„Die kurze Zeit der Freude, die Zeit der kürzesten Nächte, die so reich an Liedern und Blumen ist, entschädigt die Bewohner des Nordlands für das Leiden des strengen Winters. Zu dieser Zeit, in der die Natur des Nordens ein Fest feiert und in der sich Morgenröte und Abenddämmerung die Hände reichen, hat ein alter Mann den Enkeln, die sich um ihn herum versammelt hatten, die Liebesgeschichte von Koit und Hämarik erzählt. Und so werde ich weitergeben, was ich gehört habe.
Kennst Du den Feuerball im Haus des Großvaters? Gerade jetzt hat er sich zur Ruhe gelegt und dort, wo das Licht erloschen ist, schimmert noch ein ferner Schein am Himmel. Und schon bewegt sich das Licht weiter Richtung Osten, wo es bereits bald wieder in vollem Glanz die ganze Natur begrüßen wird. Kennst Du die Hand, die die Sonne in Empfang nimmt und sie zu Bett bringt, wenn sie ihre Reise vollendet hat? Kennst Du die Hand, die ihre Glut wieder neu entfacht und sie wieder auf die Reise entlang des Himmels schickt? Bei Großvater lebten zwei so treue Diener, denen ewige Jugend gegeben war, und als die Sonne am ersten Abend ihre Reise beendet hatte, sagte der Großvater zur Abenddämmerung: „In Deine Obhut, meine Tochter, übergebe ich die untergehende Sonne. Lösche sie aus und verstecke das Feuer, damit es keinen Schaden nehmen möge.“ Und als am anderen Morgen die Sonne ihre Reise wieder antreten musste, sagte er zur Morgenröte: „Mein Sohn, Deine Aufgabe ist es, das Feuer wieder zu entfachen und es für die nächste Reise vorzubereiten.“ Gewissenhaft erledigten die beiden ihre Pflichten und nicht an einem Tag verfehlte die Sonne ihren Bogen am Firmament. Und wenn sie sich im Winter am Rand des Himmels bewegt, geht sie abends früher aus und morgens beginnt sie ihre Reise später. Und wenn sie im Frühling die Blumen aufweckt und im Sommer die Früchte mit ihren warmen Strahlen reifen lässt, dann ist ihr nur eine kurze Pause vergönnt und die Abenddämmerung übergibt die Glut geradewegs der Morgenröte, die sie sofort wieder zu neuem Leben erweckt. Und als nun diese schöne Zeit begonnen hatte, in der die Blumen blühen und duften und Menschen und Vögel das Gewölbe von Ilmarinen mit ihren Liedern erfüllen, da schauten sich die beiden zu tief in ihre dunkel funkelnden Augen. Und als die erloschene Sonne aus der Hand der Abenddämmerung in die Hand der Morgenröte glitt, geschah es, dass sich Hände und Lippen leicht berührten. Aber die Augen, die nie geschlossen sind, hatten bemerkt, was in stiller Heimlichkeit um Mitternacht entstanden war und am nächsten Morgen rief der Großvater beide zu sich und sagte: „Ich bin zufrieden damit, wie ihr Eure Pflichten erfüllt und ich will, dass Ihr rundum glücklich werdet. So möget Ihr zusammengehören und Eure Aufgaben von nun an als Mann und Frau erfüllen.“ Doch die beiden antworteten wie aus einem Mund: „Großvater, verdirb uns nicht unser Glück, sondern lass uns für immer Braut und Bräutigam bleiben, denn in der Zeit der Verlobung, in der die Liebe jung und zart ist, haben wir unser Glück gefunden.“ Und Großvater erfüllte ihre Bitte und erteilte der Entscheidung seinen Segen. So treffen sich die beiden nur ein Mal im Jahr für die Zeit von vier Wochen um Mitternacht, und wenn Hämarik die erloschene Sonne in die Hände ihres Liebsten legt, folgt dem ein sanfter Händedruck und ein Kuss und Hämariks Wangen färben den Himmel rosenrot, bis Koit den Feuerball wieder anzündet und der ferne goldene Schimmer die wieder aufgehende Sonne ankündigt. Bis heute schmückt Großvater zur Feier ihrer Zusammenkunft die Felder mit den schönsten Blumen und die Nachtigallen rufen Hämarik, die nicht von Koits Wange weichen möchte, fröhlich zu: „Du Mädchen der Muße! Oh lange Nacht!““
Anmerkungen:
Niedergeschrieben hat das Märchen von Koit und Hämarik der Arzt und Philologe Friedrich Robert Faehlmann (1798 – 1850). Er sammelte estnisches Volksgut und leistete auch die Vorarbeit für das Nationalepos „Kalevipoeg“, das von Friedrich Reinhold Kreutzwald herausgegeben wurde. „Ilmarinen“ ist in der finnischen Mythologie ein Schmied, der einem Feuergott ähnelt. Das Märchen habe ich mit Hilfe meiner „Estnischlehrerin“ Eva auf Basis des Textes in der estnischen Wikipedia übersetzt und nacherzählt. (Danke, Eva!)
Dienstag, 21. Juni 2011
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