Dienstag, 26. Juli 2011

Gut gegen Katzenjammer

Manchmal steht in diesen Tagen ein Geiger auf dem Beischlag vor dem Historischen Museum, das unweit der „Martsipanituba“ an der Gabelung Pikk – Pühavaimu zu finden ist. Nach Sonnenuntergang gibt er dort ein Konzert, ob für die Vorbeigehenden oder für seine Liebste weiß ich nicht genau. Auf jeden Fall steht etwas abseits von den Passanten immer eine junge Frau, die ihn unverwandt betrachtet.

Den Platz hätte der Geiger nicht besser wählen können. Die erhöhte Position oberhalb der Stufen entbehrt einer gewissen Theatralik nicht und die Giebel der Häuser fangen die Töne zunächst ein und lassen sie erst einen Moment später zum Abendhimmel emporsteigen. So habe ich mich gerne auf die Gehsteigkante gesetzt und zugehört.

Ich habe eine Freundin in Paris. Sie sagt, wenn sie „Katzenjammer“ verspürt, dann geht sie durch die Stadt und die zaubert ihn weg. Tallinn kann das auch. Freimütig gibt die Stadt, was sie eben gerade hat, ohne im Gegenzug etwas dafür zu fordern. Abwechslung, Zerstreuung, schöne Momente, skurrile Momente, Momente, die einen zum Lachen bringen … Jeder kann davon nehmen, ganz ohne Verpflichtung. Wer will, bleibt stehen, wer nicht will, geht weiter.

Ich verweile oft, ich mag das, dass ich Leute ein bisschen kenne, weil sie mir auf meinen Alltagswegen begegnen: Die Gitarrenspieler, die sich in wechselnden Paarungen zusammentun und auf dem Mauervorsprung im Lühike Jalg musizieren. Den Blues-Sänger an der Ecke vom Pikk Jalg, der mit seiner Stimme ganz wunderbar eine E-Gitarre imitieren kann. Die Maler auf ihren Klapphöckern zwischen den hohen Linden vor der Nikolaikirche. Und meinetwegen sogar die Hare-Krishna-Anhänger in ihren pastellfarbenen Gewändern, die täglich am späten Nachmittag tanzend vor meinem Fenster vorbeiziehen.


Das ist nicht typisch Tallinn, das könnte ich so ähnlich auch in anderen Städten erleben, aber hier habe ich die Zeit und den Sinn dafür und ich genieße das. Stadt, nicht Land. Verbundenheit in der Anonymität, Teil des Stadtgewebes sein, da sein dürfen und wieder weggehen dürfen. (Und ja, im Unterschied zum Land oder zur Landschaft: Nicht so sich selbst ausgesetzt sein.)

6 Kommentar(e):

Anonym hat gesagt…

Ich war ja auch für einige Zeit in Tallinn. Und mir wird immer klarer, obwohl seit dem Urlaub schon einige Wochen vergangen sind, dass Tallinn eine so besondere Stadt ist. Was das besondere an Tallinn ist? Dass man nicht immer gleich alles entdeckt, man sieht es zwar, aber das heißt noch lange nicht, dass man es wahrgenommen hat. Auch das wird ja an diesem tollen Blog deutlich. Und oft kann man sich an solchen unerwarteten Momenten am meisten freuen.
Beispielsweise die Hare-Krishna- Sänger. Ich habe sie zweimal von meinem Fenster gesehen. Erst habe ich mir gedacht, dass das fröhliche und vor allem ungehemmte Singen ein bisschen komisch ist. Aber jetzt, wieder zuhause in Deutschland, wünsche ich mir oft, irgendwelche Sänger zu sehen, egal ob sie schön oder lustig ;) singen, betrachten zu können.
Und das ist schade, denn hier wird meiner Meinung nach einem gar nicht die Möglichkeit geboten, stehen zu bleiben und zu lauschen. Vielleicht sollte man einfach rausgehen und laut singen, denn Singen kann so schön und befreiend wirken. Aber wer traut sich das schon…

Nicoletta hat gesagt…

Die Steinplatte mit dem runden Ornament ist vermutlich die Front des Beischlags. Aber was ist ein Beischlag? Und was sieht man, wenn man hinter die Steinplatte schaut? Ist ein Beischlag typischerweise vor einem Museum?

Anonym hat gesagt…

Hello Sarah,

Very nice article, thank you.
I am a friend of the violinist of whom you write. His name is Sebastian Wesman and he is an Argentine composer who lives in Tallinn. Currently he is making a compositional work of experimenting with different spaces. Until the end of August he will be doing it in some places in the old town of Tallinn. Here you can see more information www.sebastianwesman.com

Sarah Jana Portner hat gesagt…

Hallo Nicoletta:

Ein Beischlag ist eine repräsentative Mischung aus Balkon und Treppe vor dem Eingang zu einem Haus.

Wikipedia sagt mir, dass Beischläge vor allem im Ostseeraum verbreitet sind. Dort dienten sie ursprünglich wohl auch als Schutz vor Überschwemmungen.

Eine Straße, in der sich Beischlag an Beischlag reiht, ist die Frauengasse (ul. Mariacka) in Danzig. So, wie ich mir das damals gemerkt habe, saßen die Herrschaften besonders an Sonntagen gerne auf den Bänken ihrer Beischläge und haben geratscht und die Nachbarn gegrüßt und geschaut, was auf der Straße geschieht.

Hinter der Steinplatte sieht man eben diese Bänke. Und vielleicht eine Taube ...

(Meine Vorvorgängerin in Danzig hat nichts zu Beischlägen geschrieben, sonst hätte ich das hier verlinkt.)

Sarah Jana Portner hat gesagt…

Hello Anonym II:

Thanks for this hint, I didn't know. So it could happen that I come upon Sebastian Wesman at another place, too. Looking forward to it ... I'd like to know what experience of space this composer has made at the crotch of Pikk and Pühavaimu.

Sarah Jana Portner hat gesagt…

Hallo Anonym I:

Schön, dass Dir mein Blog die Augen für Manches öffnet, was Du zwar gesehen, aber noch nicht wirklich wahrgenommen hast.

Und wenn Du Lust hast, auf der Straße zu singen: Warum nicht? Vielleicht triffst Du ja auf einen Geiger, der Dich begleitet ...

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