keller der Ratsapotheke geht es darum nicht. Hier wird einfach der Geist des Sommers und ein bisschen auch der Geist der Vergangenheit eingefangen. Es riecht nach Blumen und Heu.

Dienstag, 2. August 2011

Immer nur Altstadt


Aufgenommen an irgendeinem Postkartenstand an irgendeiner Straßenecke. Wenn man fünf Monate in einer Stadt lebt, kommt es vor, dass man manchen Menschen mehr als nur eine Ansichtskarte schickt. Ich tue mich mit der Motivwahl für die dritte und vierte Karte schwer. Das kennt Oma doch alles schon!