Dienstag, 21. Juni 2011

Koit und Hämarik (Morgenröte und Abenddämmerung)

„Die kurze Zeit der Freude, die Zeit der kürzesten Nächte, die so reich an Liedern und Blumen ist, entschädigt die Bewohner des Nordlands für das Leiden des strengen Winters. Zu dieser Zeit, in der die Natur des Nordens ein Fest feiert und in der sich Morgenröte und Abenddämmerung die Hände reichen, hat ein alter Mann den Enkeln, die sich um ihn herum versammelt hatten, die Liebesgeschichte von Koit und Hämarik erzählt. Und so werde ich weitergeben, was ich gehört habe.

Kennst Du den Feuerball im Haus des Großvaters? Gerade jetzt hat er sich zur Ruhe gelegt und dort, wo das Licht erloschen ist, schimmert noch ein ferner Schein am Himmel. Und schon bewegt sich das Licht weiter Richtung Osten, wo es bereits bald wieder in vollem Glanz die ganze Natur begrüßen wird. Kennst Du die Hand, die die Sonne in Empfang nimmt und sie zu Bett bringt, wenn sie ihre Reise vollendet hat? Kennst Du die Hand, die ihre Glut wieder neu entfacht und sie wieder auf die Reise entlang des Himmels schickt? Bei Großvater lebten zwei so treue Diener, denen ewige Jugend gegeben war, und als die Sonne am ersten Abend ihre Reise beendet hatte, sagte der Großvater zur Abenddämmerung: „In Deine Obhut, meine Tochter, übergebe ich die untergehende Sonne. Lösche sie aus und verstecke das Feuer, damit es keinen Schaden nehmen möge.“ Und als am anderen Morgen die Sonne ihre Reise wieder antreten musste, sagte er zur Morgenröte: „Mein Sohn, Deine Aufgabe ist es, das Feuer wieder zu entfachen und es für die nächste Reise vorzubereiten.“ Gewissenhaft erledigten die beiden ihre Pflichten und nicht an einem Tag verfehlte die Sonne ihren Bogen am Firmament. Und wenn sie sich im Winter am Rand des Himmels bewegt, geht sie abends früher aus und morgens beginnt sie ihre Reise später. Und wenn sie im Frühling die Blumen aufweckt und im Sommer die Früchte mit ihren warmen Strahlen reifen lässt, dann ist ihr nur eine kurze Pause vergönnt und die Abenddämmerung übergibt die Glut geradewegs der Morgenröte, die sie sofort wieder zu neuem Leben erweckt. Und als nun diese schöne Zeit begonnen hatte, in der die Blumen blühen und duften und Menschen und Vögel das Gewölbe von Ilmarinen mit ihren Liedern erfüllen, da schauten sich die beiden zu tief in ihre dunkel funkelnden Augen. Und als die erloschene Sonne aus der Hand der Abenddämmerung in die Hand der Morgenröte glitt, geschah es, dass sich Hände und Lippen leicht berührten. Aber die Augen, die nie geschlossen sind, hatten bemerkt, was in stiller Heimlichkeit um Mitternacht entstanden war und am nächsten Morgen rief der Großvater beide zu sich und sagte: „Ich bin zufrieden damit, wie ihr Eure Pflichten erfüllt und ich will, dass Ihr rundum glücklich werdet. So möget Ihr zusammengehören und Eure Aufgaben von nun an als Mann und Frau erfüllen.“ Doch die beiden antworteten wie aus einem Mund: „Großvater, verdirb uns nicht unser Glück, sondern lass uns für immer Braut und Bräutigam bleiben, denn in der Zeit der Verlobung, in der die Liebe jung und zart ist, haben wir unser Glück gefunden.“ Und Großvater erfüllte ihre Bitte und erteilte der Entscheidung seinen Segen. So treffen sich die beiden nur ein Mal im Jahr für die Zeit von vier Wochen um Mitternacht, und wenn Hämarik die erloschene Sonne in die Hände ihres Liebsten legt, folgt dem ein sanfter Händedruck und ein Kuss und Hämariks Wangen färben den Himmel rosenrot, bis Koit den Feuerball wieder anzündet und der ferne goldene Schimmer die wieder aufgehende Sonne ankündigt. Bis heute schmückt Großvater zur Feier ihrer Zusammenkunft die Felder mit den schönsten Blumen und die Nachtigallen rufen Hämarik, die nicht von Koits Wange weichen möchte, fröhlich zu: „Du Mädchen der Muße! Oh lange Nacht!““


Anmerkungen:
Niedergeschrieben hat das Märchen von Koit und Hämarik der Arzt und Philologe Friedrich Robert Faehlmann (1798 – 1850). Er sammelte estnisches Volksgut und leistete auch die Vorarbeit für das Nationalepos „Kalevipoeg“, das von Friedrich Reinhold Kreutzwald herausgegeben wurde. „Ilmarinen“ ist in der finnischen Mythologie ein Schmied, der einem Feuergott ähnelt. Das Märchen habe ich mit Hilfe meiner „Estnischlehrerin“ Eva auf Basis des Textes in der estnischen Wikipedia übersetzt und nacherzählt. (Danke, Eva!)

Montag, 20. Juni 2011

Pfeif drauf!


Nein, es geht hier nicht um die Warnung vor Taschendieben, interessant ist der kleine Aufkleber in der Mitte:

SINGVERBOT FÜR VÖGEL an WERKTAGEN zwischen 23 UHR und 9 UHR.

(Zum Glück pfeifen die Vögel drauf.)

Sonntag, 19. Juni 2011

Eine Geschichte zum Sonntagskaffee

An der Gabelung Pikk – Pühavaimu (Lange Straße - Heiliggeiststraße) steht ein stolzes Haus. Die Fassade ist in hellem Ocker getüncht, weiße Bögen überspannen die Fenster, den Abschluss bildet ein geschwungener Giebel. Über eine kleine Treppe erreicht man das Erdgeschoss und tritt ein in die „Martsipanituba“ – die Marzipanstube, die zur Firma Kalev gehört. Rechts hinter der Vitrine werden edle Pralinen zum Verkauf angeboten. Links sitzt Külli Mihkla und bemalt mit engelsgleicher Geduld und ruhiger Hand Marzipanfigürchen.


Külli ist ausgebildete Grafikerin und hat viele lange Jahre Gebrauchsgrafik gestaltet. Als der Computer ihren Berufsalltag zunehmend dominierte, kehrte sie der modernen Technik den Rücken und tauschte die Maus wieder gegen den Pinsel ein. Eine Zeit lang arbeitete sie als Porzellanmalerin, seit acht Jahren tunkt sie den Pinsel in Lebensmittelfarbe und verpasst jeden Tag vielen kleinen Tieren niedliche Gesichter. Hunde, Affen, Katzen, Vögel, Fische, Schildkröten – in den Schaufenstern ist fast die gesamte Tierwelt vertreten.

Die meisten der rund 200 Formen, mit denen die süße Mandelmasse zu niedlichen Figuren verarbeitet wird, sind Originale aus dem 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit gehörte das Haus der deutschbaltischen Familie Stude, die mit der Marzipanherstellung in der Pikk-Straße eine echte Erfolgsgeschichte schrieb. Die edlen Kreationen waren so berühmt, dass sie einst bis an den Hof des Zaren in St. Petersburg geliefert wurden. Sein Ende nahm dieser Teil der Geschichte 1939 mit der „Umsiedlung“ der Deutschbalten, als auch der damalige Geschäftsinhaber Alexander Reinhold Stude Estland verließ.

Otto Kubo ist 79 und auch im Ruhestand die gute Seele der Marzipanstube. Vor 56 Jahren hat er als Chemiker bei Kalev angefangen, war dann mehr als 30 Jahre Leiter des Zentrallaboratoriums, später Assistent der Geschäftsführung für internationale Beziehungen. Die Firma Kalev, die seit 1948 so heißt, war 1940 entstanden, als das Geschäft in der Pikk-Straße und mehrere andere Konditoreien und Süßwarenhersteller zusammengeschlossen und verstaatlicht wurden.

Otto Kubo spricht fließend Deutsch, er drückt sich sehr gewählt aus und nimmt sich die Zeit, nach den richtigen Ausdrücken zu suchen. Als kleiner Junge hat er die Sprache von seiner Großmutter gelernt, die aus einer deutschbaltisch-schwedischen Familie stammte. So freut sich Otto besonders, wenn sich deutschsprachige Gäste für die Geheimnisse des Marzipans interessieren. Dann tritt er aus dem hinteren Zimmer in den Verkaufsraum und erklärt die Schätze, die er im Lauf der Jahre zusammengetragen hat: Alte Werbeanzeigen aus den Revalschen Wöchentlichen Nachrichten, ein Marzipanpüppchen, das ein Bräutigam seiner Angetrauten im Jahr 1935 zur Hochzeit schenkte, eine Aufnahme des Ladens aus dem Jahr 1924, die die stolze Familie Stude mit Kunden und Personal beim Firmenjubiläum zeigt.

Seine deutschen Vorgänger in der Marzipanstube hat Otto Kubo nicht mehr kennen gelernt, dazu war er in den 1930er Jahren zu klein. Aber wohl erinnert er sich an das Café, das heute noch den gleichen Namen wie einst trägt, Maiasmokk, Leckermaul, und an dessen schmackhafte Kuchen. Unvergessen sind die Schaufensterauslagen, sie waren die schönsten in der ganzen Stadt. Besonders zur Weihnachtszeit hat sich der kleine Otto die Nase an den Fenstern platt gedrückt, denn was es dann hinter den Scheiben zu sehen gab, war ganz und gar zauberhaft: Schneewittchen und die sieben Zwerge, Dornröschen, Wichtel und Weihnachtsmänner und ganze Herden von Rentieren.

Freitag, 17. Juni 2011

Schlaflos in Tallinn


Zu viel Kaffee getrunken, zu lange im Buch von Sofi Oksanen gelesen und als ich um viertel nach zwei immer noch nicht eingeschlafen war, lohnte es sich auch nicht mehr. Draußen war es immer noch nicht und schon nicht mehr richtig dunkel und so setzte ich mich nochmal ein Stündchen an den Computer und machte mich dann um kurz vor vier auf, um vom Domberg aus den Sonnenaufgang zu bestaunen.

Ein paar betrunkene Gestalten vor dem Nachtklub lasse ich schnell hinter mir, oben dann ganz große Stille, nur das Rauschen der Blätter im Wind. Ich versuche immer zu raten, an welcher Stelle sich die Sonne über den Horizont schieben wird. Und liege meistens ein Stück daneben. Dann taucht sie auf, rosarot und schön schiebt sie sich hinter der Viimsi-Halbinsel hervor. Eine Fähre läuft im Hafen ein, das Deck noch festlich mit Lichterketten beleuchtet. Möwen und Schwalben schicken ihre Rufe in die Morgenluft und nach und nach tauchen die Sonnenstrahlen die Dächer der Lai-Straße in goldenes Licht.

Als alles vollbracht ist, komme ich mit Janek und Anko ins Gespräch, die neben mir in zwei Plüschsesseln sitzen. Die beiden haben den Sonnenaufgang mit einer Flasche Rotwein gefeiert und nachdem diese fast geleert ist und die magische Stimmung durchbrochen werden darf, unterhalten wir uns gut. (Weil wir mit Estnisch nicht groß weiterkamen, stellte sich schnell heraus, dass ich Russisch spreche. Und dass eine junge Münchnerin Russisch spricht, hat die beiden so fasziniert, dass sie sichtlich Spaß daran hatten, die passenden Sprachkenntnisse hervorzukramen, was wiederum Kindheitserinnerungen hervorrief, die entsetzen Augen der Mutter, als der dreijährige Stöpsel verkündete: Ich liebe Lenin!)

Die Einladung zum Frühstück schlage ich nicht aus. Mit den Fahrrädern über menschenleere Straßen unter Kastanien hindurch zur Tankstelle, wo wir eine Tüte trockener Mandelcroissants erstehen. Anko kocht Kaffee und dann sitzen wir zu dritt auf der Terrasse und tunken die Croissants in unsere Tassen und unterhalten uns übers Wandern, über estnische Witze und den Bau eines Hühnerstalls – bis um acht. Dann macht sich ein jeder an seine Arbeit.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Gestern

Gestern war der 70. Jahrestag der Juni-Deportation. Die Flaggen waren auf Halbmast gesetzt oder mit Trauerflor versehen. In der Nacht vom 13. zum 14. Juni 1941 rollten in Estland, Lettland, Litauen, der Bukowina und Bessarabien die ersten sowjetischen Massendeportationen an. Auch in Riga waren die Flaggen auf Halbmast gesetzt, das haben mir meine Eltern erzählt, die gestern von Riga nach Tallinn gekommen sind.

Die Verhaftungen in Tallinn begannen gegen ein Uhr in der Nacht, den Menschen blieb eine Stunde Zeit, um einige Sachen zu packen, am Bahnhof in Kopli standen die Viehwaggons bereit. Bis Anfang Juli wurden rund 10.700 Menschen aus Estland ins Innere der Sowjetunion transportiert.

Auf dem Freiheitsplatz (vabaduse väljak) standen gestern ein Eisenbahnwaggon und ein Lkw. Leider habe ich kein Foto von dem Waggon gemacht, da ich gestern ohne Kamera von einem Termin zum nächsten gehetzt bin. Aber es geht ja nicht um das Foto, sondern um den Moment.

Es gab diesen Moment des Innehaltens, des Schauderns und Trauerns. Der Eisenbahnwaggon stand so unvermittelt auf dem Freiheitsplatz. Ich war auch am Tag zuvor dort gewesen und dann gestern recht früh morgens dort unterwegs, und so war der Wagen tatsächlich über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht. Aus dem Waggon waren Stimmen zu hören. Und die Passanten gingen nicht vorbei, sondern änderten sogar ihren Weg über den Platz, um am Waggon stehenzubleiben. Sie lasen die Infotafeln, sie legten Sommerblumen nieder, sie diskutierten. Auch ich habe eine Blume gekauft und hingelegt, vorsichtig.

Heute ist der Waggon wieder weg.

Samstag, 11. Juni 2011

Der Dom – Toomkirik

Von allen Kirchen in Tallinn beeindruckt mich der Dom am meisten. Hier ist der Geist der Vergangenheit so deutlich spürbar, dass ich fast die Luft anhalten möchte. Von außen betrachtet strahlt der Dom weiß und klar, innen bilden die vielen geschnitzten Epitaphe und Kenotaphe deutschbaltischer Adelsgeschlechter den Kontrast dazu. Düster und mächtig hängen sie an den Wänden und erinnern an die einstigen Herren des Dombergs. Die Epitaphe sind Menschen gewidmet, die in der Kirche auch ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Die Kenotaphe erinnern an verdiente Gemeindemitglieder, ohne dass diese dort begraben wären.

Wegen ihres jüngeren Datums sind die Kenotaphe viel besser erhalten als die Epitaphe, sie glänzen golden im Licht. Mich faszinieren die dunkel gewordenen Epitaphe, deren Inschriften meist nicht mehr zu entziffern sind, ungleich mehr. Aufwändig wurden aus dem Holz Symbole der Macht herausgearbeitet, Wappen, Adler, Ritterhelme. Mir ist, als ob durch die Visiere noch die Augen der Ritter blicken und mich hier betrachten.

Die Holzbänke in der Kirche sind von nahezu mannshohen Wänden umschlossen, jede Bank ergibt so ein eigenes Abteil, das durch eine kleine Tür betreten wird. In Estland, so wurde mir erklärt, will man nicht so gerne wissen, was der Nachbar so treibt. Wer hier Platz nimmt, kann die Gegenwart draußen getrost vergessen. Und darüber sinnieren, ob die Nachbarn vor 200 Jahren das Gleiche beschäftigt hat, wie heute.

Donnerstag, 9. Juni 2011

Betrifft: Tourismus


Auf diesem Plakat steht: „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ Die Aussage hat weniger etwas damit zu tun, dass der Mensch, der das Plakat aufgehängt hat, Perlenketten bevorzugt. Vielmehr muss man wissen, dass Pfeffersteak ein Leibgericht der Finnen ist. Und da Helsinki nur 70 Kilometer entfernt ist und die Finnen gerne Wochenendtrips in den Süden unternehmen, haben viele Restaurants das Gericht auf ihrer Karte stehen. Mit Bernstein und Matrjoschka-Puppen wiederum beglücken die Souvenirläden all die Touristen, die auf der Suche nach „typisch“ osteuropäischen Mitbringseln sind.

Mit diesem Wissen lässt sich der Spruch auf dem Plakat verschieden interpretieren. Vielleicht ist der Verfasser einer derjenigen, die das Gefühl haben, dass die Altstadt mit ihrem Leben eigentlich nichts mehr zu tun hat. Viele Menschen hier sagen das. Dass in der Altstadt alles so teuer geworden sei, dass sie sich dort nicht mehr ins Café setzen würden, dass sie Tallinn im Sommer meiden würden.

Es könnte auch sein, dass der Pfeffersteak-Verschmäher die Oberflächlichkeit beklagt, mit der viele Touristen ihrem Reiseziel begegnen. Auch ich erlebe Momente des Kopfschüttelns. Neulich zum Beispiel, als ich den Dialog eines deutschen Ehepaars verfolgte. Beide um die sechzig, sie macht ein Foto von der Nikolaikirche. Er zu ihr: „Du fotografierst die ganze Zeit nur Kirchen.“ Sie zu ihm: „Ja, was Anderes gibt es hier ja auch nicht. Eine ist die Nikolai und eine ist die Olai.“

Es ist wohl das Schicksal von hübschen Innenstädten, dass die Gäste von auswärts sie den Einheimischen ein Stück weit wegnehmen. Und es ist wahrscheinlich das Schicksal des Tourismus, das er oft oberflächlich bleibt. Das Ganze ist, irgendwie, ein Dilemma, zu ändern ist die Situation eigentlich nicht. Unter „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ hat ein anderer unbekannter Mensch die Gegenfrage gekritzelt: „Aber was dann?“ Sie wurde noch nicht beantwortet.