Dienstag, 20. September 2011

Lektüre für Tänzer

Der Herbst zieht ins Land, es ist kalt und windig und fast würde ich mich mit einem Buch in einem Berg Kissen vergraben und sieben Tage lang lesen. Zumindest für eine kurze Leseprobe möchte ich mir heute Abend die Zeit nehmen:

Mein Lieber, setze dich zu mir. […] Ich möchte dir ein paar Geschichten erzählen: Geschichten aus einer alten Stadt hoch droben im Norden, hoch droben im Osten, einer Stadt am Meer. Aber es sind nicht Geschichten von dieser Stadt: es sind Geschichten von ihren Toten.

So beginnt Werner Bergengruen sein Buch „Der Tod von Reval“. Er oder eben der Erzähler schnappt sich an einem ungemütlichen Herbstabend sein Gegenüber in der Kneipe und tischt diesem allerlei Schelmengeschichten rund ums Sterben auf. Sie sind durchweg makaber und oft ziemlich heiter. Da legt man den Verstorbenen schon mal in Branntwein ein, da wird eine Herberge für Scheintote eröffnet und da flüchtet ein Trunkenbold, der einer Schlägerei davonläuft, zu einer Toten ins Bett.

Dem ganzen Buch vorangestellt sind zwei Zitate aus dem Text von Notkes Totentanz. Wenn man also Bergengruens Geschichten als Antwort auf dieses Gemälde verstehen möchte, kann man sie so deuten, dass sie den Menschen die Angst vor dem Tod dadurch zu nehmen versuchen, dass sie ihn relativieren. Wo sich die Teilnehmer von Notkes Totentanz so schrecklich fürchten, setzt Bergengruen dem eine kräftige Prise skurille Komik entgegen. Mitunter klappt das ganz gut.

Viel stärker als all die denkwürdigen Schelmengeschichten ist mir allerdings die folgende Passage aus der Einleitung in Erinnerung geblieben. Denn ich glaube, die ruhige Ehrfurcht, die ich verspüre, wenn ich durch Tallinn laufe, hat manchmal auch mit diesem Gedanken zu tun:

Alle alten Städte sind Nekropolen. Dies wenigstens haben sie voraus vor den jungen, den überwachen, den hurtig zur Höhe gewachsenen: Das Volk ihrer Toten ist unzählbar. Eine alte Stadt mag Menschen haben, soviel sie will; was ist die Menge derer, die sie bewohnen, vor der Menge derer, die sie bewohnt haben? Die in Häusern leben und über Straßen gehen, das sind ja die Wenigen; die Vielen aber wohnen in den grauen Kirchen und Gruftkapellen der Stadt unter den schweren, gemeißelten Grabplatten, unter dem Rasen der Friedhöfe vor ihren Toren, unter dem Steinpflaster ihrer Kirchenplätze. Die Lebenden sind ein Augenblick gleich der Gegenwart; die Toten aber sind die Unendlichkeit der Zeit und sind die Beständigen. Heute ist ihnen wie gestern und morgen, den Unterschied der Jahre kennen sie nicht, und sie sind in einer großen Gelassenheit.


Werner Bergengruen wurde 1892 in Riga geboren, ging in Lübeck und Marburg zur Schule, studierte in Marburg, München und Berlin und arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg vor allem als Journalist. Er starb 1964 in Baden-Baden. Die Zitate habe ich dem Buch „Der Tod von Reval“ entnommen, das im Jahr 2006 im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen ist.

1 Kommentar(e):

ristiema hat gesagt…

Das sind wieder einmal die Gedankenanreger, die ich so liebe und die ich bald wirklich vermissen werde:-((

Auch München ist doch eine alte Stadt und Hamburg und ein bischen alt ist auch Berlin, aber "ruhige Ehrfurcht" mag da nicht aufkommen, wenn man so durch die Srassen läuft. Denn diese Städte versuchen, sich ihre Toten vom Leib zu halten. Sie graben Tunnel, damit auch unterirdisch die "wenigen" schnell voran kommen, schon gehört auch die Erde nicht mehr der Vergangenheit!
Oberirdisch sind sie tatsächlich irgendwie überwach, emporwachsend.
Und "die Lebenden" feiern sich, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen.

Man muß ein bischen suchen, um Orte zu finden, an denen sich die Zeit ein wenig relativieren kann. Alte Friedhöfe vielleicht, mit großen Bäumen und verwitterten Grabsteinen im Schatten...

Am Rande noch ein Gedanke, der aber nur entfernt zum Thema passt, stand vor einiger Zeit in "Geo-Kompakt": Bei einigen Völkern liegt die Vergangenheit vor uns, weil wir ja auf das blicken können, was wir schon erlebt haben. Die Zukunft liegt hinter uns, weil sie ja noch kommt und wir nicht darauf blicken können.

Kommentar veröffentlichen