Post aus und nach Mainz

Freitag, 26. August 2011:
Brief von Frank von Auer an Sarah Jana Portner


[...] Zunächst ein Nachtrag zu Ihrer Erinnerung an Ilon Wikland: Ganz in der Nähe der kleinen Stadt Hapsal liegt das Anwesen Kadarpiku. Dort lebte seit 1932 Ants Laikmaa; und dort starb er zehn Jahre später. Der 1866 geborene Maler ist einer der bedeutendsten Künstler Estlands. Er hat an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert (Paul Klee!), gründete 1903 in Reval eine Atelierschule und brachte den Impressionismus in die damals noch zaristische Ostseeprovinz. [...] In dem großen Park von Kadarpiku steht noch heute das Haupthaus im Jugendstil, in dem Laikmaa sein Atelier hatte. In den hufeisenförmig angeschlossenen Nebengebäuden waren seine Schüler untergebracht. Einer von ihnen war mein Schwiegervater, der deutschbaltische Künstler Gunter Wechterstein. Vermutlich war er der einzige Deutsche in dieser estnischen Künstlerkolonie.

Zum 125. Geburtstag machte sich von Tallinn aus eine Schar kunstbegeisterter Verehrer mit dem Bus nach Kadarpiku auf. [...] Dann [...] meldete sich mein über 80jähriger Schwiegervater zu Wort, der im Veranstaltungsprogramm gar nicht vorgesehen war – damals einer von drei noch lebenden Schülern, die zum Jubiläum eingeladen worden waren. In fließendem Estnisch erzählte er vom Leben in der Künstlerkolonie, seinem Lehrer und den Studienkollegen. Natürlich verstand ich nichts. Aber der alte Herr sprach so lebendig, humorvoll und mit so viel Wärme, dass er das Publikum im vollen Saal mitriss, das ihm standing ovations spendete. [...] Übrigens wurden die drei damals noch lebenden Schüler 1991 eingeladen, jeweils drei ihrer eigenen Arbeiten zur Laikmaa-Ausstellung aus diesem Anlass in Tallinn beizusteuern. Sie werden noch heute im Kunstmuseum verwahrt.

Ihre kurze Rückschau auf den Hitler-Stalin-Pakt und die Umsiedlung der Deutschbalten ist schwerer zu kommentieren. Keineswegs alle Deutschbalten trennten sich 1939 schweren Herzens und mit Tränen in den Augen von ihrer Heimat. Seit Anfang der 30er Jahre hatte es auch in Estland die sogenannte „Bewegung“ gegeben – zumeist junge Menschen, die sich als Auslandsdeutsche einer idealistischen Vorstellung vom Nationalsozialismus verschrieben hatten. Sie engagierten sich im „Landdienst“ und leisteten freiwillig insbesondere landwirtschaftliche Arbeit auf den „Restgütern“, die den Deutschen nach der Landreform und ihrer weitgehenden Enteignung verblieben waren. Sie verstanden ihren Einsatz als Dienst an der „Volksgemeinschaft“. Nach der Tagesarbeit trafen sie sich am Lagerfeuer, lasen deutschtümelnde Texte und Schulungsmaterial der NS-Propaganda, sangen Volkslieder und die einschlägigen neuen Lieder aus Deutschland, veranstalteten Laienspiele, tanzten und verliebten sich. Sie waren „dem Führer“ wie „Fliegen auf den Leim“ gegangen, wie der Revalenser Dichter Robert Gernhardt in seinem „Fliegengedicht“ formuliert. Als der „Führer“ auch die Deutschbalten „Heim ins Reich“ rief, folgten viele mit leuchtenden Augen. Manchen erschien die Umsiedlung in das gerade besetzte Polen als Aufbruch in eine glänzende Zukunft, als großes Abenteuer mit Lebenschancen, die sie als Minderheit im estnischen Staat nicht mehr für sich sahen. Und wie alle Deutschbalten fürchteten sie die drohende sowjetische Herrschaft. – Aus Gründen der historischen Wahrhaftigkeit darf auch nicht verschwiegen werden, dass es Deutschbalten unter den Führungsfiguren des NS-Apparates und unter den Kommandeuren der mordenden Einsatzgruppen der SS gab.

Eine gewisse konservative, oft kirchlich geprägte Grundeinstellung bewahrte vermutlich die Mehrheit der Deutschbalten vor der NS-Gefolgschaft. Und es gab auch den wirklichen Widerstand: Alexis Freiherr von Roenne und Wessel Freiherr Freytag von Loringhoven wurden um ihr Leben gebracht. Pastor Harald Poelchau betreute die Widerstandskämpfer des 20. Juli in der Haftanstalt Plötzensee und bewies ihnen unter Lebensgefahr seine Solidarität. Sie bleiben unvergessen. [...]

Samstag, 4. Juni 2011:
Brief von Britta von Auer an Sarah Jana Portner


[...] vor wenigen Jahren konnte ich meine eMails noch selbst schreiben. Ich hatte mit meinen 85 Jahren eine etwas labile Freundschaft mit dem PC geschlossen. Mit meinen 96 machen nun meine Augen leider nicht mehr mit. Aber mein Sohn hat mir Ihre Berichte vorgelesen. Sie sind lebendig und liebenswürdig und wecken eine Fülle von Erinnerungen an meine Heimatstadt.

Kalamaja (Fischerhaus) muss sich völlig gewandelt haben. Wir Deutsche waren früher eigentlich nie dort – in dieser Art „Unterstadt“, in der man nicht mit „den Schmuddelkindern“ spielte (Degenhardt). Man betrat es auch nicht, wenn „man vom Meer kam“, wie Sie schreiben. An der Grenze zu Kalamaja, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofes, habe ich einmal für kurze Zeit gewohnt. Von dort wie vom Hafen aus empfing uns die matronenhafte „Dicke Margarethe“ mit ihren schützenden Mauern. So kamen wir in die uns vertraute Altstadt. [...]

Ich war Schülerin der Elisenschule in der Luisenstraße, gegenüber der Karlskirche, am Hang des Antonisberges. Im Sommer dauerte die Schulzeit von 8 – 13, im Winter von 9 – 14 Uhr. Nach der Schule besuchte ich meine Mutter in der Langgasse (Lai t.), die im Stempel'schen Weißwarengeschäft arbeitete, um ihr brühwarm zu erzählen, was sich am Vormittag ereignet hatte. Nun können Sie sich meinen täglichen Schulweg vorstellen, nach dem Sie gefragt hatten. Von anderen Routen erzähle ich vielleicht später. - Nur noch zu meinem Lieblingsort: Es war die Grünanlage vor der Stadtmauer, wo man von Ziegelskoppel aus (Kopli) den herrlichen Blick auf die Türme, die damals noch nicht renoviert, sondern imposante Ruinen waren, den rückwärtigen Teil des Schlosses auf dem Domberg und den Langen Hermann hatte. [...]

Mittwoch, 25. Mai 2011:
E-Mail von Frank von Auer an Sarah Jana Portner


[…] Meine Mutter, Britta von Auer, […] lebte in Reval bis zum November 1939 – zunächst mit ihrer Mutter in der Mauerstraße (estnisch Müürivahe); danach in der Breitstr. (estn. Lai t.), wo auch ich als Letzter unserer Familie geboren wurde. Drei meiner fünf Geschwister kamen in Posen, die anderen nach der Flucht in Westdeutschland zur Welt. Wir gehörten in Reval zur ev. Gemeinde von St. Olai, in der meine Eltern getraut und ich getauft wurden. Pastor war damals Erich Walter.

Wie Sie wissen, wurden die Deutschbalten zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach dem Hitler-Stalin-Pakt mit seinen geheimen Zusatzprotokollen „umgesiedelt“ – in das gerade besetzte Polen, die meisten in den sogenannten „Warthegau“. Dennoch hieß die Parole: „Heim ins Reich“. Meine Eltern kamen (mit mir) per Schiff am 14. November 1939 in Stettin an, lebten zunächst in einem Sammellager, dann in der Herderstr. und schließlich in der Schubertstr. in Posen – bis zur Flucht im Januar 1945. „Vertriebene“ sind also die Deutschbalten nicht.

Meine Mutter war zuletzt im Sommer 1993 in Reval/Tallinn. Dort feierten wir den 82. Geburtstag meines Vaters – im Majasmokk, dem früheren Café Stude, in dem sich die Verlobten oft getroffen hatten. Gäste waren übrigens auch eine größere Zahl meiner estn. Freunde. Ich selbst bin häufiger in Estland, weil ich in unserem Vorstand auch das Estland-Referat betreue; zuletzt in diesem Winter. Ich habe dort unsere Ausstellung „Das Baltikum und die Deutschen“ in Werro/Võru eröffnet […]. Da auch ich ganz gut photographiere hat meine Mutter einen Eindruck von den Veränderungen in der Stadt. Die Altstadt sieht wie früher aus – vielleicht sogar schöner, weil sie vielfach renoviert worden ist. […]

Mittwoch, 18. Mai 2011:
E-Mail von Sarah Jana Portner an Frank von Auer


[…] Wo hat Ihre Familie gewohnt? Sie haben keine eigenen Kindheitserinnerungen mehr an Reval, aber aus den Erzählungen Ihrer Familie wissen Sie sicherlich Einiges zu berichten. Ja, und wenn Sie diesen Brief Ihrer Mutter vorlesen, dann fragen Sie sie doch, welche Erinnerungen Sie an Reval hat. Was waren ihre typischen Wege im Alltag, hatte sie einen Lieblingsort, welche Erinnerung an ihre Heimatstadt ist die stärkste?

Wann war Ihre Mutter das letzte Mal hier? Und wann Sie? Wie oft sind Sie in Estland oder Lettland? Weiß ihre Mutter, ob und wie sich die Stadt Reval / Tallinn verändert hat? […]