Inmitten der Altstadt lässt sich das Meer vergessen. Die Speicherhäuser stehen stumm da, die Türen zu den Lagern bleiben geschlossen, an den Aufzügen werden keine Lasten mehr hochgezogen. Nur die Möwen, die zwischen den Kirchturmspitzen hin und her fliegen, erzählen davon, dass Tallin Hansestadt war, noch heute Hafenstadt ist.
Früher stieß Tallinn direkt hinter der Großen Strandpforte ans Meer. Am nördlichen Ende der Stadt bildete sie zusammen mit der „Dicken Margarete“ das Bollwerk für den Hafen. Bei Sturm, so ist es in den Ratsprotokollen festgehalten, klatschten die Wellen ans Tor. Im Laufe der Jahrhunderte verlandete die Gegend, wo einst Schiffe ankerten, lenkt heute eine sechsspurige Straße den Verkehr um die Stadt.
Jenseits davon soll der neu geschaffene Kulturkilometer die Bewohner Tallinns wieder ans Meer führen. Auf einer stillgelegten Eisenbahnstrecke zieht er sich durch ehemaliges sowjetisches Sperrgebiet vom Fährhafen zur alten Vorstadt Fischermaie. Industriebrache formt die Küste: Lagerhallen, verfallene Mauern, ausrangierte Schiffe. Aber ja, es ist Meer. Menschen sitzen auf Stufen und starren hinaus. Ein Kind sammelt Steine. Männer haben ihre Angeln ausgelegt.
Weiter östlich liegt der Fährhafen. Hinter den Verwaltungsgebäuden des Terminals sind die großen Schiffe kaum auszumachen. Es ist Nachmittag und kaum etwas los, ein paar müde Menschen mit Ziehköfferchen inspizieren das Warenangebot in einer kleinen Markthalle. Ich überquere wieder die Straße. Als wäre das der Beweis, signalisieren die Schilder: Die Wege aus Tallinn führen nach Tartu, Pärnu, Narva. Und nach Stockholm und Helsinki. Dann trete ich durch die Große Strandpforte zurück in die Stadt.
Dienstag, 10. Mai 2011
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