Im Stadtmuseum in Tallinn werden den Besuchern, didaktisch geschickt, auf großen Tafeln Fragen gestellt und durch die passenden Exponate beantwortet. Eine davon lautet: „Haben weltbekannte Menschen in Estland gelebt?“ Ich hätte sie vor einigen Monaten nicht beantworten können.
Dabei kannte ich schon als Kind eine berühmte Estin: Ilon Wikland, die Frau, die all meinen Helden ihre stupsnasigen Gesichter verpasst hat. Madita, Ronja Räubertochter, den Kindern von Bullerbü, den Brüdern Löwenherz und Lotta aus der Krachmacherstraße … Die Illustratorin kam 1930 in Tartu zur Welt und weil sie als Mädchen mehrere Jahre in Haapsalu bei ihren Großeltern lebte, wurde dort 2006 ein Museum („Ilons Wunderwelt“) eröffnet. Ich habe es mir angeschaut und nun eine Ahnung, warum Ilon Wikland so malt, wie sie malt.
Weil ihre Eltern immer so schrecklich beschäftigt waren, lebte Ilon Wikland die ersten drei Jahre ihres Lebens bei den Großeltern in Tartu. Als der geistig behinderte Onkel dort mit der Pistole herumschoss und eine Kugel die kleine Ilon an der Schulter streifte, holten ihre Eltern sie zu sich nach Tallinn. Dort war Ilon ziemlich oft allein. Das hatte zwar auch Vorteile, zum Beispiel den, dass man sich hauptsächlich von Schokoladenkuchen ernähren konnte, doch im Geheimen schwor sich das Mädchen damals, später eine bessere Mutter zu werden als ihre eigene.
Als ihre Mutter beruflich nach Italien ging, wurde Ilon, die damals acht Jahre alt war, zu ihren Großeltern nach Haapsalu gebracht. Dort in der Kleinstadt fühlte sie sich geborgen, sie spielte mit ihren Freunden am Strand, die Großeltern passten auf sie auf und ihr Hund war auch immer dabei.
Weil die Eltern sich scheiden ließen und weiterhin in der Weltgeschichte unterwegs waren, blieb Ilon dort, bis sich abzeichnete, dass die Sowjetunion Estland erneut besetzen würde. Dann, im Herbst 1944, schickten die Großeltern die 14-jährige Enkelin nach Schweden. Bei der Überfahrt geriet das Flüchtlingsschiff in einen Sturm, Ilon dachte, sie würden alle umkommen. Aber irgendwann erreichten sie die Schären vor Stockholm und Ilon nahm sich vor, so schnell wie möglich eine Schwedin zu werden.
Sie kam bei Verwandten unter, lernte die Sprache mühelos, ging auf die Kunstschule und als junge Mutter, die nach der Geburt des ersten Kinds endlich wieder zeichnen wollte, traf sie auf Astrid Lindgren, die gerade einen Illustrator für „Mio mein Mio“ suchte. Eine lange, inspirierende und vertrauensvolle Zusammenarbeit begann.
Nach Haapsalu kehrte Ilon Wikland zusammen mit Astrid Lindgren im Jahr 1989 zurück. Dass dies nochmal möglich werden würde, hatte sie eigentlich nicht mehr geglaubt. Als sie vor den Ruinen der Bischofsburg stand, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Nach und nach wurde ihr klar, dass in ihrer Seele all die Jahre auch ganz viel Estnisches gesteckt hatte.
Nachdem ich das wusste, entdeckte ich auf Ilon Wiklands Bildern Kleinigkeiten, die ich so ähnlich in den letzten Monaten fotografiert habe: Blühende Kastanienbäume, Rauchschwalben und einen Fliederzweig auf dem Fensterbrett.
Auch Tallinn hat Ilon Wikland gemalt – auf zwei Bildern zu dem Buch „Mein unglaublicher erster Schultag“ („Sammeli, Epp och jag“). Auf dem ersten rennt die Mama mit ihrer Tochter den Domberg hoch, weil sie am ersten Schultag zu spät dran sind. Auf dem zweiten vertreiben sich zwei Freundinnen auf dem Rathausplatz die Zeit.
Und die Mattisburg von Ronja Räubertochter hat Ilon Wikland keiner anderen Burg nachempfunden als der Bischofsburg von Haapsalu.
Sonntag, 21. August 2011
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
3 Kommentar(e):
Sehr schön erzählt! ich finde, sie schreiben überhaupt sehr schön. Lebendig, bildhaft und aktuell! Es wird mir zu Gewohnheit in Ihren Blog zu schauen Grüße von Karin Frucht
Ich habe noch ein weiteres Bild von Ilon Wikland entdeckt, auf dem der estnische Einfluss zu erkennen ist. Das Bild zeigt den Bahnhof Haapsalus. Jeder der mir das nicht glauben will ;-), soll sich selbst überzeugen:
http://www.ilonart.ee/index.php?main=8&lang=eng&pid=14
Aber auch all denjenigen, die an meiner Aussage keine Zweifel haben, empfehle ich einen Blick auf die Seite. Es gibt zahlreiche schöne Bildler zu sehen.
Sozusagen auch ein Kommentar zu diesem Post ist übrigens der Brief von Frank von Auer an mich, der hier zu finden ist:
http://stadtschreiber-tallinn.blogspot.com/p/post-aus-und-nach-mainz.html
Kommentar veröffentlichen