Freitag, 17. Juni 2011

Schlaflos in Tallinn


Zu viel Kaffee getrunken, zu lange im Buch von Sofi Oksanen gelesen und als ich um viertel nach zwei immer noch nicht eingeschlafen war, lohnte es sich auch nicht mehr. Draußen war es immer noch nicht und schon nicht mehr richtig dunkel und so setzte ich mich nochmal ein Stündchen an den Computer und machte mich dann um kurz vor vier auf, um vom Domberg aus den Sonnenaufgang zu bestaunen.

Ein paar betrunkene Gestalten vor dem Nachtklub lasse ich schnell hinter mir, oben dann ganz große Stille, nur das Rauschen der Blätter im Wind. Ich versuche immer zu raten, an welcher Stelle sich die Sonne über den Horizont schieben wird. Und liege meistens ein Stück daneben. Dann taucht sie auf, rosarot und schön schiebt sie sich hinter der Viimsi-Halbinsel hervor. Eine Fähre läuft im Hafen ein, das Deck noch festlich mit Lichterketten beleuchtet. Möwen und Schwalben schicken ihre Rufe in die Morgenluft und nach und nach tauchen die Sonnenstrahlen die Dächer der Lai-Straße in goldenes Licht.

Als alles vollbracht ist, komme ich mit Janek und Anko ins Gespräch, die neben mir in zwei Plüschsesseln sitzen. Die beiden haben den Sonnenaufgang mit einer Flasche Rotwein gefeiert und nachdem diese fast geleert ist und die magische Stimmung durchbrochen werden darf, unterhalten wir uns gut. (Weil wir mit Estnisch nicht groß weiterkamen, stellte sich schnell heraus, dass ich Russisch spreche. Und dass eine junge Münchnerin Russisch spricht, hat die beiden so fasziniert, dass sie sichtlich Spaß daran hatten, die passenden Sprachkenntnisse hervorzukramen, was wiederum Kindheitserinnerungen hervorrief, die entsetzen Augen der Mutter, als der dreijährige Stöpsel verkündete: Ich liebe Lenin!)

Die Einladung zum Frühstück schlage ich nicht aus. Mit den Fahrrädern über menschenleere Straßen unter Kastanien hindurch zur Tankstelle, wo wir eine Tüte trockener Mandelcroissants erstehen. Anko kocht Kaffee und dann sitzen wir zu dritt auf der Terrasse und tunken die Croissants in unsere Tassen und unterhalten uns übers Wandern, über estnische Witze und den Bau eines Hühnerstalls – bis um acht. Dann macht sich ein jeder an seine Arbeit.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Gestern

Gestern war der 70. Jahrestag der Juni-Deportation. Die Flaggen waren auf Halbmast gesetzt oder mit Trauerflor versehen. In der Nacht vom 13. zum 14. Juni 1941 rollten in Estland, Lettland, Litauen, der Bukowina und Bessarabien die ersten sowjetischen Massendeportationen an. Auch in Riga waren die Flaggen auf Halbmast gesetzt, das haben mir meine Eltern erzählt, die gestern von Riga nach Tallinn gekommen sind.

Die Verhaftungen in Tallinn begannen gegen ein Uhr in der Nacht, den Menschen blieb eine Stunde Zeit, um einige Sachen zu packen, am Bahnhof in Kopli standen die Viehwaggons bereit. Bis Anfang Juli wurden rund 10.700 Menschen aus Estland ins Innere der Sowjetunion transportiert.

Auf dem Freiheitsplatz (vabaduse väljak) standen gestern ein Eisenbahnwaggon und ein Lkw. Leider habe ich kein Foto von dem Waggon gemacht, da ich gestern ohne Kamera von einem Termin zum nächsten gehetzt bin. Aber es geht ja nicht um das Foto, sondern um den Moment.

Es gab diesen Moment des Innehaltens, des Schauderns und Trauerns. Der Eisenbahnwaggon stand so unvermittelt auf dem Freiheitsplatz. Ich war auch am Tag zuvor dort gewesen und dann gestern recht früh morgens dort unterwegs, und so war der Wagen tatsächlich über Nacht aus dem Nichts aufgetaucht. Aus dem Waggon waren Stimmen zu hören. Und die Passanten gingen nicht vorbei, sondern änderten sogar ihren Weg über den Platz, um am Waggon stehenzubleiben. Sie lasen die Infotafeln, sie legten Sommerblumen nieder, sie diskutierten. Auch ich habe eine Blume gekauft und hingelegt, vorsichtig.

Heute ist der Waggon wieder weg.

Samstag, 11. Juni 2011

Der Dom – Toomkirik

Von allen Kirchen in Tallinn beeindruckt mich der Dom am meisten. Hier ist der Geist der Vergangenheit so deutlich spürbar, dass ich fast die Luft anhalten möchte. Von außen betrachtet strahlt der Dom weiß und klar, innen bilden die vielen geschnitzten Epitaphe und Kenotaphe deutschbaltischer Adelsgeschlechter den Kontrast dazu. Düster und mächtig hängen sie an den Wänden und erinnern an die einstigen Herren des Dombergs. Die Epitaphe sind Menschen gewidmet, die in der Kirche auch ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Die Kenotaphe erinnern an verdiente Gemeindemitglieder, ohne dass diese dort begraben wären.

Wegen ihres jüngeren Datums sind die Kenotaphe viel besser erhalten als die Epitaphe, sie glänzen golden im Licht. Mich faszinieren die dunkel gewordenen Epitaphe, deren Inschriften meist nicht mehr zu entziffern sind, ungleich mehr. Aufwändig wurden aus dem Holz Symbole der Macht herausgearbeitet, Wappen, Adler, Ritterhelme. Mir ist, als ob durch die Visiere noch die Augen der Ritter blicken und mich hier betrachten.

Die Holzbänke in der Kirche sind von nahezu mannshohen Wänden umschlossen, jede Bank ergibt so ein eigenes Abteil, das durch eine kleine Tür betreten wird. In Estland, so wurde mir erklärt, will man nicht so gerne wissen, was der Nachbar so treibt. Wer hier Platz nimmt, kann die Gegenwart draußen getrost vergessen. Und darüber sinnieren, ob die Nachbarn vor 200 Jahren das Gleiche beschäftigt hat, wie heute.

Donnerstag, 9. Juni 2011

Betrifft: Tourismus


Auf diesem Plakat steht: „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ Die Aussage hat weniger etwas damit zu tun, dass der Mensch, der das Plakat aufgehängt hat, Perlenketten bevorzugt. Vielmehr muss man wissen, dass Pfeffersteak ein Leibgericht der Finnen ist. Und da Helsinki nur 70 Kilometer entfernt ist und die Finnen gerne Wochenendtrips in den Süden unternehmen, haben viele Restaurants das Gericht auf ihrer Karte stehen. Mit Bernstein und Matrjoschka-Puppen wiederum beglücken die Souvenirläden all die Touristen, die auf der Suche nach „typisch“ osteuropäischen Mitbringseln sind.

Mit diesem Wissen lässt sich der Spruch auf dem Plakat verschieden interpretieren. Vielleicht ist der Verfasser einer derjenigen, die das Gefühl haben, dass die Altstadt mit ihrem Leben eigentlich nichts mehr zu tun hat. Viele Menschen hier sagen das. Dass in der Altstadt alles so teuer geworden sei, dass sie sich dort nicht mehr ins Café setzen würden, dass sie Tallinn im Sommer meiden würden.

Es könnte auch sein, dass der Pfeffersteak-Verschmäher die Oberflächlichkeit beklagt, mit der viele Touristen ihrem Reiseziel begegnen. Auch ich erlebe Momente des Kopfschüttelns. Neulich zum Beispiel, als ich den Dialog eines deutschen Ehepaars verfolgte. Beide um die sechzig, sie macht ein Foto von der Nikolaikirche. Er zu ihr: „Du fotografierst die ganze Zeit nur Kirchen.“ Sie zu ihm: „Ja, was Anderes gibt es hier ja auch nicht. Eine ist die Nikolai und eine ist die Olai.“

Es ist wohl das Schicksal von hübschen Innenstädten, dass die Gäste von auswärts sie den Einheimischen ein Stück weit wegnehmen. Und es ist wahrscheinlich das Schicksal des Tourismus, das er oft oberflächlich bleibt. Das Ganze ist, irgendwie, ein Dilemma, zu ändern ist die Situation eigentlich nicht. Unter „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ hat ein anderer unbekannter Mensch die Gegenfrage gekritzelt: „Aber was dann?“ Sie wurde noch nicht beantwortet.

Nachtrag zu: Zwei Tage Tartu


Da ich gefragt wurde, wie der Brunnen mit den küssenden Studenten aussieht: So!

Montag, 6. Juni 2011

Ankündigung: Die Stadtschreiberin im Radio

Noch bevor ich mich auf den Weg nach Tallinn gemacht habe, hat mich Albert Caspari, Redakteur der „Baltischen Stunde“ auf Radio Weser.TV, zum Stadtschreiberprojekt interviewt. Morgen Abend ist zu hören, was ich ihm erzählt habe. Denn im Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe der „Baltischen Stunde“ steht eine Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa, die im April in Berlin stattgefunden hat. Unter dem Motto „Tradition und Internet“ haben dort unter anderem die Kunsthistorikerin Krista Kodres, der Botschafter Estlands in Deutschland, Mart Laanemäe, der Historiker Karsten Brüggemann und der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Tallinn, Mikko Fritze, diskutiert. Auch dieses Gespräch wird in der Sendung zu hören sein. Mehr Infos zum Programm gibt es hier: http://infobalt.blogspot.com/

Zu hören ist die Sendung im Raum Bremen auf UKW 92,5 und im Kabelnetz auf 101,85 sowie als Live-Stream unter http://www.radioweser.tv/index.php?id=33&L=1. Nach der Ausstrahlung ist die Sendung unter: www.baltische-stunde.de zu finden.

Zwei Tage Tartu - Teil 2

Wie vor einem Monat in Tallinn, so sind es auch in Tartu zunächst wieder nur erste Eindrücke, die ich nach ein paar Tagen aus der Stadt mitnehme. Allerdings kann ich nicht anders, als die Stadt sofort mit Tallinn zu vergleichen.

In Tartu wie in Tallinn steht der Dom auf einem Hügel und so tragen auf Deutsch beide Orte den gleichen Namen: Domberg. (Auf Estnisch heißen sie unterschiedlich: Toompea, wörtlich übersetzt Domhaupt, und Toomemägi, Domberg, wobei ein „Berg“ natürlich ein Hügel ist.) Der Domberg – Toompea – in Tallinn war Jahrhunderte lang die Oberstadt, in der sich die Reichen und Mächtigen verschanzten. Noch heute grenzt er sich mit seinen hohen Mauern und stolzen Fassaden von der Stadt ab und wirkt, von unten betrachtet, mitunter unnahbar.

In Tartu hat es so eine strenge räumliche Trennung der sozialen Schichten nie gegeben, hier lebten innerhalb der Stadtmauern Kaufleute und Adelige zusammen. Und der Domberg der Stadt erinnert an ein romantisches Gemälde. Die Ruine der alten Backsteinkirche ist eingebettet in eine Landschaft aus sanften Hügeln und Birkenbäumen, schmale Trampelpfade führen durchs hohe Gras. In der Tat hat man Ende des 19. Jahrhunderts hier und dort ein bisschen nachgeholfen, um die Landschaft dem Zeitgeist anzupassen und Erde aufgeschüttet, eine Grotte angelegt, Brücken gebaut. Wenn man die verschlungenen Wege entlang schlendert, trifft man auf allerlei berühmte Persönlichkeiten aus Bronze. Der Dichter Kristian Jaak Peterson, einer der Begründer der estnischen Nationalliteratur, schreitet durchs Laub, Karl Ernst von Baer, der die Eizelle der Säugetiere entdeckt hat, sitzt in einem Sessel und grübelt.


Im Zentrum von Tallinn sind solche Persönlichkeitsdenkmäler kaum zu finden. Das liegt zum Teil daran, dass in der Sowjetzeit in der Hauptstadt mehr Denkmäler abmontiert und zerstört wurden als in der Provinz. Vor allem aber hat Tartu mehr berühmte Söhne hervorgebracht als Tallinn. Denn während die Universität in Tartu 1632 gegründet wurde, gab es in Tallinn bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine Hochschule.

Interessant ist auch der Vergleich der jeweils bekanntesten Denkmäler. In Tallinn erinnert die monumentale „Siegessäule des Unabhängigkeitskrieges“ an den Kampf um die estnische Unabhängigkeit in den Jahren 1918 – 1920. In Tartu lässt sich ein küssendes Studentenpaar unter einem Regenschirm fröhlich vom Wasser eines Springbrunnens beregnen.

Tartu ist die Stadt des Geistes und der Ideen, Tallinn die Stadt der Macht und der Taten. Politiker, Geschäftsleute, Kulturschaffende … bis heute ist es so, dass die wichtigen Persönlichkeiten des Landes fast ausnahmslos in Tartu studiert haben. Die Menschen in Tartu sagen, dass das Leben in ihrer Stadt geruhsamer ist als in Tallinn. Das passt zum Emajõgi, der durch die Stadt fließt. Tallinn liegt an der Ostsee und bildet das Tor zur Welt.

Es musste wahrscheinlich so sein, dass Tallinn seine Stadtschreiberin zuerst nach Tartu schickte.