Unten bei mir im Haus gibt es einen Buchladen. Das gehört sich so, für das Schriftstellerhaus, auch wenn es nicht mehr der gleiche ist, wie in den sowjetischen Jahrzehnten, sondern ein Antiquariat, das erst vor einigen Jahren eröffnet hat. Es gibt dort, natürlich, viele Bücher, vor allem auf Estnisch, aber auch englische Taschenbücher und russische Bilderbücher. Man kann sich dort hinsetzen und einen Kaffee aus dem Automaten trinken. Touristen finden Postkarten und Briefmarken, Musikliebhaber alte Platten. Und in einer Ecke stehen zwei Regale mit besonders abgefingerten und zerfledderten Büchern – das ist die deutschsprachige Abteilung des Ladens.
Bislang unentdeckte Schätze sind dort nicht zu heben, nein. Wenn deutsche Touristen kommen und fragen, ob es einen gut erhaltenen Stadtplan aus dem 18. Jahrhundert gibt, oder den Nachlass einer deutschbaltischen Adelsfamilie, oder irgendwelche handgeschriebenen Dokumente, ärgert sich Maiu Varner ein bisschen. Dann antwortet die Mitarbeiterin des Ladens, dass so etwas ins Museum gehöre, und nicht hier in die Regale. Und dann verlieren die meisten Kunden schnell das Interesse an den deutschen Büchern.
Das allerdings ist ein bisschen schade, denn ein vergnüglich-besinnliches Stündchen kann man mit ihnen allemal erleben.
Zunächst fallen einem so sperrige Titel wie
Abwasser-Hauskläranlagen und Siedlungsabwässerverwertung (1938),
Jahrbuch der Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1911 (1911) oder
Wirtschaftslehre des Forstwesens (1943) ins Auge und erinnern daran, dass die Deutschbalten fast alle zur gebildeten Oberschicht gehörten.
Dann gibt es die Widmungen, die in Schönschrift erklären, wer wen zu welchem Anlass mit einem Büchlein bedacht hat. Zur Konfirmation gab es einen Band mit geistvollen Gedichten, der Schwägerin wurde ein Kochbuch vermacht und in den Roman
Zur Neujahrszeit im Pastorat zu Nöddebo (1884) ist geschrieben: „Meiner lieben lieben Galja ein kleines Zeichen, dass ich ihrer in Freundschaft gedenken und sie nicht vergessen werde. Die alte Hessinka.“ Vielleicht ist das Buch das letzte Ding, was an die innige Verbundenheit der beiden Damen erinnert …
Kleine Aufkleber und Stempel verweisen auf die einstigen Besitzer und Verkäufer der Bücher: „Vereidigter Rechtsanwalt E. R. Koch, Reval“ hat sich
Amerika und der Amerikanismus (1927) zu Gemüte geführt, bei „Emil Treufeldt, Buch & Musikalien-Handlung Pernau“ war die Zeitschrift
Der Angelsport (1933) erhältlich. Natürlich, die Leute gingen auch früher gerne Angeln und haben sich über die neuesten Ruten und Fischkrankheiten informiert. Auch
So spielt man Tennis (1927),
Balkongärtnerei und Vorgärten (1922) und einige Bücher zum Stricken und zum Singen sind Überbleibsel des Teils vom Leben, der auch früher ein heiterer und banaler Alltag war. (Und wieder taucht Renata auf, die so oft mit Olaf Tennis gespielt hat.)
Besonders gerne mag ich das Buch
Heim und Herd, das 1901 in Riga erschienen ist. Dicht an dicht sind die Leerseiten am Anfang und Ende des Buches mit fein säuberlich notierten Kochrezepten beschriftet: Eins für Kürbissuppe, eins für Piroggenteig, eins für Apfelsinensaft und eins für Okroshka (das ist eine russische Gurkensuppe). Im Lauf der Jahre hat das Nachschlagewerk so manchen Soßenspritzer abbekommen.
Zu guter Letzt entdecke ich die vielen, vielen Karten und Broschüren zu Italien, sie alle wurden Anfang der 1930er Jahre vom italienischen Fremdenverkehrsamt herausgegeben.
Die italienische Riviera,
Die oberitalienischen Seen,
By mail motor coach to Italy … Im Heftchen
Sommer- und Herbstferien in Italien ist eine Panoramaansicht von Meran zu sehen und darunter steht der Satz: „Die erste Reise nach Italien bleibt sicher nicht die einzige, denn wer Italien einmal gesehen hat, sehnt sich immer wieder dahin zurück.“ Ich wünsche dem einstigen Besitzer dieser Broschüre posthum, dass die erste Reise stattgefunden hat.