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Mittwoch, 28. September 2011

Ich war's nicht

Das Angebot von Juhan Kreem war nett und provokativ: „Kommen Sie zu uns ins Stadtarchiv, dann zeige ich Ihnen, was ich unter einem Stadtschreiber verstehe!“ Natürlich konnte ich diese Einladung nicht ausschlagen.

Juhan Kreem ist Historiker und hat für seine Promotion zum Verhältnis zwischen der Stadt Reval und dem Deutschen Orden als Landesherren geforscht. Seit 1996 arbeitet er als Forscher im Tallinner Stadtarchiv. Den Raum, in den mich Juhan Kreem bei meinem Besuch dort hineinführt, nennt er „Schatzkammer“. Doch er glitzert ganz und gar nicht und sieht – pardon – eher wie ein Heizkeller aus. An der Decke verlaufen dicke Lüftungsröhre, hinter zwei Türen stehen große metallene Schubladenschränke. Hier lagern die wichtigsten Dokumente der Tallinner Stadtgeschichte: Prächtige Urkunden, die mit schweren Siegeln dekoriert sind, Messebücher und Ablassbriefe, Unterlagen der Kämmerei. Die älteste Urkunde ist eine Übertragung von Rechten an das Johannes-Siechenhaus aus dem Jahr 1237. Die wichtigste ist wahrscheinlich die Verleihung des lübischen (also Lübecker) Stadtrechts im Jahr 1248.


Wie ich so die verschiedenen handschriftlich mit Tinte und Feder abgefassten Dokumente betrachte, begreife ich schnell: Im Mittelalter waren die Stadtschreiber ziemlich genau das Gegenteil von mir: Nämlich juristisch gut ausgebildete Menschen, die in der Verwaltung der Stadt arbeiteten und gewissenhaft die tägliche Arbeit dokumentierten. Ihre Tätigkeit besaß einen durch und durch technischen Charakter, an literarische Selbstverwirklichung dachten sie nicht.

Das älteste umfassende Werk eines Tallinner Stadtschreibers ist, wenn man so will, ein so genanntes „Denkelbuch“ für die Jahre 1333 – 1374. Es ist ein Notizbuch, in dem ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung all das festgehalten hat, was nicht zu vergessen war: Ratsherren- und Steuerlisten, Vermerke über den Verleih von Kriegsrüstungen und die banale Notiz, an wen man die Schlüssel zu den Stadttürmen ausgegeben hat.


Von ihrer späteren Bedeutung als Chronisten konnten die Stadtschreiber nichts ahnen. Sie erfüllten nur ihre Pflicht und wussten nicht, dass wir ihr Geschreibsel Jahrhunderte später als Dokument der Zeitgeschichte auswerten und in gut gesicherten Vitrinen ausstellen würden. Welche Quellen werden in 500 oder 600 Jahren für das Jahr 2011 untersucht werden? Dieser Blog sicherlich nicht. Ob es den Historikern der Zukunft überhaupt gelingen wird, die Informationsflut unserer Zeit zu sortieren?

Früher war wenigstens Pergament ein knappes Gut und damit ein Filter, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Im Jahr 1347 hat man auf einer Pergamentrolle alle Rechte und Privilegien der Stadt Reval zusammengetragen. Fein säuberlich wurde sie eng beschriftet; wäre das Ganze am Computer ausgedruckt worden, hätte man bestimmt Schriftgröße 9 wählen müssen. Entsprechend pragmatisch recycelte man katholische Messebücher, nachdem die Reformation Estland erreicht hatte: Ihre Seiten wurden gebleicht und für Kaufmannsbücher wieder verwertet. So schimmern zwischen manchen Rechnungen über erhaltene Waren noch die Noten liturgischer Gesänge durch.

Doch aller Pedanterie zum Trotz: Eine gewisse Vorliebe für das Schöne und Nebensächliche konnten auch die mittelalterlichen Stadtschreiber nicht unterdrücken. Der Übersichtlichkeit halber kennzeichneten sie die einzelnen Posten in den Rechnungsbüchern oft mit Symbolen – sozusagen anstatt Post-its zu verwenden. So mancher Jurist zeigte wahrhaftig ein künstlerisches Talent, wenn er mit geschicktem Federstrich Waagen, Türme, Hufeisen oder Flaschen skizzierte. Und es blieb nicht immer bei den Symbolen zum schnellen Auffinden bestimmter Posten: Zwischendurch auch mal den Kollegen mit seiner Grimasse zu porträtieren, das konnten sich die Stadtschreiber nicht verkneifen.

Na dann. Da muss ich das Amt des Stadtschreibers im Internet-Zeitalter wohl doch nicht gänzlich in Frage stellen. Man braucht eben beides, die Zahlen und die wichtigen Fakten und die schönen Worte und die Nebensächlichkeiten.

PS: Bilder Nummer 2, 3 und 4: Stadtarchiv Tallinn.

Sonntag, 24. Juli 2011

Tanz mit dem Tod!


Der Totentanz des Lübecker Künstlers Bernt Notke in der Antoniuskapelle der Nikolaikirche ist ein kunsthistorischer Schatz. Und das berühmteste Kunstwerk des Mittelalters, das in Tallinn zu sehen ist. Es zeigt den Tod, wie er als gruseliges Klapperskelett mit prächtig gekleideten Menschen tanzt. Gemalt hat der Künstler das Bild Ende des 15. Jahrhunderts als Replik seiner Totentanz-Darstellung in der Lübecker Marienkirche. In einer Zeit, in der sich die Menschen vor der Pest, vor Kriegen und Hungersnöten fürchten mussten, entstanden die ersten Totentänze als Freskenzyklen in Kirchen und Klöstern. Schnell wurde der danse macabre zum wiederkehrenden Motiv in der Kunst und später auch in der Literatur und der Musik. Den Lübecker Totentanz gibt es nicht mehr. Er war bereits Anfang des 18. Jahrhunderts in so einem schlechten Zustand, dass man beschloss, das Werk nicht mehr zu restaurieren, sondern eine Kopie anfertigen zu lassen. Diese wurde 1942 bei einem Luftangriff auf Lübeck vollständig zerstört. Auch vom Revaler Totentanz ist nur ein Viertel der ursprünglich 30 Meter langen Darstellung erhalten geblieben – doch immerhin!

Die Nikolaikirche sehe ich, wenn ich aus meinem Fenster schaue, seit Wochen hatte ich mir vorgenommen, das Museum endlich zu besichtigen, doch immer, wenn ich mich aufgerafft hatte, war Montag oder Dienstag und geschlossen. Jetzt war ich endlich da und wie ich vermutet habe, sieht das Gemälde aus wie im Reiseführer, nur eben größer und hinter Glas.

Der Reihe nach bittet der Tod alle Menschen zum Tanz. Zuerst den Papst, dann den Kaiser und die Kaiserin, es folgen der Kardinal, der König und der Bischof. Die übrigen Personen sind auf dem Fragment nicht mehr abgebildet, doch es dürften zum Beispiel Kaufleute, Handwerker und Bauern gewesen sein, den Abschluss machte wahrscheinlich ein Kind in der Wiege.

Mein Zugang zum Gemälde war die Übersetzung des mittelniederdeutschen Texts, der dieses erläutert. Zu Beginn läutet der Tod den Reigen ein: „Zu diesem Tanz rufe ich alle miteinander: Papst, Kaiser und alle Kreaturen, arm, reich, groß und klein. Tretet hervor, denn euch hilft kein Trauern! Aber bedenkt zu jeder Zeit, dass ihr gute Werke mit euch bringt und eure Sünden büßt; denn ihr müsst nach meiner Pfeife tanzen.

Dann reicht er seinen Tanzpartnern die Hand und die Dialoge, die sich daraufhin entwickeln, laufen immer nach dem gleichen Schema ab. Der Tod fordert: „Lass uns tanzen!“. Der so Angesprochene sagt: „Ach nein, bitte nicht!“

Der Tod zum Kaiser: „Herr Kaiser, wir müssen tanzen!“ Der Kaiser zum Tod: „O Tod, du hässliche Gestalt, veränderst mir mein ganzes Wesen.

Der Tod zur Kaiserin: „Wende du dich jetzt her, Frau Kaiserin!“ Die Kaiserin zum Tod: „Ach, lass mich noch leben, darum bitte ich dich!

Der Tod zum König: „Jetzt tritt auch du hervor, edler König!“ Der König zum Tod: „O Tod, deine Worte haben mich erschreckt! Diesen Tanz habe ich nicht gelernt.

Oh nein, diesen Tanz haben wir nicht gelernt. Wir wollen ihn nicht lernen. Tapfer versuchen wir, zu vergessen, dass wir sterben müssen. Und können wir die Endlichkeit des Lebens nicht länger leugnen, so reagieren wir mit einem auf den Moment gerichteten Genießen. Verschiebe nichts auf morgen, lebe heute, sammle das kleine Glück, lass die Sonne scheinen, male Dein Leben bunt. Durch und durch positive Sprüche lassen uns doch ohne Antwort zurück, wenn wir uns fragen, wie es geht, Tod und Unglück anzunehmen.

Die Konsequenz, die die Menschen im ausgehenden Mittelalter aus dem Anblick des Totentanzes ziehen sollten, lautete ganz anders: Lebe tugendhaft, hüte Dich vor der Hoffart. „Aber Du hast in deiner großen Hoffart hoch zu Ross gesessen“, spricht der Tod zum Kardinal. „Deshalb musst Du Dich jetzt um so mehr sorgen!“ Und zum König meint er: „Alle deine Gedanken hast du auf weltlichen Prunk gerichtet. Was nützt dir das jetzt? Du musst in die Erde und mir gleich geschaffen werden.“ Ob die Menschen mit diesen Ratschlägen leichter sterben konnten?