Post aus und nach Berlin

Dienstag, 7. Juni 2011:
E-Mail von Irja Grönholm an Sarah Jana Portner


[…] In Deinem letzten Brief ging es nach der Harju 1 um Bürokratie. Hier hake ich ein.

Bürokratie – ja, verglichen mit der sogenannten deutschen Ordnung, die die Esten gern zitieren (insbesondere der nicht Deutsch sprechende Este sagt "Orrrtnunk muss sain!") herrscht in Estland wohlgeordnete Anarchie. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass eine Verabredung zum nächsten Morgen (homme hommiku = morgen früh), in der Praxis ganz was anderes bedeutete: Homme hommiku, sagen wir, gegen zwölf, passt das? Dafür kann man in Estland noch nach 23 Uhr jemanden anrufen, ohne unhöflich zu sein. Ich weiß nicht, ob das im Moment auch noch so ist, denn die Esten sind ja workaholics, zumindest liegt ihnen sowas in den Genen, das Arbeitsethos ist ein sehr, sehr hohes, und da kann es schon sein, dass viele zu Frühaufstehern und aus Durchhaltegründen auch zu Frühzubettgehern mutiert sind. Nun gut.

Prallte man zu Sowjetzeiten bei Institutionen gegen WÄNDE (mindestens aus Stahlbeton!), so werden Anliegen heute eher auf unkomplizierte Art und Weise gelöst. Ich vergesse nie, wie ich in den 1970er Jahren in der Nähe des Kaufhauses (Kaubamaja, heute in die Viru keskus integriert) in eine Intourist-Filiale ging, also ins Reisebüro, um eine völlig normale Auskunft zu bekommen, und mir die Dame am Tresen einfach nicht antwortete – ich hatte sie auf Estnisch gefragt. Intourist war das Reisebüro, das für Auslandsreisen zuständig war, und da arbeiteten so gut wie keine (vielleicht gar keine?) Esten. Als ich zu Russisch wechselte, bekam ich eine Antwort, allerdings eine eisige. Es herrschten wirklich eisige Zeiten, und die masseneingewanderten Sowjetbürger saßen am längeren Hebel. Damals noch. […]

Dienstag, 17. Mai 2011:
E-Mail von Sarah Jana Portner an Irja Grönholm


[…] Insgesamt muss ich einfach sagen, dass ich die Menschen hier als offen und unkompliziert kennenlerne. Sie freuen sich, dass ich mich für ihr Land interessiere, man landet sehr schnell beim „Du“ und viele Dinge werden sehr schnell und unbürokratisch gelöst. […]

Montag, 23. Mai 2011:
E-Mail von Irja Grönholm an Sarah Jana Portner


[…] Meine ersten Schritte in die estnische Literatur vollzogen sich auch von der Gästewohnung Harju 1-16, das war anno 1989, als ich vom EKL, dem estnischen Schriftstellerverband, ein vierwöchiges Stipendium bekommen hatte, um mich in der Literaturlandschaft – damals hieß das noch nicht Szene – umzusehen und dabei lebendige Geschichte erfuhr und sogar mitschrieb, indem ich mich in die Menschenkette am 23. August einreihte, die sich vom Domberg in Tallinn 600 km lang über alle drei baltischen Sowjetrepubliken erstreckte und einer der vielen Vorboten für den baldigen Umbruch war.

Ja, die Harju 1 ist ein guter Ort im Herzen der Stadt und der Literatur, denn der Gebäudekomplex wurde ja in den 1960er Jahren für die Schriftsteller erbaut, samt dem Saal mit der schwarzen Decke (musta laega saal), samt dem Café „Pegasus“. Damals, also 1988 und 89, ging es dort zu wie im Taubenschlag, das Schriftstellerhaus war Dreh- und Angelpunkt. Die politische Wende in Estland wurde ja von Künstlern und Intellektuellen eingeläutet, so dass alle einschlägigen Treffpunkte so etwas wie „Keimzellen der Freiheit“ waren. Es herrschte eine unglaublich angespannte und hoffnungsvolle Stimmung, der sich niemand entziehen konnte.

Jetzt ist es, obwohl ungebrochen das Zentrum der Literatur, vergleichsweise verwaist! […]

Dienstag, 17. Mai 2011:
E-Mail von Sarah Jana Portner an Irja Grönholm


[…] Ich bin einer Wohnung des Estnischen Schriftstellerverbands in der Harju-Straße untergebracht. Wenn ich meinen Kopf aus dem einen Fenster der Wohnung stecke, sehe ich den Rathausturm. Und wenn ich ihn aus dem anderen Fenster stecke, sehe ich die Nikolaikirche, die Kuppeln der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale und ganz hinten die Spitze des Doms. Zentraler könnte die Wohnung nicht liegen, ich genieße das sehr! […]