Sonntag, 4. September 2011

Ein Fest in der Neuen Welt



Ein großartiges Straßenfest findet an diesem Wochenende im Stadtteil Uus Maailm statt. Das Viertel heißt tatsächlich so, „Neue Welt“, da war keine PR-Agentur am Werk. Wahrscheinlich geht der Name zurück auf das Gasthaus „America“, das es dort gab und das im 18. und 19. Jahrhundert einen legendären Ruf genoss. Als während des industriellen Aufschwungs der Stadt mit einer intensiven Bebauung des Viertels begonnen wurde, bürgerte sich die Bezeichnung „Neue Welt“ ein und manche Straßen tragen sogar passende Namen wie „Großamerika“ und „Kleinamerika“ und „Saturnstraße“.

Durch diese Straßen zieht zur Einstimmung auf das Fest lautstark eine Parade. Ein Typ auf einem selbstgebauten Hochrad vorweg, danach die Bläser mit „Oh, when the Saints go marching in“, ihnen hinterher lauter Menschen mit bunten Hüten, junge, alte, flippige und unscheinbare, stolze Eltern mit Buggy, die Oma nebenher. Tagelang müssen die Nachbarn gebacken und gekocht haben, nun bieten sie all die Kuchen und Suppen und Gemüsequiches in ihren Hinterhöfen und Gärten an, auf Autostellplätzen und Grünstreifen. Auf Picknickdecken und Bierbänken gibt es staubige Schuhe und alte LPs zu erwerben, selbst gemachte Ohrringe und Pralinen, Äpfel aus dem Garten und Marmeladen. Auf zwei Bühnen spielen Bands und die Sonne strahlt zwischen den Herbstwolken hindurch und auf die Regenschirme, die am Hauptplatz zwischen den Stromleitungen aufgehängt sind.


Ein bisschen Wehmut verspürt der eine oder andere Besucher und vor allem Organisator des Fests. Denn das Herz des Viertels, der Ort, an dem in den vergangenen Jahren die meisten Ideen entstanden sind und gemeinsam verwirklicht wurden, ist das „community house“ in der Koidu-Straße. Ein gelbes Holzhaus, nicht mehr in allerbestem Zustand, in dem meistens um die zehn Personen gemeinsam wohnten, kaum Miete zahlten und die meisten Ausgaben aus der Gemeinschaftskasse bestritten. Couchsurfer und sonstige Bekannte kamen im Dachgeschoss unter und so war stets dafür gesorgt, dass in der Küche genug junge und lustige Leute aufeinandertrafen. Nun schließt das Haus zum 12. September. Die letzten Winter waren ziemlich kalt, die Miete ist gestiegen und manche Hausbewohner sind vielleicht auch ein bisschen zu erwachsen geworden. Das Fest aber soll und wird nächstes Jahr wieder stattfinden, da sind sich alle sicher.

Nicht nur, weil ich auf dem Fest war, sondern überhaupt werde ich viele Erinnerungen an interessante und starke Menschen mit nach Hause nehmen. Manche habe ich etwas genauer kennengelernt, manche nur flüchtig, bei vielen male ich mir mehr über ihr Leben aus als ich tatsächlich wüsste. Die Menschen, an die ich hoffentlich denken werde, das sind Menschen, die in ihrem Leben nach Aufgaben suchen. Die sie oft gefunden haben. Aber auch die, die suchen. Zur Suche stehen und nicht behaupten, alles schon entdeckt zu haben, das zeugt doch von Charakter. Das sind Menschen, die sich für etwas einsetzen, die etwas auf die Beine stellen, die etwas wagen, auch wenn es keinen finanziellen Gewinn zu holen gibt oder noch nicht sicher ist, ob sich die Mühe am Ende auch rentieren wird. Die einen wirken im großen Rahmen, die anderen im kleinen, aber alle immer auch jenseits des eigenen Sofas. Ich denke hoffentlich noch oft an diese Menschen, die Ideen haben, die ausprobieren und die wiederum andere Menschen zusammenbringen. Menschen, die aus der ganzen Vielzahl von Lebensentwürfen, die heute möglich sind, mit voller Lust schöpfen.



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