An der Gabelung Pikk – Pühavaimu (Lange Straße - Heiliggeiststraße) steht ein stolzes Haus. Die Fassade ist in hellem Ocker getüncht, weiße Bögen überspannen die Fenster, den Abschluss bildet ein geschwungener Giebel. Über eine kleine Treppe erreicht man das Erdgeschoss und tritt ein in die „Martsipanituba“ – die Marzipanstube, die zur Firma Kalev gehört. Rechts hinter der Vitrine werden edle Pralinen zum Verkauf angeboten. Links sitzt Külli Mihkla und bemalt mit engelsgleicher Geduld und ruhiger Hand Marzipanfigürchen.
Külli ist ausgebildete Grafikerin und hat viele lange Jahre Gebrauchsgrafik gestaltet. Als der Computer ihren Berufsalltag zunehmend dominierte, kehrte sie der modernen Technik den Rücken und tauschte die Maus wieder gegen den Pinsel ein. Eine Zeit lang arbeitete sie als Porzellanmalerin, seit acht Jahren tunkt sie den Pinsel in Lebensmittelfarbe und verpasst jeden Tag vielen kleinen Tieren niedliche Gesichter. Hunde, Affen, Katzen, Vögel, Fische, Schildkröten – in den Schaufenstern ist fast die gesamte Tierwelt vertreten.
Die meisten der rund 200 Formen, mit denen die süße Mandelmasse zu niedlichen Figuren verarbeitet wird, sind Originale aus dem 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit gehörte das Haus der deutschbaltischen Familie Stude, die mit der Marzipanherstellung in der Pikk-Straße eine echte Erfolgsgeschichte schrieb. Die edlen Kreationen waren so berühmt, dass sie einst bis an den Hof des Zaren in St. Petersburg geliefert wurden. Sein Ende nahm dieser Teil der Geschichte 1939 mit der „Umsiedlung“ der Deutschbalten, als auch der damalige Geschäftsinhaber Alexander Reinhold Stude Estland verließ.
Otto Kubo ist 79 und auch im Ruhestand die gute Seele der Marzipanstube. Vor 56 Jahren hat er als Chemiker bei Kalev angefangen, war dann mehr als 30 Jahre Leiter des Zentrallaboratoriums, später Assistent der Geschäftsführung für internationale Beziehungen. Die Firma Kalev, die seit 1948 so heißt, war 1940 entstanden, als das Geschäft in der Pikk-Straße und mehrere andere Konditoreien und Süßwarenhersteller zusammengeschlossen und verstaatlicht wurden.
Otto Kubo spricht fließend Deutsch, er drückt sich sehr gewählt aus und nimmt sich die Zeit, nach den richtigen Ausdrücken zu suchen. Als kleiner Junge hat er die Sprache von seiner Großmutter gelernt, die aus einer deutschbaltisch-schwedischen Familie stammte. So freut sich Otto besonders, wenn sich deutschsprachige Gäste für die Geheimnisse des Marzipans interessieren. Dann tritt er aus dem hinteren Zimmer in den Verkaufsraum und erklärt die Schätze, die er im Lauf der Jahre zusammengetragen hat: Alte Werbeanzeigen aus den Revalschen Wöchentlichen Nachrichten, ein Marzipanpüppchen, das ein Bräutigam seiner Angetrauten im Jahr 1935 zur Hochzeit schenkte, eine Aufnahme des Ladens aus dem Jahr 1924, die die stolze Familie Stude mit Kunden und Personal beim Firmenjubiläum zeigt.
Seine deutschen Vorgänger in der Marzipanstube hat Otto Kubo nicht mehr kennen gelernt, dazu war er in den 1930er Jahren zu klein. Aber wohl erinnert er sich an das Café, das heute noch den gleichen Namen wie einst trägt, Maiasmokk, Leckermaul, und an dessen schmackhafte Kuchen. Unvergessen sind die Schaufensterauslagen, sie waren die schönsten in der ganzen Stadt. Besonders zur Weihnachtszeit hat sich der kleine Otto die Nase an den Fenstern platt gedrückt, denn was es dann hinter den Scheiben zu sehen gab, war ganz und gar zauberhaft: Schneewittchen und die sieben Zwerge, Dornröschen, Wichtel und Weihnachtsmänner und ganze Herden von Rentieren.
Sonntag, 19. Juni 2011
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2 Kommentar(e):
Und wieder fügen sich Mosaiksteinchen zusammen: Das Café Stude - Maiasmokk war auch einer der liebsten Treffpunkte von Britta von Auer und ihrem Verlobten.
"Maiasmokk" heißt übrigens "Feinschmecker" oder "Leckermaul".
Und da meine Schwester heute Geburtstag hat, geht es am Nachmittag auch für meinen Besuch und mich in das Café.
Oh, ich würde mir gerne heute Nachmittag ein gemütliches Kaffeestündchen am Sonntag machen. Allerdings werde ich wohl nur Latte Macchiato trinken und einen Keks oder ein Stück alten Kuchen essen. Denn der Weg in die "Lange Straße in Tallinn" ist für mich zu weit.
Doch eins kann ich dennoch berichten:
Das Marzipan aus der Martsipanituba ist nicht nur hübsch anzusehen, es schmeckt auch sehr gut. Ich hatte das Glück schon welches probieren zu dürfen. Das Orangenmarzipan in einer Paraline beispielsweise war im Aroma zart und blumig. All denjenigen, die die Möglichkeit haben, kann ich nur Raten sich von der Köstlichkeit selbst zu überzeugen!
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