Mittwoch, 15. Juni 2011

Gestern

Gestern war der 70. Jahrestag der Juni-Deportation. Die Flaggen waren auf Halbmast gesetzt oder mit Trauerflor versehen. In der Nacht vom 13. zum 14. Juni 1941 rollten in Estland, Lettland, Litauen, der Bukowina und Bessarabien die ersten sowjetischen Massendeportationen an. Auch in Riga waren die Flaggen auf Halbmast gesetzt, das haben mir meine Eltern erzählt, die gestern von Riga nach Tallinn gekommen sind.

Die Verhaftungen in Tallinn begannen gegen ein Uhr in der Nacht, den Menschen blieb eine Stunde Zeit, um einige Sachen zu packen, am Bahnhof in Kopli standen die Viehwaggons bereit. Bis Anfang Juli wurden rund 10.700 Menschen aus Estland ins Innere der Sowjetunion transportiert.

Auf dem Freiheitsplatz (vabaduse väljak) standen gestern ein Eisenbahnwaggon und ein Lkw. Leider habe ich kein Foto von dem Waggon gemacht, da ich gestern ohne Kamera von einem Termin zum nächsten gehetzt bin. Aber es geht ja nicht um das Foto, sondern um den Moment.

Es gab diesen Moment des Innehaltens, des Schauderns und Trauerns. Der Eisenbahnwaggon stand so unvermittelt auf dem Freiheitsplatz. Ich war auch am Tag zuvor dort gewesen und dann gestern recht früh morgens dort unterwegs, und so war der Wagen tatsächlich über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht. Aus dem Waggon waren Stimmen zu hören. Und die Passanten gingen nicht vorbei, sondern änderten sogar ihren Weg über den Platz, um am Waggon stehenzubleiben. Sie lasen die Infotafeln, sie legten Sommerblumen nieder, sie diskutierten. Auch ich habe eine Blume gekauft und hingelegt, vorsichtig.

Heute ist der Waggon wieder weg.

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