Mittwoch, 20. Juli 2011

Weitergeschrieben

Eben habe ich den Post von gestern weitergeschrieben. Mir sind noch ein paar mehr Gedanken zur Beziehung zwischen Tallinn und dem Meer in den Sinn gekommen. Wenn das hier mein Tagebuch wäre (so mit Seiten, zum Umblättern) könnte ich meine Texte auch nach unten fortsetzen, also habe ich das heute mal so gemacht.

Dienstag, 19. Juli 2011

Nachtrag zu: Ahoi! (Und eigentlich nicht nur zu diesem Post.)


Aufgenommen unterhalb der Stadthalle (Linnahall). Ist Tallinn jetzt eine Stadt am Meer? Ich habe mir, so wie viele Gäste dieser Stadt, eher schwer getan, das Meer gleich auf Anhieb zu finden. Musste es erst suchen. Und manch einer denkt, dass Tallinn erst wieder eine Stadt am Meer werden muss. So ist es der Wunsch von Tallinn 2011, die Menschen ans Meer zurückzuholen. Weil die Verbindung zu diesem, so erklärt man das, durch die Sowjetherrschaft unterbrochen wurde.

Wenn ich mir dieses Bild anschaue und wenn ich daran denke, wie die Leute der Krusenstern hinterher geschaut haben, dann glaube ich, dass der Traum vom Meer uralt ist. Vielleicht war er stärker als Stacheldraht und Sperrgebiet? Vielleicht ist im Kopf der Menschen die Verbindung zum Meer auch während der Sowjetherrschaft nie abgerissen?

Physisch waren die Menschen in Tallinn während der Sowjetherrschaft vom Meer mehr oder weniger abgetrennt, das steht fest. Doch ich frage mich, ob sie dieses Abgetrennt-Sein überhaupt so stark empfunden haben. Da gab es einerseits schmerzvollere Erfahrungen als die, nicht ans Meer zu kommen. Andererseits ist der Traum vom Meer mit dem Traum von der Freiheit verwandt ...

Wahrscheinlich war den Menschen Sicherheit lange wichtiger als Freiheit. Ich weiß nicht, ob die Bewohner der Stadt in all den Jahrhunderten bis hin zum Zweiten Weltkrieg einen so engen Kontakt zum Meer hatten, wie wir ihn heutzutage anstreben. Vielleicht haben die meisten Bürger im alten Reval das Meer im Alltag ähnlich selten gesehen wie die Menschen im sowjetischen Tallinn? Das waren ja nicht alles Fischer und Handelsreisende. Vielleicht fühlten sie sich innerhalb der Stadtmauern ganz wohl, weshalb hätten sie am Meer spazieren gehen sollen.

Oder geht es gar nicht um den Traum vom Meer und von der Freiheit, sondern ganz schlicht um Naherholung? Stammt daher der Wunsch, dass, wenn eine Stadt am Meer liegt, dieses für alle jederzeit und schnell erreichbar sein möge?

Mir scheint, die Diskussion, ob Tallinn eine Stadt am Meer ist bzw. eine war und nun wieder eine werden muss, verrät mehr über uns selbst als über die Stadt.

Montag, 18. Juli 2011

Ahoi!

Die Meerestage haben allen gut gefallen. Drei Tage lange spazierten die Menschen am Kulturkilometer und rund um das neue Meeresmuseum und im Passagierhafen und im alten Hafen herum. Das Programmm war nett und größtenteils kostenlos und das Bild, was ich im Kopf behalten werde, ist dieses: Viele kleine Menschen auf großen Schiffen, umrahmt von bunten Signalflaggen, die fröhlich im Wind flattern, und der hellblaue Himmel und das dunkelblaue Meer leuchten um die Wette.


Der Moment gehörte auch zum Schluss der Meerestage der Krusenstern. Drei Tage lang war die Schlange vor dem Schiff nicht kleiner geworden. Und am Sonntagabend versammelten sich die Menschen nochmal am Kai, um die Krusenstern zu verabschieden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie im Vergleich zu den Besuchern des Konzerts, das gleichzeitig stattfand, in der Überzahl waren. Wieder ein dreifaches, kräftiges Tröten, die Schlepper ziehen das Schiff aus dem Hafen, ein paar Segelyachten schippern hinterher, bald schon hat die Krusenstern die Hafenmauern hinter sich gelassen und gleitet hinaus in die Bucht, dem Horizont entgegen. So stolz und elegant, da sind die Helsinki-Fähren, die sich im Halbstundentakt in den Hafen schieben, plumpe Pötte.


Ich habe gehört, dass die Krusenstern, als sie hier zehn Jahre lang im Hafen lag, den Menschen gar nicht so wichtig war. Ahoi, Krusenstern!

Samstag, 16. Juli 2011

Die Krusenstern in Tallinn


Das Bild ist ein bisschen geschummelt, ich gebe es zu. Aber ich muss es hernehmen, denn auf diesem Bild ist ein Mythos zu sehen.

Die Ankunft der Krusenstern war der Höhepunkt der Meerestage an diesem Wochenende. Nach zwanzig Jahren kam sie gestern wieder in die Stadt zurück, die von 1981 bis 1991 ihr Heimathafen gewesen war. Als sie pünktlich um 12 Uhr im Hafen einlief, begrüßte sie die Stadt mit einem dreifachen Hupen. Es gab einen Empfang mit allem Drum und Dran, Salutschüssen, Militärorchester und hochrangigen Gästen. Doch der größte Willkommensgruß waren Hunderte von Menschen, die sich auf dem Kai versammelt hatten, um das Schiff zu bestaunen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden sie in der langen Schlange anstanden, um das Schiff zu besichtigen.


Unter den Wartenden war auch die Crew, die in den 1980er Jahren auf dem Schiff gearbeitet hatte. Für sie ist die Krusenstern die Erinnerung an gute Zeiten. Der wissenschaftliche Assistent des Kapitäns, der Ingenieur, die Maschinisten, die Ehefrauen, sie alle feierten das Wiedersehen, klopften sich auf die Schulter und tauschten alte Fotos aus. Manche hatten Blumensträuße mitgebracht, um sie ihren Kameraden zu schenken. Denn drei Besatzungsmitglieder von damals arbeiten noch heute auf dem Schiff.


Die Krusenstern ist der letzte der berühmten Flying-P-Liner der Reederei F. Laeisz, der noch im Einsatz ist. 1926 wurde das Schiff auf der Joh. C. Tecklenborg-Werft bei Bremerhaven vom Stapel gelassen – als Padua, denn traditionsgemäß begannen die Namen der Schmuckstücke der Laeisz-Flotte mit einem P. Und während die Schwesternschiffe, wie zum Beispiel die Pamir, untergegangen sind, oder, so wie die Passat in Travemünde, heute ein Dasein als Museumsschiff fristen, umsegelt der Windjammer, der einst Padua hieß, noch heute die Weltmeere. Als russisches Segelschulschiff gehört die Krusenstern nämlich seit 1991 zur Russischen Staatlichen Baltischen Akademie der Fischereiflotte, ihr Heimathafen ist seitdem Kaliningrad.


Mit seinem Namen erinnert das Schiff an die erste Weltumseglung unter russischer Flagge. Als es 1946 als Reparationsleistung an die Sowjetunion ging, wurde es dort nach dem deutschbaltischen Adligen Adam Johann von Krusenstern benannt. Der kam 1770 in der Nähe von Rappel (in Estland, heute Rapla) zur Welt und war von 1803 bis 1806 Leiter der erfolgreichen russischen Expedition. Das Grab von Krusenstern ist in der Domkirche und ich vermute, dass die Besatzung des Schiffs es gestern besucht hat, denn heute lagen zwei dicke Sträuße roter Nelken links und rechts des Grabsteins.

Die Krusenstern - das sind die dicht versponnenen und mitunter verworrenen Fäden der Geschichte von Deutschen, Russen und Esten.


Mittwoch, 13. Juli 2011

Statt Sommerhaus

Eine große Sommerfaulheit befällt in diesen Tagen die Menschen. Viele Bekannte sind jetzt auf ihren Sommerhäusern und nach all ihren Erzählungen stelle ich mir vor, dass sie den ganzen Tag nur auf der Veranda sitzen und Walderdbeeren naschen. Und wenn sie alle verspeist haben, gehen sie wieder in den Wald oder auf die Wiesen und sammeln neue. Und dann setzen sie sich wieder in den Garten und essen weiter. Und manchmal waten sie langsam ins Meer – ins Meer hüpfen können sie eigentlich nicht, das Wasser ist ja so flach.

Die Tage rund um Mittsommer waren sommertrunken, übervoll von Glück und Ausgelassenheit. Jetzt ist der Höhepunkt überschritten und es hat sich eine große gähnende Trägheit breitgemacht. Vielleicht blieb man in mancher Nacht zu lange wach? Wer noch in der Stadt bleiben muss, scheint zu leiden, rutscht ungeduldig auf seinem Schreibtischstuhl hin und her und mag den Urlaub kaum erwarten. Da haben die jungen Arbeitnehmer ohne Kinder eindeutig das Nachsehen.

Ich habe kein Sommerhaus. Mein liebstes Fluchtziel für den Alltag ist die Halbinsel Paljassaare, nordwestlich vom Stadtzentrum. Dort ist die Natur, dafür, dass ich mit dem Rad gerade mal eine halbe Stunde brauche, bis ich da bin, herrlich ungebändigt. Die Halbinsel war sowjetisches Sperrgebiet und mit mehreren Reihen mannshohem Stacheldrahtzaun gegen die Außenwelt geschützt (Flucht- ebenso wie Angriffsgefahr!). Jetzt bröckeln die Zäune und Wachtürme wie so viele Sandsteinbauten in dieser Stadt gemächlich vor sich hin und überlassen das Gebiet bereitwillig den Vögeln und den Anglern. Letztere sind so scheu wie ihre gefiederten Kollegen und nur ab und an als nackte Oberkörper im Schilf zu erspähen.

Alles scheint in diesen Tagen so vollendet, alles steht in voller Blüte. Selbst die Vögel, die vor zwei, drei Wochen noch aufgeregt gesungen haben, sind müder geworden. Der Sommer wird nimmer länger und die Wiesen werden nicht mehr bunter. Aber noch ist es herrlich, wilde Blumen, soweit das Auge reicht, grenzen ans Meer. Ich wünschte, ich könnte jede einzelne pflücken und trocknen und für den Winter aufbewahren.



Dienstag, 12. Juli 2011

Musik am Abend

Und wenn in diesen Tagen die Musik vom Domberg jeden Tag zwei Minuten früher erklingt, dann werde ich wehmütig. Genau zum Sonnenuntergang wird die estnische Flagge auf dem Langen Hermann eingeholt, dazu ertönt ein Volkslied. Jeden Abend am offenen Fenster weiß ich für einen Moment: Länger wird der Sommer nimmer.

Prinzessinnen

Bei einer Führung durch den Dom habe ich Toomas Mäeväli kennengelernt. Er ist Orgelbauer und macht jeden Freitagnachmittag eine Runde durch die Stadt, um die Kirchenorgeln zu prüfen und gegebenenfalls zu stimmen. Neulich habe ich ihn begleitet und so viel Interessantes über die Orgeln in Tallinn und Estland erfahren.


Die Besonderheit der Orgellandschaft in Estland ist, dass so viele romantische Orgeln aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert im Originalzustand erhalten sind. In Deutschland sind diese kaum noch zu finden, da dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte Orgelbewegung einsetzte. Sie versuchte, die Orgeln in den barocken Zustand zurückzuversetzen. Das war gut gemeint aber übereifrig, denn oft waren fragwürdige Kompromisslösungen das Ergebnis. Estland hat die Orgelbewegung nicht erreicht und bald darauf führte der Sowjetstaat mit seiner atheistischen Ideologie zu einem Quasi-Stillstand im Kirchenleben und damit auch im Orgelbau. Und als dieser nach 1991 beendet war, warteten die romantischen Orgeln gewissermaßen wie vergessene Prinzessinnen auf ihre Entdecker.

Was eine romantische Orgel ausmacht? Sie versucht, ein ganzes Orchester zu imitieren und dessen verschiedene Klangfarben möglichst ohne Brüche zu vermischen. Die Beschriftung der Knöpfe am Spieltisch liest sich wie die Besetzung eines Orchesters: Oboe, Horn, Klarinette, Trompete … Besonders beliebt waren bei romantischen Orgelbauern Pfeifenreihen, die wie Streicher und Flöten klingen.


In gutem Zustand ist die Domorgel, die 1998 von der Orgelwerkstatt Christian Scheffler aus Sieversdorf bei Frankfurt/Oder renoviert wurde. Alle 73 Register mit insgesamt 4500 Pfeifen funktionieren. Sie trägt die Handschrift von gleich zwei berühmten deutschen Orgelbauern. Zunächst wurde sie mit 48 Registern vom Weißenfelser Orgelmeister Friedrich Ladegast gebaut und 1878 eingeweiht. 1913 beschloss die Kirchengemeinde, die Orgel moderner zu gestalten, und ließ sie von Wilhelm Sauer aus Frankfurt/Oder erweitern. Der größte Teil der Pfeifen von Ladegast und der Prospekt – also das, was die Kirchenbesucher von der Orgel sehen – wurden aber beibehalten, so dass das Instrument heute sozusagen eine Best-of-Mischung, eine Ladegast-Sauer-Orgel ist.

Die Orgel in der Olaikirche ist weniger gut erhalten, nicht alle Register sind spielbar. Doch auch sie entfaltet einen Zauber, wie es nur die Königin der Musikinstrumente vermag. Zusammen mit Toomas Mäeväli bin ich in der Orgel herum geklettert. Ja, geklettert, denn was nach außen hin so schön silbern oder golden glänzt, ähnelt im Innern eher einem staubigen Speicher. Kleine Holzstiegen führen zu den verschiedenen Registern, den Reihen von unterschiedlich großen Pfeifen aus Holz oder Metall. Und als ich also vorsichtig die Orgel erkundete und zwischen den größten Pfeifen hindurch einen luftigen Blick hinunter in den Kirchenraum erhaschte, begann eine Probe mit der Organistin und einigen Sängern. Das Holz knarrte, die Blasebälge schnauften und die Pfeifen nebenan hoben zum Singen an und das war sehr, sehr feierlich.


Ein Tipp für alle baldigen und potentiellen Tallinn-Besucher: Jeden Samstag um zwölf gibt es im Dom ein halbstündiges Orgelkonzert. Diese "Orelipooltund", wörtlich "Orgelhalbestunde", kostet keinen Eintritt. Gerade jetzt im Sommer konzertieren häufig auch Organisten aus dem Ausland - denn die sind ganz heiß darauf, mal auf einer echten romantischen Orgel zu spielen.