Donnerstag, 19. Mai 2011

Alles in Kalamaja

Kalamaja – das ist die alte Vorstadt Fischermaie (Estnisch: kala = Fisch, maja = Haus). Sie entstand wahrscheinlich im 13. Jahrhundert. Westlich des Hafens lebten hier nicht nur Fischer, sondern auch Matrosen, Lotsen, Fuhr- und Karrleute. Wer mit dem Schiff nach Reval kam, setzte seinen Fuß zuerst in diese Siedlung, Wirtshäuser und Bordelle warteten auf die Gäste.

Kalamaja – das ist alles gleichzeitig: Aufwändig restaurierte Häuser, wunderschöne Holzarchitektur. Armselige Baracken, verfallene Mauern. Liebevoll gestaltete Gärten, Primeln neben dem Gehsteig, Johannisbeersträucher. Pastellgelb, Hellblau, Schwedischrot, Lindgrün und Braun und Grau. Jugendstil und Funktionalismus. Ein alter Friedhof ohne Grabsteine, sie wurden zu Sowjetzeiten entfernt. Als Erinnerung an diese Zeit auch Gebäude im Zuckerbäckerstil, ein pompöses Kulturzentrum. Konzerte. Ein Montessori-Kindergarten, Edelrestaurants und Designerläden. Und kleine Kioske an der Trambahnhaltestelle. Der Geruch von Holzfeuer und frisch gemähtem Gras. Heimat der Bohème, hier trinkt man Tee, nicht Kaffee. Alte Räucheröfen, Schornsteine, eine verlassene Werft. Der Kulturkilometer, begeistert genutzt von Radlern und Spaziergängern. Grüne Wiesen zum Picknickmachen, Hunde an der Leine, singende Vögel.

Kalamaja – das ist in diesen Tagen mein Lieblingsstadtviertel.

Montag, 16. Mai 2011

Lieblingswöörter - Folge I

Estnisch gehört nicht zu den Sprachen, die für deutsche Muttersprachler leicht zu erlernen sind. Das liegt zum Beispiel an den 14 Fällen, den verschiedenen Formen für den Infinitiv und am Vokalreichtum. (Einschub: Estnisch ist als finno-ugrische Sprache eng mit dem Finnischen und entfernter mit dem Ungarischen verwandt.)

Beim Vokabellernen können deutsche Muttersprachler allerdings nicht wirklich klagen. Denn die deutschen Lehnwörter, die sich im Lauf der Jahrhunderte in der estnischen Sprache angesammelt haben, sind zahlreich. Diese nach und nach zu entdecken, macht Spaß und motiviert. Fast ist es, als ob die Sprache durch diese Wörter sagen würde: Lern mich!

Also gut: Reise heißt reis, Apotheke apteek, Treppe trepp. Bei Wörtern, die mit dem Laut „sch“ beginnen, wird dieser einfach weggelassen, zischen mögen die Esten nicht. Tund heißt Stunde, tuba Stube, pekk Speck. Und der Schlossplatz wird zum Lossi plats.

Ein Z gibt es im estnischen Alphabet ebenfalls nicht. In der Tat ist dieses eigentlich ein überflüssiger Buchstabe, wie man merkt, wenn man der Reihe nach liest: Politsei, residents und vürts. Vürts heißt Gewürz, wer das G geschluckt hat, weiß ich nicht.

Die eingesparten Buchstaben bieten Platz für viele ÖÖs und AAs: Mööbel, daatum, fotoaparaat. Wer sich dann noch um einen fränkischen Zungenschlag bemüht, P und T nicht zu hart ausspricht, versteht bereits eine ganze Menge: Pilt, tekk und prillid – ja?

Wenn ich Esten erzähle, dass mich solche Wörter schmunzeln lassen, verstehen sie das nicht: Wieso lustig? Man schreibt die Wörter einfach so, wie man sie spricht. Das ist richtig. Eben deshalb fühle ich mich manchmal an die Schreibversuche von sechsjährigen Kindern erinnert. Und das ist kein Tsufall.

Besonders schöne (deutsche und andere) Lehnwörter:





Freitag, 13. Mai 2011

Nachtrag zu: Sommerfrühling


Aufgenommen vor dem Kumu-Museum, als es am Himmel plötzlich laut wurde: Auch die Zugvögel kehren zurück.

Donnerstag, 12. Mai 2011

Musik am Morgen

Was mich in der Früh weckt, ist kein Klingeln, Rasseln oder Ringen. Es ist die estnische Nationalhymne. Jeden Morgen um sieben wird auf dem Langen Hermann die estnische Flagge gehisst. Dazu erklingt die Hymne: Mu isamaa, mu õnn ja rõõm. (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude.) Der Lange Hermann (Pikk Hermann) gehört zur Schlossanlage auf dem Domberg, die Sitz des Parlaments ist.

Die Melodie der Hymne hat Friedrich Pacius komponiert, der aus Hamburg stammte und die meiste Zeit seines Lebens in Finnland verbrachte. Zusammen mit dem Text des estnischen Publizisten Johann Voldemar Jannsen entstand ein Lied, das 1869 auf dem ersten nationalen Sängerfest in Tartu gesungen wurde. 1920 wurde es zur Hymne der Ersten Estnischen Republik.

Zu Sowjetzeiten war die Hymne verboten. Trotzdem bekamen viele Esten sie täglich zu hören. Im Norden des Landes konnte man den finnischen Rundfunk empfangen und dort ertönte die Melodie jeden Abend vor Sendeschluss. Denn auch die finnische Nationalhymne wird – mit einem eigenen Text – zur Komposition von Pacius gesungen.

Mit der Singenden Revolution kehrte die estnische Hymne in die Öffentlichkeit zurück – so wie die blau-schwarz-weiße Trikolore. Bereits 1989, zwei Jahre vor der tatsächlichen Unabhängigkeit Estlands, wehte sie oben auf dem Langen Hermann wieder im Wind.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Tramm (estn. Straßenbahn)

Das mit der Straßenbahn, das funktioniert hier so: Die Fahrgäste warten brav auf dem Gehsteig. Die Tram fährt in der Mitte einer mehrspurigen Straße. Die Haltestelle wird durch ein entsprechendes Hinweisschild auf dem Gehsteig markiert. Wenn die Tram in etwa die Höhe des Schildes erreicht hat, hält sie an. Die Menschen laufen los, über zwei Spuren der Straße hinweg, zwischen den Autos hindurch, die dann doch anhalten, und landen am Ende irgendwie wohlbehalten an den Türen. Sie steigen ein, die Türen schließen, die Straßenbahn fährt weiter.

Sommerfrühling


Aufgenommen im Harjumägi-Park unterhalb des Dombergs (Toompea): Damit keiner mehr glauben muss, ich laufe mit Mütze und Handschuhen durch die Gegend. Das ist lange vorbei, das war letzte Woche. Der Himmel ist seit Tagen wolkenlos, die Bäume werden immer grüner und die Menschen tanken: Sonne! Seit heute ist: Sommerfrühling.

Dienstag, 10. Mai 2011

Ans Meer

Inmitten der Altstadt lässt sich das Meer vergessen. Die Speicherhäuser stehen stumm da, die Türen zu den Lagern bleiben geschlossen, an den Aufzügen werden keine Lasten mehr hochgezogen. Nur die Möwen, die zwischen den Kirchturmspitzen hin und her fliegen, erzählen davon, dass Tallin Hansestadt war, noch heute Hafenstadt ist.

Früher stieß Tallinn direkt hinter der Großen Strandpforte ans Meer. Am nördlichen Ende der Stadt bildete sie zusammen mit der „Dicken Margarete“ das Bollwerk für den Hafen. Bei Sturm, so ist es in den Ratsprotokollen festgehalten, klatschten die Wellen ans Tor. Im Laufe der Jahrhunderte verlandete die Gegend, wo einst Schiffe ankerten, lenkt heute eine sechsspurige Straße den Verkehr um die Stadt.

Jenseits davon soll der neu geschaffene Kulturkilometer die Bewohner Tallinns wieder ans Meer führen. Auf einer stillgelegten Eisenbahnstrecke zieht er sich durch ehemaliges sowjetisches Sperrgebiet vom Fährhafen zur alten Vorstadt Fischermaie. Industriebrache formt die Küste: Lagerhallen, verfallene Mauern, ausrangierte Schiffe. Aber ja, es ist Meer. Menschen sitzen auf Stufen und starren hinaus. Ein Kind sammelt Steine. Männer haben ihre Angeln ausgelegt.

Weiter östlich liegt der Fährhafen. Hinter den Verwaltungsgebäuden des Terminals sind die großen Schiffe kaum auszumachen. Es ist Nachmittag und kaum etwas los, ein paar müde Menschen mit Ziehköfferchen inspizieren das Warenangebot in einer kleinen Markthalle. Ich überquere wieder die Straße. Als wäre das der Beweis, signalisieren die Schilder: Die Wege aus Tallinn führen nach Tartu, Pärnu, Narva. Und nach Stockholm und Helsinki. Dann trete ich durch die Große Strandpforte zurück in die Stadt.