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Montag, 22. August 2011

Luftballons am Nachthimmel


„Happy birthday“ – das haben die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton und die irische Sängerin Sinéad O´Connor Estland gewünscht. Wenn man so will, stieg zum 20. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit am Samstag eine große Geburtstagsparty. Es gab ein kostenloses Konzert („Song of Freedom“) mit verschiedenen Musikgruppen, Ansprachen und Videobotschaften und am Ende ein Feuerwerk. Am Tag darauf fand ein „Islandtag“ statt.

Dass Estland am 20. August 1991 wieder unabhängig wurde, kam nicht aus heiterem Himmel – und doch war bis zuletzt nicht damit zu rechnen gewesen. Seit der Mitte der 1980er Jahre schwand die sowjetische Autorität dahin, während National- und die Reformbewegung erstarkten. Höhepunkte wie die Menschenkette zwischen Vilnius und Tallinn am 23. August 1989 und politische Wegmarken wie die einseitige Souveränitätserklärung 1988 oder die Wiedereinsetzung der Nationalhymne reihten sich aneinander und schufen die Voraussetzungen dafür, dass am 20. August 1991 im Windschatten des Putschversuchs in Moskau der letzte Schritt vollbracht werden konnte.

Während die Politiker berieten, wie auf die Moskauer Ereignisse zu reagieren sei, versammelten sich die Menschen in Tallinn vor dem Schloss auf dem Domberg und am Fernsehturm. Denn es war unklar, ob das Militär den Putsch in Moskau unterstützen würde, und man wollte sich ihm im Fall des Falles entgegenstellen. Doch das Militär griff nicht zu den Waffen und spätabends, um 23.02 Uhr, riefen der estnische Oberste Sowjet und der Estnische Kongress gemeinsam die Wiederherstellung der Unabhängigkeit aus. Als erstes westeuropäisches Land erkannte zwei Tage später Island die Estnische Republik offiziell an.

In den letzten Sekunden vor der magischen Uhrzeit von vor 20 Jahren zählten die Menschen auf dem Sängerfestplatz am Samstag gemeinsam den Countdown. Dann ließen sie die Luftballons los, die sie am Eingang bekommen hatten. Tausende weiße Kugeln stiegen zum Nachthimmel empor.

Ob jeder dieser Ballons einen Wunsch zu den Wolken getragen hat? Wonach sich die Esten Ende der 1980er Jahre sehnten, wofür sie kämpften, war eindeutig zu benennen. Die Menschen, die in den Videos von damals zu sehen sind, gutmütige Vokuhila-Männer, Frauen in bunten Nylonblousons, dazwischen die Alten, die Gesichter voller Falten, erinnern mich auch an Friedensdemobilder aus der 1980er-BRD. Für Deutschland schon kommt es mir vor, als seien diese Zeiten ewig her, doch der Zeitensprung, den Estland in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, ist ungleich krasser. Was wünschen sich die Menschen, die damals für die Freiheit sangen, heute? Oder waren die meisten Menschen auf dem Sängerfestplatz am Samstag wunschlos glücklich? Wenn ich die Menschen hier beobachte, und zum Beispiel schmunzle, weil vierzigjährige Männer ohne Scheu ein blau-schwarz-weißes Häkelkäppchen auf dem Kopf tragen, kommt es mir oft vor, als ob viele Esten durch ihre Nationszugehörigkeit ein regelrechtes Glücksgefühl erfahren.

Dienstag, 5. Juli 2011

Sängerfest - Laulupidu

Ja, ich habe ein klein wenig geweint. Obwohl ich gar keine Estin bin. (Darf ich trotzdem weinen?) Ich hatte – obwohl ich in etwa wusste, was mich erwartet – nicht mit dem gerechnet, was kam. „Was für ein Land ist das?“ haben sie als Eingangslied gesungen und dann die Nationalhymne. Wir saßen in der Loge und damit auf der Bühne und mitten zwischen den Chören, links und rechts jeweils mehrere Hundert singender Menschen. Und dann sangen nicht nur diese Chöre, sondern auch das Publikum stimmte mit ein. So in der Mitte eines Gesangs war ich noch nie gewesen. Um mich herum war nur Lied. Und ja, es war wirklich so, dass es sich anfühlte, als ob ein ganzes Volk singt. Das war sehr feierlich und das ging mitten ins Herz.

Was ich am Freitagabend dann zu sehen bekam, war ein echtes Spektakel. Die Tanzfläche war ein Meer aus Trachten, das hin und her wogte, in dem Wellen aufeinander zu und voneinander weg liefen. So faszinierend, dass aus den verworrenen Strudeln am Ende immer wieder geometrische Figuren entstanden! Und wenn sich fünftausend Röcke gleichzeitig um ihre eigene Achse drehten, dann drang das Rauschen bis ganz nach oben.


Der wichtigste Tag aber für die Besucher des Tanz- und Sängerfests war der Sonntag. (Kurz zur Info: Das Sänger- und Tanzfest an diesem Wochenende war nicht das große Sänger- und Tanzfest, das findet erst 2014 wieder statt, sondern das Sänger und Tanzfest der Kinder und Jugendlichen. Am Freitag- und Samstagabend fand das Tanzfest statt, am Sonntagnachmittag das Sängerfest. Am Sonntagvormitttag gab es zudem eine große Parade, Tänzer, Sänger und Musiker zogen von der Innenstadt zum Sängerfestplatz.)

Die deutschen Leser meines Blogs erahnen die Stimmung am Sonntag wohl am besten, wenn sie sich ein riesiges, riesiges, sehr frohes und sehr buntes Volksfest vorstellen. Nur die Fahrgeschäfte müssen sie sich wegdenken. Und vor allem die bayerischen Leser das Bier, das spielt keine große Rolle. Hinzudenken müssen sie sich einen gewaltigen Chor und eine große Picknickwiese.

Eigentlich versammeln sich die Esten äußerst ungern, das widerspricht, so sagen sie, ihrem Naturell. Aber zum Sängerfest machen sie eine Ausnahme, dann gibt es ein großes Hallo, wenn sich halb Estland, so möchte man glauben, zum Picknick trifft. Wer sich also das Fest im Kopf ausmalt, sollte schließlich noch folgenden Gedanken ergänzen: Dass sich alle Besucher des Fests einfach dadurch, dass sie gemeinsam da sind, als große Familie fühlen. Und sicherlich auch als Nation.

Exkurs: Die Geschichte des Sängerfests

Dass das erste estnische Sängerfest 1869 in Tartu stattgefunden hat, weiß hierzulande jedes Kind. Initiiert wurde es vom Publizisten Johann Voldemar Jannsen und schon damals versammelten sich rund 850 Teilnehmer und 15 000 Zuhörer. Das Fest hatte, wie auch die folgenden in dieser Zeit des Nationalen Erwachens, einen politischen Charakter, die Lieder unterfütterten das Selbstverständnis als Nation und dienten auch der Abgrenzung von Deutschen und Russen.

Inspirieren lassen hatten sich die damaligen Wegbereiter der Sängerfeste freilich dennoch von den Deutschbalten, die schon einige Jahre zuvor ähnliche Veranstaltungen in kleinerem Rahmen abgehalten hatten. Nachdem Janssen 1857 und 1866 an den Baltischen Sängerfesten in Reval teilgenommen hatte, nutzte er 1869 den 50. Jahrestag der Bauernbefreiung in Livland als Anlass, um die Genehmigung für ein estnisches Sängerfest einzuholen. Zehn Jahre später fand das zweite statt. Eine ähnliche Tradition entwickelte sich in Lettland und Litauen.

Viele Jahrzehnte lang konnten die Sängerfeste nur innerhalb des von oben vorgegebenen Rahmens stattfinden, erst musste mit ihnen dem Zaren gehuldigt werden, dann Lenin und Stalin. Trotzdem gelang es den Esten, sich das Fest als ihr ganz eigenes zu bewahren. Nachdem die Pflichtdarbietungen vollbracht waren, stimmten sie zu guter Letzt noch immer ihre geliebten althergebrachten Lieder und Melodien an. 1989 schließlich wurde das, was sich die Menschen in Estland, aber auch in Lettland und Litauen so bewahrt hatten, zur treibenden Kraft der „Singende Revolution“. Seit 2003 sind die Sänger- und Tanzfeste der drei Länder von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt.

Was mir am längsten im Gedächtnis bleiben wird, sind die Gesichter der Menschen. Die Kinder beim Auszug vom Sängerfestplatz, völlig ausgelassen, weil alles so gut geklappt hat, manche tragen sich gegenseitig Huckepack. Jungs, die bei der Parade voranschreiten und mit ihren kleinen Kinderarmen schwere Fahnen stemmen. Und erschöpfte Tänzer, selig schlummernd im Schatten.

Donnerstag, 12. Mai 2011

Musik am Morgen

Was mich in der Früh weckt, ist kein Klingeln, Rasseln oder Ringen. Es ist die estnische Nationalhymne. Jeden Morgen um sieben wird auf dem Langen Hermann die estnische Flagge gehisst. Dazu erklingt die Hymne: Mu isamaa, mu õnn ja rõõm. (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude.) Der Lange Hermann (Pikk Hermann) gehört zur Schlossanlage auf dem Domberg, die Sitz des Parlaments ist.

Die Melodie der Hymne hat Friedrich Pacius komponiert, der aus Hamburg stammte und die meiste Zeit seines Lebens in Finnland verbrachte. Zusammen mit dem Text des estnischen Publizisten Johann Voldemar Jannsen entstand ein Lied, das 1869 auf dem ersten nationalen Sängerfest in Tartu gesungen wurde. 1920 wurde es zur Hymne der Ersten Estnischen Republik.

Zu Sowjetzeiten war die Hymne verboten. Trotzdem bekamen viele Esten sie täglich zu hören. Im Norden des Landes konnte man den finnischen Rundfunk empfangen und dort ertönte die Melodie jeden Abend vor Sendeschluss. Denn auch die finnische Nationalhymne wird – mit einem eigenen Text – zur Komposition von Pacius gesungen.

Mit der Singenden Revolution kehrte die estnische Hymne in die Öffentlichkeit zurück – so wie die blau-schwarz-weiße Trikolore. Bereits 1989, zwei Jahre vor der tatsächlichen Unabhängigkeit Estlands, wehte sie oben auf dem Langen Hermann wieder im Wind.