Freitag, 19. August 2011

Ein Rad, wo zwei Leute drauf sitzen können

Neulich haben meine Schwester und ich uns ein Tandem gemietet und sind zu meinem Lieblingsstrand auf der Halbinsel Paljassaare geradelt. Das Wetter war augustig, herrlich windig, es gab hohe Wellen zum Drüberhupfen und viel Sonne dazu. Doch nicht vergessen werde ich den Nachmittag allein wegen der Menschen, die uns in Kalamaja und Kopli begegnet sind.

Zuerst ist uns ein kleines Mädchen mit seiner Oma entgegengekommen. Als es uns gesehen hat, hat es große Augen gemacht und dann ernst und gar nicht so laut gesagt: „Super!“ Kurz darauf sprach uns ein älteres Ehepaar auf einer Parkbank an: „Wie nennt man denn so ein Fahrrad?“ Dann zeigten drei Buben gleichzeitig auf uns: „Mama, schau mal!“ Ein Motorradfahrer, der an uns vorbeifuhr, ließ kurz den Motor aufheulen, eine Gruppe Jungs, die auf einer Wiese Picknick machte, rief uns zu, wir sollten uns zu ihnen setzen. Und als wir das Rad einen kleinen Berg hochschieben mussten, fragten uns zwei Frauen, beide in unserem Alter: „Und wie steigt man da auf?“ Na so, haben wir gesagt, uns auf den Sattel geschwungen und unsere Tour fortgesetzt. An den Holzhäusern vorbei, den Kulturkilometer entlang, klingelnd zwischen den Fußgängern hindurch. Am nettesten und denkwürdigsten war die Begegnung an der Bushaltestelle. Dort saß eine Frau mittleren Alters in einem verwaschenen T-Shirt auf der Bank, mehrere Plastiktüten zu ihren Füßen. Sie sieht uns, stutzt, und fängt lauthals an, zu lachen, so ein richtiges Glucksen, von ganz innen heraus, völlig perplex. Wir haben ihr fröhlich zu gewunken und auch gelacht.

Donnerstag, 18. August 2011

Staumeldung

Ein neuer Tag beginnt und ich habe wieder nichts in meinen Blog geschrieben. Mir fehlt das schon und in meinem Kopf gibt es einen Gedankenstau, so viel hätte ich von den vergangenen Tagen zu erzählen. Von der Heiterkeit des Tandemfahrens zum Beispiel. Oder von idyllischen Bildern in Haapsalu. Aber im Moment besteht mein Stadtschreiberleben aus ganz anderen Aufgaben und Erfahrungen als gewöhnlich. Ich stehe für Deutsche Welle TV in Hinterhöfen und Museen vor der Kamera und sitze in Cafés vor der Kamera und gehe mitunter fünf Mal um die gleiche Straßenecke, vor der Kamera. Wer heute Abend auf einen neuen Post wartet, sollte vielleicht besser Fernschauen: Um 22.30 Uhr sendet das ZDF in der Reihe „Die Schönen des Ostens“ einen ausführlichen Bericht über Tallinn.

Montag, 15. August 2011

Ankündigung: Porträt auf Deutschlandradio Kultur

Morgen eine Vormittagspause gefällig? Wie wäre es mit zehn Minuten Radiohören zwischen 10:50 Uhr und 11 Uhr? In dieser Zeit läuft in der Sendereihe "Profil" von Deutschlandradio Kultur ein kurzes Porträt von mir. Entstanden ist es, als eine Gruppe des Journalistenverbands Berlin-Brandenburg im Juni die Kulturhauptstädte Tallinn und Turku besucht und an einem Abend auch mich getroffen hat. Nach der Ausstrahlung ist die Sendung noch für einige Zeit auf www.dradio.de zu finden. Viel Spaß beim Zuhören!

Überbleibsel


Unten bei mir im Haus gibt es einen Buchladen. Das gehört sich so, für das Schriftstellerhaus, auch wenn es nicht mehr der gleiche ist, wie in den sowjetischen Jahrzehnten, sondern ein Antiquariat, das erst vor einigen Jahren eröffnet hat. Es gibt dort, natürlich, viele Bücher, vor allem auf Estnisch, aber auch englische Taschenbücher und russische Bilderbücher. Man kann sich dort hinsetzen und einen Kaffee aus dem Automaten trinken. Touristen finden Postkarten und Briefmarken, Musikliebhaber alte Platten. Und in einer Ecke stehen zwei Regale mit besonders abgefingerten und zerfledderten Büchern – das ist die deutschsprachige Abteilung des Ladens.


Bislang unentdeckte Schätze sind dort nicht zu heben, nein. Wenn deutsche Touristen kommen und fragen, ob es einen gut erhaltenen Stadtplan aus dem 18. Jahrhundert gibt, oder den Nachlass einer deutschbaltischen Adelsfamilie, oder irgendwelche handgeschriebenen Dokumente, ärgert sich Maiu Varner ein bisschen. Dann antwortet die Mitarbeiterin des Ladens, dass so etwas ins Museum gehöre, und nicht hier in die Regale. Und dann verlieren die meisten Kunden schnell das Interesse an den deutschen Büchern.

Das allerdings ist ein bisschen schade, denn ein vergnüglich-besinnliches Stündchen kann man mit ihnen allemal erleben.

Zunächst fallen einem so sperrige Titel wie Abwasser-Hauskläranlagen und Siedlungsabwässerverwertung (1938), Jahrbuch der Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1911 (1911) oder Wirtschaftslehre des Forstwesens (1943) ins Auge und erinnern daran, dass die Deutschbalten fast alle zur gebildeten Oberschicht gehörten.

Dann gibt es die Widmungen, die in Schönschrift erklären, wer wen zu welchem Anlass mit einem Büchlein bedacht hat. Zur Konfirmation gab es einen Band mit geistvollen Gedichten, der Schwägerin wurde ein Kochbuch vermacht und in den Roman Zur Neujahrszeit im Pastorat zu Nöddebo (1884) ist geschrieben: „Meiner lieben lieben Galja ein kleines Zeichen, dass ich ihrer in Freundschaft gedenken und sie nicht vergessen werde. Die alte Hessinka.“ Vielleicht ist das Buch das letzte Ding, was an die innige Verbundenheit der beiden Damen erinnert …

Kleine Aufkleber und Stempel verweisen auf die einstigen Besitzer und Verkäufer der Bücher: „Vereidigter Rechtsanwalt E. R. Koch, Reval“ hat sich Amerika und der Amerikanismus (1927) zu Gemüte geführt, bei „Emil Treufeldt, Buch & Musikalien-Handlung Pernau“ war die Zeitschrift Der Angelsport (1933) erhältlich. Natürlich, die Leute gingen auch früher gerne Angeln und haben sich über die neuesten Ruten und Fischkrankheiten informiert. Auch So spielt man Tennis (1927), Balkongärtnerei und Vorgärten (1922) und einige Bücher zum Stricken und zum Singen sind Überbleibsel des Teils vom Leben, der auch früher ein heiterer und banaler Alltag war. (Und wieder taucht Renata auf, die so oft mit Olaf Tennis gespielt hat.)

Besonders gerne mag ich das Buch Heim und Herd, das 1901 in Riga erschienen ist. Dicht an dicht sind die Leerseiten am Anfang und Ende des Buches mit fein säuberlich notierten Kochrezepten beschriftet: Eins für Kürbissuppe, eins für Piroggenteig, eins für Apfelsinensaft und eins für Okroshka (das ist eine russische Gurkensuppe). Im Lauf der Jahre hat das Nachschlagewerk so manchen Soßenspritzer abbekommen.


Zu guter Letzt entdecke ich die vielen, vielen Karten und Broschüren zu Italien, sie alle wurden Anfang der 1930er Jahre vom italienischen Fremdenverkehrsamt herausgegeben. Die italienische Riviera, Die oberitalienischen Seen, By mail motor coach to Italy … Im Heftchen Sommer- und Herbstferien in Italien ist eine Panoramaansicht von Meran zu sehen und darunter steht der Satz: „Die erste Reise nach Italien bleibt sicher nicht die einzige, denn wer Italien einmal gesehen hat, sehnt sich immer wieder dahin zurück.“ Ich wünsche dem einstigen Besitzer dieser Broschüre posthum, dass die erste Reise stattgefunden hat.

Samstag, 13. August 2011

Samstag, Einkaufstag


Aufgenommen auf dem Markt am Bahnhof (Balti jaam): Die Sonne zieht sich schon lange wieder zurück. Aber sie hinterlässt uns die Früchte, die sie reifen ließ.

Donnerstag, 11. August 2011

Was die Tauben tun


Aufgenommen beim Morgenspaziergang auf dem Domberg. Siebenundzwanzig Tauben saßen auf einem Dach. Die einen sechs flogen weg. Die anderen sechs flogen weg. Die einen sechs kamen wieder. Die anderen sechs kamen wieder. Da sitzen sie alle siebenundzwanzig wieder. (Oder so ähnlich.)

Mittwoch, 10. August 2011

Ein Tag Pärnu

Die Städte in Estland sind miteinander verwoben und erfüllen oft ganz spezifische Funktionen. Tartu ist, habe ich im Juni gelernt, die Stadt des Geistes und der Ideen. Pärnu ist die Stadt der Muße und der Erholung, man nennt sie die Sommerhauptstadt.

Am Wochenende hat mich ein Sonntagsausflug dorthin geführt. Die Sommerhauptstadt ist natürlich viel kleiner als die echte. Beschaulicher, bunter und über und über mit Jugendstilblüten berankt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die erste Badeanstalt gegründet und so etablierte sich die Stadt als Kurort im russischen Zarenreich und erlebte einen echten Hochbetrieb schließlich in den 1930er Jahren, als eine Schiffsverbindung über die Ostsee eingerichtet wurde. An diese glanzvollen Tage erinnert die Villa Ammende, die der Kaufmann Hermann Ammende 1904 errichten ließ, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.


Mein Andenken an Pärnu ist eine Musik, ich muss kurz ausholen, um zu erzählen, welche:

Neulich habe ich einen anderen Sonntagnachmittag in einem Café in der Lai-Straße verbracht, wo man auf verschnörkelten Holzstühlen sitzt und von Spitzendeckchen Schokoladenkuchen isst. Meine Lektüre war das ebenfalls etwas altmodische Buch „Liebe Renata“, in dem die jungen Mädchen ständig mit rosigen Wangen Walzer und Mazurka tanzen. Und die CD im Hintergrund spielte – fast schon zu passend – heitere Salonmusik dazu.

In Pärnu sitzt vor dem Kursaal ein Mann auf einer Mauer und spielt Akkordeon. Die Musik kommt aus einem Lautsprecher, der in einer Hecke versteckt ist. Für einen Moment kann ich sehen, wie die Sommergäste im Kursaal tanzen, wie die Herren den Damen ihren Arm anbieten, wie diese lächelnd nicken, leichtfüßig den Takt aufnehmen, sich drehen lassen, bis ihnen schwindlig wird. Oh, wie Renata solche Abende liebte! Da ist sie wieder, die Melodie, die mich neulich im Café begleitet hat.


Froh über diese Entdeckung frage ich ein älteres Ehepaar, das auf einer Parkbank sitzt, was das für Musik sei. Die beiden schauen mich verwundert an: Da müsse ich die Leute fragen, die diese Party organisieren. Ein paar hundert Meter weiter ist eine Open-Air-Bühne aufgebaut und zum Soundcheck testet man gerade die Bässe. Die Weise, die leise aus der Hecke tönt, hat das Ehepaar überhört.

Zum Glück habe ich den entscheidenden Hinweis auch ohne das Ehepaar entdeckt, es ist der Name des Mannes mit dem Akkordeon: Raimond Valgre. Der wurde 1913 geboren und starb 1949. Dazwischen, in den 1930er Jahren, füllte er die Salons und ließ die Menschen tanzen – unter anderem zum Saaremaa-Walzer (Saaremaa valss).