Sonntag, 4. September 2011

Ankündigung: Mein Fahrrad und ich im ZDF

Die Idee des ZDF, mich radelnd zu interviewen, hat mir gleich gefallen. Denn, wie die meisten Leser wohl erraten haben, entdecke ich Tallinn eben besonders gerne auf dem Fahrrad. Vor zwei Wochen bin ich also zusammen mit ZDF-Moderator Andreas Klinner am Kulturkilometer und auf der Halbinsel Paljassaare herum geradelt und habe nebenbei ein paar Fragen beantwortet. Das Ergebnis dieses sportlichen und durchaus vergnüglichen Drehs ist morgen (Montag) in einem Beitrag der Sendung „heute in europa“ zu sehen. Beginn ist um 16 Uhr, wer zu dieser Zeit nicht vor dem Fernseher sitzen kann oder will, findet die Sendung noch einige Wochen unter www.heuteineuropa.zdf.de.

Ein Fest in der Neuen Welt



Ein großartiges Straßenfest findet an diesem Wochenende im Stadtteil Uus Maailm statt. Das Viertel heißt tatsächlich so, „Neue Welt“, da war keine PR-Agentur am Werk. Wahrscheinlich geht der Name zurück auf das Gasthaus „America“, das es dort gab und das im 18. und 19. Jahrhundert einen legendären Ruf genoss. Als während des industriellen Aufschwungs der Stadt mit einer intensiven Bebauung des Viertels begonnen wurde, bürgerte sich die Bezeichnung „Neue Welt“ ein und manche Straßen tragen sogar passende Namen wie „Großamerika“ und „Kleinamerika“ und „Saturnstraße“.

Durch diese Straßen zieht zur Einstimmung auf das Fest lautstark eine Parade. Ein Typ auf einem selbstgebauten Hochrad vorweg, danach die Bläser mit „Oh, when the Saints go marching in“, ihnen hinterher lauter Menschen mit bunten Hüten, junge, alte, flippige und unscheinbare, stolze Eltern mit Buggy, die Oma nebenher. Tagelang müssen die Nachbarn gebacken und gekocht haben, nun bieten sie all die Kuchen und Suppen und Gemüsequiches in ihren Hinterhöfen und Gärten an, auf Autostellplätzen und Grünstreifen. Auf Picknickdecken und Bierbänken gibt es staubige Schuhe und alte LPs zu erwerben, selbst gemachte Ohrringe und Pralinen, Äpfel aus dem Garten und Marmeladen. Auf zwei Bühnen spielen Bands und die Sonne strahlt zwischen den Herbstwolken hindurch und auf die Regenschirme, die am Hauptplatz zwischen den Stromleitungen aufgehängt sind.


Ein bisschen Wehmut verspürt der eine oder andere Besucher und vor allem Organisator des Fests. Denn das Herz des Viertels, der Ort, an dem in den vergangenen Jahren die meisten Ideen entstanden sind und gemeinsam verwirklicht wurden, ist das „community house“ in der Koidu-Straße. Ein gelbes Holzhaus, nicht mehr in allerbestem Zustand, in dem meistens um die zehn Personen gemeinsam wohnten, kaum Miete zahlten und die meisten Ausgaben aus der Gemeinschaftskasse bestritten. Couchsurfer und sonstige Bekannte kamen im Dachgeschoss unter und so war stets dafür gesorgt, dass in der Küche genug junge und lustige Leute aufeinandertrafen. Nun schließt das Haus zum 12. September. Die letzten Winter waren ziemlich kalt, die Miete ist gestiegen und manche Hausbewohner sind vielleicht auch ein bisschen zu erwachsen geworden. Das Fest aber soll und wird nächstes Jahr wieder stattfinden, da sind sich alle sicher.

Nicht nur, weil ich auf dem Fest war, sondern überhaupt werde ich viele Erinnerungen an interessante und starke Menschen mit nach Hause nehmen. Manche habe ich etwas genauer kennengelernt, manche nur flüchtig, bei vielen male ich mir mehr über ihr Leben aus als ich tatsächlich wüsste. Die Menschen, an die ich hoffentlich denken werde, das sind Menschen, die in ihrem Leben nach Aufgaben suchen. Die sie oft gefunden haben. Aber auch die, die suchen. Zur Suche stehen und nicht behaupten, alles schon entdeckt zu haben, das zeugt doch von Charakter. Das sind Menschen, die sich für etwas einsetzen, die etwas auf die Beine stellen, die etwas wagen, auch wenn es keinen finanziellen Gewinn zu holen gibt oder noch nicht sicher ist, ob sich die Mühe am Ende auch rentieren wird. Die einen wirken im großen Rahmen, die anderen im kleinen, aber alle immer auch jenseits des eigenen Sofas. Ich denke hoffentlich noch oft an diese Menschen, die Ideen haben, die ausprobieren und die wiederum andere Menschen zusammenbringen. Menschen, die aus der ganzen Vielzahl von Lebensentwürfen, die heute möglich sind, mit voller Lust schöpfen.



Freitag, 2. September 2011

Nachtrag zu: Vollendungen


Aufgenommen am Nachbarstand der Blumenfrau (am Freiheitsplatz). Auch die Euro-Einführung in Estland ist noch nicht ganz abgeschlossen …

Donnerstag, 1. September 2011

Vollendungen

Jetzt ist es amtlich, beim Blick in den Kalender nicht zu übersehen: Der letzte Monat läuft. Ich bin ein wenig außer Atem und habe das Gefühl, dass ich mehr erlebe als ich mir unmittelbar merke und festhalten kann. Mein Alltag überholt sich immer wieder selbst und ich könnte in diesem letzten Monat noch gefühlte 73 Posts schreiben.

Vor vier Monaten fotografierte ich eine Frau, die die ersten Frühblüher zu kleinen Sträußchen zusammengebunden hatte. Ihre Hände steckten noch in dicken Fäustlingen, doch sie hatten Primeln, Buschwindröschen und Scillas gepflückt. Ich schrieb, dass das Kleid der Scilla die Farbe des Sommerhimmels ankündigt und nannte den Post „Erwartungen“.

Der Himmel war sehr oft sehr blau, das Wetter viel besser als in Deutschland und ich habe die Darbietung des Sommers so gebannt und aufmerksam verfolgt wie nie zuvor. Fast schon akribisch versuchte ich, mir die Abfolge seiner Auftritte zu merken: Vor einer Woche hat der Löwenzahn geblüht, jetzt duftet der Flieder, wann folgen die Rosen? Sicherlich entstand dieses Bedürfnis, die Jahreszeiten genau zu beobachten, durch die Verdichtung, die ein Sommer im Norden erfährt. Aber ich konnte es nur deshalb befriedigen, weil das Hinterland in Tallinn so präsent ist, viel stärker als in anderen Großstädten, die ich kenne. Auch wenn ich mich tagelang nur im Zentrum aufhielt, wusste ich, welche Blumen gerade am Wegrand wuchsen, welche Früchte auf den Feldern reiften, wann die Pilzsaison begonnen hat. Die Sträuße, die ich mir fast jede Woche für den Schreibtisch kaufte, das Obst auf dem Markt und die Gespräche der Menschen verrieten es mir.

Ich habe mich auch selten so auf den Herbst gefreut, wie in diesem Jahr. Ist der Herbst nicht das Versprechen von Vollendung? Begründet er nicht die Hoffnung, dass es gelingen kann, die Dinge rund zu machen? Ein Blumenstrauß Anfang September sieht ganz anders aus als ein Blumenstrauß Anfang Mai. Kräftiger, verschwenderischer, leuchtender. Noch ein ganzer Monat in Tallinn liegt vor mir und ich bin gespannt, auf das, was er bringen mag. Vielleicht sogar erwartungsvoll.


Dienstag, 30. August 2011

... dass das Feuer nie aufhört zu brennen


Am letzten Samstag im August entzünden die Menschen an der Ostseeküste Hunderte von Feuern, um gemeinsam den Sommer zu verabschieden und die „Nacht der alten Lichter“ zu feiern. Also bin ich nach Sonnenuntergang an den Strand von Kadriorg gefahren, denn auch dort hatten sich einige Dutzend Menschen zusammengefunden und ein Feuer entfacht, Fackeln in den Sand gesteckt und Windlichter in den Dünen verteilt.

Lagerfeuer haben es sowieso so an sich, dass man zu gerne in sie hinein starrt und das lodernde Spiel der Flammen beobachtet, um hier und da einen Gedanken zu entdecken, dem man nachhängen kann. Wenn sich gleichzeitig der Sommer zurückzieht und die dunkle Nacht die Erde überspannt, muss man ein leichtes Frösteln schon verscheuchen. Vielleicht auch deshalb bemerkte ich besonders viele Paare. Die jüngeren standen umschlungen am Wasser. Die älteren saßen weiter hinten, zwischen den Dünen, hatten sich Kerzen mitgebracht und schauten schweigend hinaus aufs Meer, das als schwarzglänzende Fläche an den Strand schwappte.

Die Tradition der nächtlichen Feuer ist gleichzeitig sehr alt und sehr jung. Früher entzündeten die Menschen an der Küste Leuchtfeuer, um den Schiffen den Weg zu weisen, sie vor Gefahren zu warnen und in den sicheren Hafen zu lotsen. Die Idee, eine „Nacht der alten Lichter“ zu feiern, entstand 1992 in Finnland, zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit. Nach und nach verbreitete sich der Brauch in den Nachbarländern und so erhellten am Samstag nicht nur in Finnland Feuer die Nacht, sondern auch in Estland, Schweden, Russland, Lettland, Litauen und Polen.

Ein anderes Feuer außer „unserem“ am Strand von Kadriorg konnte ich zwar nicht erblicken. Aber ich wusste, was die Idee der Lagerfeuernacht ist, dass sie die Menschen rund um die Ostsee verbinden soll. Und so habe ich den Anflug von Wehmut genossen, weil ich mir vorstellte, dass ich ihn, so wie die Erinnerung an den Sommer, die Vorfreude auf den Herbst und das Unbehagen angesichts des schwarzen Meeres, mit anderen teile.

P.S. Wer zum Beispiel nächstes Jahr an der deutschen Ostseeküste ein Feuer entfachen will, sollte sich die Seite www.ancientlights.eu anschauen.

Freitag, 26. August 2011

Graffiti ohne Strick


Seit kurzem ein farbenfroher Hingucker am Kulturkilometer bzw. am Fischerhafen: Die Installation „KONT“, die zwei Wochen lang von Graffiti-Künstlern aus Estland, Frankreich, Italien, Polen und Brasilien gestaltet wurde. Wenn genug Menschen die Kunst bestaunt haben, reisen die Container weiter auf Schiffen und Lkws um die Welt.

Donnerstag, 25. August 2011

Parsifal in der Kapsel

Die Premiere von Parsifal (und die erste Aufführung der Oper in Estland überhaupt) findet heute in der Noblessner-Halle statt. Seit 2009 wird die ehemalige Gießerei auf dem Gelände einer Werft immer wieder für Konzerte genutzt und dass dort alles andere als Festspielhaus-Atmosphäre herrscht, macht den Reiz aus. So etwas sei in Deutschland nicht zu finden, sagt Regisseurin Nicola Raab, und dass die Spielstätte für sie so etwas wie eine „Zeitkapsel“ sei.

Tatsächlich entzieht sich die Zeit in der Industriebaracke jeglichem Zugriff. Wahrscheinlich haben die Arbeiter ihre Halle schon vor zwanzig Jahren aufgegeben, vielleicht auch erst vor drei Wochen. Überall stehen Blechtonnen herum, in der Ecke lehnt ein Besen, zwischen Kabeln und Werkzeugen liegt auf dem Boden ein Hinweisschild mit der pädagogischen Mahnung in Du-Form: „Verstelle nichts an den Maschinen!“ Der rote Teppich führt über ein Gerüst auf die Ränge hinauf und wer in den Zuschauerraum tritt und sich umdreht, blickt auf eine Uhr hoch oben an der Wand. Das Ziffernblatt ist zerschlagen, die Zeiger stehen für immer auf halb acht, darunter ist aufs Wellblech die Losung gepinselt: „Marxismus und Leninismus sind das Banner unserer Epoche.“ Die Bläser hocken, wie in einer Garage, im Seitenflügel der Halle, zwischen alten Gerätschaften und unter dem überlebensgroßen Konterfei eines emsigen Arbeiters. Sogar der metallisch-beißende Geruch ist noch erhalten und hat wohl, obgleich er über die Jahre hinweg doch etwas nachgelassen hat, drei Bratschistinnen und eine Cellistin veranlasst, Mundschutz zu tragen.

Reminiszenzen an die real existierende Vergangenheit der Halle sind in der Inszenierung mit Bedacht platziert, sie lassen sich finden, aber nicht überall und mitunter nur mit Phantasie. Ich entdecke naheliegende, dass Lüftungsrohre eine Hügellandschaft mit Burg formen, beklemmende, als die Gralsritter für mich aus Sibirien zurückkehren und erheiternde, weil sich unter der grünen Arbeiterkluft der Blumenmädchen Spitzenröcke verstecken. Eine kurzweilige fünfstündige Generalprobe, so dass ich mich schon auf die „echte“ Aufführung am Sonntag freue.




P.S. Die Noblessner-Halle befindet sich in Kalamaja, unweit des Kulturkilometers.