Donnerstag, 24. November 2011

Für eine nette Stunde auf dem Sofa

Weihnachtsgeschenke besorgen? I wo! Lieber nochmal an Tallinn denken. Sich an Stadtschreiberzeiten erinnern und an wunderbare Entdeckungen. In Ruhe Fotos anschauen, ein bisschen was lesen, wieder etwas Neues erfahren. Immer noch neugierig sein.

Meine Foto-Ausstellung „In Tallinn leben – Geschichten von Menschen und Häusern“ ist jetzt auch im Netz zu sehen, mit allen Bildern und Texten. Hier ist die deutsche Version zu finden, hier die estnische Version. Viel Vergnügen damit!

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Noch ein Gruß an die Leser

Jetzt bin ich schon seit einer Woche nicht mehr in Tallinn. Und seit einer Woche keine Stadtschreiberin mehr.

Bei den meisten Menschen, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise dazu beigetragen haben, dass dieses Projekt zu dem wurde, was es nun ist, habe ich mich bereits persönlich bedankt. Bei meinen Lesern kann ich mich nur im Einzelfall persönlich bedanken, denn die meisten von ihnen kenne ich nicht. (Wobei sich mir bei der Abschiedslesung ebenso wie bei der Ausstellungseröffnung ein paar Leser vorgestellt haben. Das hat mich sehr gefreut!)

Deshalb geht an dieser Stelle noch ein herzlicher Gruß und ein Dankeschön an alle Leser dieses Blogs: Ich habe oft an Euch gedacht! Schön, dass Ihr diesen Blog gefunden habt, dass Ihr in ihm gestöbert habt, dass Ihr ihm die Treue gehalten habt. Gut, dass Ihr ihn vielleicht weiter empfohlen habt. Vielen Dank für die zahlreichen netten und anregenden und bereichernden Kommentare! Tschüß oder Ciao, wie die Esten sagen, alles Gute und vielleicht bis einmal wieder.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Fotonachtrag – Ausstellungseröffnung

Wie versprochen, hier ein paar Eindrücke von der Eröffnung der Ausstellung „In Tallinn leben – Geschichten von Menschen und Häusern“ am 26. September 2011 in der Akademischen Bibliothek in Tallinn:








Der Reihe nach: Grußworte von Andres Kollist, dem Leiter der Akademischen Bibliothek, und mir, der Tallinner Stadtschreiberin. Erste neugierige Blicke der Besucher. Viele Dankeschöns. Zum Beispiel an Nele Meikar, die nicht nur den Blog sondern auch die Texte der Ausstellung übersetzt hat. Oder an Michael Zinsmeister als einen derjenigen, die bereit waren, sich von mir fotografieren zu lassen.

Fotos: Vahur Afanasjev. Weitere Bilder gibt es auf der Website der Akademischen Bibliothek.

Mittwoch, 28. September 2011

PS: Bis bald also!

Abschiede, die schwer fallen, ziehen sich oft in die Länge. Ich werde mich aus Deutschland noch melden. Zwar nicht mehr mit echten Posts, denn die darf ich nur in Tallinn schreiben. Aber ich will noch Bilder von der Ausstellungseröffnung gestern und der Abschiedslesung am Freitag einstellen. Bis bald also!

Letzte Tage, erste Male und Vollendungen

Die letzten Tage in Tallinn fühlen sich nochmal an wie eine kleine Ewigkeit. Erstaunlicherweise waren sie weniger von letzten Malen geprägt als von ersten Malen. Erst hatte ich gedacht, ich müsste alle guten Orte nochmal aufsuchen. Nochmal mit dem Rad zum Schwimmen nach Paljassaare, nochmal in den bunten Park von Kadriorg, nochmal in die Bäckerei mit den Rosinenschnecken. Doch an all diesen Orten war ich bereits zu einem Zeitpunkt zum letzten Mal, als ich dies noch nicht ahnte.

Stattdessen also: Das erste Mal im Gottesdienst der deutschen Kirchengemeinde, das erste Mal auf ein Bier im Hell Hunt, das erste Mal im botanischen Garten, das erste Mal in einer Ausstellung über Kulturschaffende in Estland. Es fühlt sich an wie immer. Ich bin einfach ganz da und entdecke die Stadt. (Mein Herz will noch nicht verstehen.)

Erste Male in diesen letzten Tagen. Sie zeigen mir ein weiteres Mal, dass meine Bekanntschaft mit Tallinn vielleicht gerade erst begonnen hat. Dieser Blog erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Das wollte er nie. Aber ich denke, er ist so weit gediehen, dass er nun zu Ende gehen darf.

Ich könnte und wollte noch so Vieles schreiben. Und andererseits ist eigentlich alles gesagt.

Im Moment habe ich die Gesichter der Menschen noch ganz unmittelbar vor meinen Augen. Und ich werde sie auch nicht so schnell vergessen. Und selbst wenn irgendwann die Gesichter der Menschen vor meinem inneren Auge zunehmend unscharf werden und verblassen, werde ich noch immer an das Wesen der Menschen denken.

Auch hier gilt: Eigentlich ist alles gesagt, ich habe bereits erzählt, welche Menschen ich hier kennengelernt habe. So manche wurden mir zu Freunden, Ideengebern, geheimen Verbündeten, Kraftspendern, Gute-Laune-Machern oder Vorbildern.

So hänge ich meinen Gedanken nach.

Gestern Abend um Mitternacht auf dem Domberg. Die eine Stadt schläft friedlich, die andere Stadt will noch nicht ins Bett und glitzert in der pechschwarzen Nacht. Eine letzte Fähre aus Helsinki läuft im Hafen ein. Die Linden rascheln mit ihren Blättern und Kati erzählt mir, dass im Winter manchmal der Nebel über der Ostsee hängt.

Heute Nachmittag irgendwo in der Stadt. Gelbe Blätter liegen auf dem kugelrunden Kopfsteinpflaster, füllen die Ritzen zwischen den Steinen. Ein paar Straßenarbeiter haben Laubhaufen zusammen gerecht und sitzen etwas abseits auf einer Bank und machen eine Pause. Ich muss mich beherrschen, damit ich nicht in die Blätterberge hineinlaufe und sie durcheinanderbringe und auf der Straße verteile.

Auch ich hatte im Geheimen einen Wunsch für die letzten Wochen, schaute, wenn ich an ihn dachte, zum Himmel. Gestern Morgen hat er sich erfüllt. Ich liege noch im Bett, gerade hat mein Wecker geklingelt, ich bin sehr müde. Da höre ich durch das gekippte Fenster genau den Lärm, auf den ich gewartet habe. Ich hüpfe aus dem Bett, schalte die Kamera ein und warte an meinem Fenster, schaue nach oben. Es dauert noch ein paar weitere Sekunden, dann sind sie da: Schnattern, flattern und verschwinden.

Im Mai sind zwei Mal Zugvögel über meinen Kopf hinweg gezogen. Sie kamen nach dem Winter zurück. Nun fliegen sie in die andere Richtung, wieder in den Süden.

Ich bin genau so lange in Estland geblieben wie ein Zugvogel.

Und ein solcher kommt wieder.

Ich war's nicht

Das Angebot von Juhan Kreem war nett und provokativ: „Kommen Sie zu uns ins Stadtarchiv, dann zeige ich Ihnen, was ich unter einem Stadtschreiber verstehe!“ Natürlich konnte ich diese Einladung nicht ausschlagen.

Juhan Kreem ist Historiker und hat für seine Promotion zum Verhältnis zwischen der Stadt Reval und dem Deutschen Orden als Landesherren geforscht. Seit 1996 arbeitet er als Forscher im Tallinner Stadtarchiv. Den Raum, in den mich Juhan Kreem bei meinem Besuch dort hineinführt, nennt er „Schatzkammer“. Doch er glitzert ganz und gar nicht und sieht – pardon – eher wie ein Heizkeller aus. An der Decke verlaufen dicke Lüftungsröhre, hinter zwei Türen stehen große metallene Schubladenschränke. Hier lagern die wichtigsten Dokumente der Tallinner Stadtgeschichte: Prächtige Urkunden, die mit schweren Siegeln dekoriert sind, Messebücher und Ablassbriefe, Unterlagen der Kämmerei. Die älteste Urkunde ist eine Übertragung von Rechten an das Johannes-Siechenhaus aus dem Jahr 1237. Die wichtigste ist wahrscheinlich die Verleihung des lübischen (also Lübecker) Stadtrechts im Jahr 1248.


Wie ich so die verschiedenen handschriftlich mit Tinte und Feder abgefassten Dokumente betrachte, begreife ich schnell: Im Mittelalter waren die Stadtschreiber ziemlich genau das Gegenteil von mir: Nämlich juristisch gut ausgebildete Menschen, die in der Verwaltung der Stadt arbeiteten und gewissenhaft die tägliche Arbeit dokumentierten. Ihre Tätigkeit besaß einen durch und durch technischen Charakter, an literarische Selbstverwirklichung dachten sie nicht.

Das älteste umfassende Werk eines Tallinner Stadtschreibers ist, wenn man so will, ein so genanntes „Denkelbuch“ für die Jahre 1333 – 1374. Es ist ein Notizbuch, in dem ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung all das festgehalten hat, was nicht zu vergessen war: Ratsherren- und Steuerlisten, Vermerke über den Verleih von Kriegsrüstungen und die banale Notiz, an wen man die Schlüssel zu den Stadttürmen ausgegeben hat.


Von ihrer späteren Bedeutung als Chronisten konnten die Stadtschreiber nichts ahnen. Sie erfüllten nur ihre Pflicht und wussten nicht, dass wir ihr Geschreibsel Jahrhunderte später als Dokument der Zeitgeschichte auswerten und in gut gesicherten Vitrinen ausstellen würden. Welche Quellen werden in 500 oder 600 Jahren für das Jahr 2011 untersucht werden? Dieser Blog sicherlich nicht. Ob es den Historikern der Zukunft überhaupt gelingen wird, die Informationsflut unserer Zeit zu sortieren?

Früher war wenigstens Pergament ein knappes Gut und damit ein Filter, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Im Jahr 1347 hat man auf einer Pergamentrolle alle Rechte und Privilegien der Stadt Reval zusammengetragen. Fein säuberlich wurde sie eng beschriftet; wäre das Ganze am Computer ausgedruckt worden, hätte man bestimmt Schriftgröße 9 wählen müssen. Entsprechend pragmatisch recycelte man katholische Messebücher, nachdem die Reformation Estland erreicht hatte: Ihre Seiten wurden gebleicht und für Kaufmannsbücher wieder verwertet. So schimmern zwischen manchen Rechnungen über erhaltene Waren noch die Noten liturgischer Gesänge durch.

Doch aller Pedanterie zum Trotz: Eine gewisse Vorliebe für das Schöne und Nebensächliche konnten auch die mittelalterlichen Stadtschreiber nicht unterdrücken. Der Übersichtlichkeit halber kennzeichneten sie die einzelnen Posten in den Rechnungsbüchern oft mit Symbolen – sozusagen anstatt Post-its zu verwenden. So mancher Jurist zeigte wahrhaftig ein künstlerisches Talent, wenn er mit geschicktem Federstrich Waagen, Türme, Hufeisen oder Flaschen skizzierte. Und es blieb nicht immer bei den Symbolen zum schnellen Auffinden bestimmter Posten: Zwischendurch auch mal den Kollegen mit seiner Grimasse zu porträtieren, das konnten sich die Stadtschreiber nicht verkneifen.

Na dann. Da muss ich das Amt des Stadtschreibers im Internet-Zeitalter wohl doch nicht gänzlich in Frage stellen. Man braucht eben beides, die Zahlen und die wichtigen Fakten und die schönen Worte und die Nebensächlichkeiten.

PS: Bilder Nummer 2, 3 und 4: Stadtarchiv Tallinn.

Dienstag, 27. September 2011

Ankündigung: Vier Interviews

Gleich mehrere Interviews mit mir gibt es in diesen Tagen in den estnischen Medien zu lesen oder zu hören. Das erste ist gestern in der Zeitschrift Pealinn erschienen, es war eins, das ich schon im August gegeben habe. Aber die meisten Fragen hätte ich wahrscheinlich noch immer ähnlich beantwortet, macht also nichts, dass es erst jetzt gedruckt wurde. Seit gestern Abend sind außerdem in der Online-Ausgabe des Postimees ein kurzer Infotext und ein Interview mit mir zu finden. Es ist ganz aktuell, das Gespräch dazu fand erst gestern Vormittag im Café NOP in Kadriorg statt. Und dann haben mich schließlich noch zwei Hörfunkjournalisten gestern nach der Ausstellungseröffnung befragt. Zuerst Kristel Kossar (die übrigens auch auf einem der Fotos der Ausstellung zu sehen ist) und dann Gunnar Bolin, ein Journalist aus Schweden. Was ich Kristel Kossar erzählt habe, war heute Morgen um neun auf Radio Kuku zu hören. Wann das Interview im schwedischen Radio zu hören ist, weiß ich noch nicht, werde ich aber hoffentlich erfahren. (Vielleicht können ja manche Leser Schwedisch? Ich kann’s jedenfalls nicht, Gunnar Bolin kann gut Deutsch.)

Nein, das ist noch kein Abschiedspost, keine Sorge. In meinem Kopf ist der Abschiedspost schon fast geschrieben und das passende Foto ist auch schon gestern Früh um halb acht entstanden, aber tippen muss ich den Text halt noch. Mal sehen, wann ich Zeit und Ruhe finde. Jetzt muss ich auf jeden Fall erstmal wieder hinaus in die Stadt, Besorgungen erledigen. (Bei strahlendem Sonnenschein nach vielen Tagen Regen.)

Sonntag, 25. September 2011

Ein Vorgeschmack

Wie versprochen, hier vorab ein Eindruck von dem, was es in der Ausstellung zu sehen gibt:

Während die meisten Bilder, die die Besucher Tallinns machen, im Vorübergehen aufgenommen sind, möchte ich auch Bilder zeigen, die nach dem Hineingehen entstanden sind. Damit setze ich in dem Moment an, in dem sich Reisende auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick über den Zaun zu werfen oder versuchen, durch die Gardine kurz in ein Wohnzimmer zu schielen. Und in dem Moment, in dem sie, wenn sie Glück haben, die Menschen kennenlernen, die in einer Stadt leben.

Folgerichtig präsentieren sich die Fotos immer im Doppelpack, mit einer Aufnahme von außen und einer Aufnahme von innen. Die dazugehörigen Texte erzählen jeweils eine kurze Geschichte, die aus zwei Teilen besteht. Einer spielt in der Vergangenheit, einer in der Gegenwart. Es liegt am Betrachter, diese Geschichte beliebig fortzuspinnen.


Zum Beispiel mit Bildern und Texten wie diesen:


Für die Gebäude auf der Südseite der Vaimu-Gasse ist die Existenz für das frühe 15. Jahrhundert belegt, als in einem Grundbuch von „Häusern zwischen der Langen und der Kleinen Straße“ (letztere wohl die Vaimu-Gasse) die Rede ist. Noch ist nicht der ganze Komplex renoviert und bauhistorisch erforscht worden, so dass in den kleineren Häusern rund um den Innenhof noch interessante Entdeckungen zu machen sind. Vielleicht begründet diese Tatsache den romantischen Charakter des Hinterhofs, der durch den wilden Wein, der die Mauern berankt, noch verstärkt wird.


Eine Holztreppe führt vom Innenhof in die gemeinsame Werkstatt eines Schusters und eines Scherenschleifers. Slava Hanov ist der Scherenschleifer und arbeitet seit 31 Jahren in seinem Laden. Politische Wechsel und Wirtschaftskrisen ließen sein Geschäft beinahe unberührt, genug Kundschaft gab es immer. Friseure lassen ihre Scheren schärfen, Köche ihre Messer, Chirurgen ihr Operationswerkzeug. Und manche Landsleute, die im Ausland leben, liefern im Urlaub ihre Nagelknipser ab – in den Städten, in denen sie arbeiten, gibt es keine Scherenschleifer mehr.



Der Stadtteil Nõmme ist eine echte Gartenstadt und versteckt sich zwischen Kiefernwäldern. In diesem Haus in der Väikese-Illimari-Straße lebten gleich zwei berühmte Literatenpaare. Zuerst Marie Under und Artur Adson, die auf dem Grundstück 1933 ein Häuschen errichtet haben. Als diese 1944 nach Schweden geflüchtet waren, überließen sie ihr Heim ihren Freunden Elo und Friedebert Tuglas. Die lebten dort bis 1971, erweiterten das Haus noch um einen Anbau und liebten, wie schon ihre Vorgänger, besonders den Garten, in dem seinerzeit über 100 verschiedene Rosen blühten.


Von den Rosen sind kaum welche erhalten geblieben. Doch die Bibliothek der Schriftsteller gibt es noch und sie steht heute der Allgemeinheit zur Verfügung. Mit ihren rund 20 000 Büchern ist sie eine wichtige Anlaufstelle für Wissenschaftler, die in einem kleinen Lesesaal arbeiten können. Und wenn einer von ihnen nicht weiß, wo sich das dringend benötigte Buch versteckt, steht Eha Rand ihm mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem führt sie Besucher durch die Räume, denn das ehemalige Literatenhaus ist nicht nur Bibliothek sondern seit 1976 auch ein Museum.

Samstag, 24. September 2011

Ankündigung: „In Tallinn leben – Geschichten von Menschen und Häusern“

Neulich habe ich es bereits angedeutet, nun verkünde ich ganz offiziell: Vom 26. September an ist in der Akademischen Bibliothek in Tallinn die Ausstellung „In Tallinn leben – Geschichten von Menschen und Häusern“ zu sehen!

Auf 24 Bildpaaren, jeweils einer Außenaufnahme und einer Innenaufnahme, präsentiere ich Tallinn, wie ich es während der Erkundungstouren dieses Sommers erlebt habe. Fast alle Touristen fotografieren begeistert die historische Kulisse Tallinns und ihre Bilder sind in unzähligen Fotoalben und auf Festplatten als Urlaubserinnerung verewigt. Ich wollte diese Fotos ergänzen und stelle auch die Menschen vor, die in Tallinns alten Häusern arbeiten und wohnen.

Die Eröffnung der Ausstellung am Montag, 26. September, um 17:00 Uhr ist gleichzeitig die Abschlussfeier des Projekts „Stadtschreiberin Tallinn 2011“. Ich werde kurz erzählen, wie die Ausstellung entstanden ist, anschließend gibt es einen Umtrunk im Café der Bibliothek.

Vom 26. September bis zum 22. Oktober ist die Ausstellung in der Akademischen Bibliothek zu sehen (Rävala puiestee 10; Öffnungszeiten Montag bis Freitag 10 – 19 Uhr, Samstag 10 – 15 Uhr). Anschließend wird sie vom 1. bis zum 30. November im Seniorenbegegnungszentrum „Venü“ in Kadriorg ausgestellt (Jaan Poska 15; Öffnungszeiten täglich 10 – 18 Uhr). Schließlich wandern die Bilder im Dezember weiter in die Nationalbibliothek und sind dort vom 5. bis zum 23. Dezember vor dem deutschen Lesesaal zu sehen (Tõnismägi 2, 7. Stock; Öffnungszeiten Montag bis Freitag 11 -20 Uhr, Samstag 12 - 19 Uhr).

Die Texte zu den Bildern sind in estnischer Sprache verfasst, aber es werden zusätzlich Handouts in deutscher Sprache ausliegen. Somit lade ich auch alle Leser dieses Blogs, die in Tallinn leben oder die Stadt demnächst noch besuchen, herzlich ein, sich die Ausstellung anzusehen.

Die deutsche Version der Ausstellung wird voraussichtlich Ende März 2012 auf den Usedomer Literaturtagen zu sehen sein und soll auch über diesen Ort hinaus auf Wanderschaft gehen. Genaueres kündige ich natürlich rechtzeitig hier an. Außerdem werde ich versuchen, das pdf mit den Fotos der Ausstellung online zu stellen. Ein Besuch des Blogs auch über meine Abreise aus Tallinn hinaus dürfte sich also lohnen!

Ein Vorgeschmack auf das, was es in der Ausstellung zu sehen gibt, folgt in Kürze. Zuvor aber geht an dieser Stelle noch ein HERZLICHES DANKESCHÖN an alle Menschen, die mich bei der Realisierung der Ausstellung unterstützt haben – insbesondere an diejenigen, die bereit waren, sich fotografieren zu lassen! Ich bin froh, dass die Ausstellung Wirklichkeit geworden ist.

Überraschungen, immer noch


Gestern Abend hat jemand das Rathaus verhext. Lauter Blubberblasen sind auf seinen Mauern umhergewandert. Es ist wie immer: Ich laufe durch die Stadt und werde überrascht. Keine Ahnung, wer oder was nun wieder hinter dieser Aktion steckt, aber auch sie hat für Verblüffung gesorgt.

Mittwoch, 21. September 2011

Ankündigung: Abschiedslesung am Freitag

Irgendwie ist die Bezeichnung „Abschiedslesung“ merkwürdig. Denn die Lesung am Freitag ist eigentlich auch meine erste offizielle und öffentliche Lesung in Tallinn. Der spontane Vortrag einer Kross-Novelle auf den Domus Revaliensis Tagen und das Treffen mit den Schülern der 21. Schule neulich waren doch etwas Anderes. Andererseits ist die Veranstaltung noch viel mehr als meine erste Lesung meine letzte Lesung in Tallinn. Denn in einer Woche fliege ich zurück, daran gibt es nichts zu rütteln.

Wie dem auch sei, die Zeit verfliegt und wir sollten sie nutzen und dies ist eine herzliche Einladung: Am Freitag um 15 Uhr lese ich im deutschen Lesesaal der Estnischen Nationalbibliothek (Tõnismägi 2, 7. Stock) einige Texte aus meinem Blog und freue mich dann auf das Gespräch mit meinen Zuhörern.

Und noch ein Nachtrag am 20.Oktober 2011:

Hier ist das Erinnerungsfoto vom 23. September 2011, das war ein schöner Nachmittag!

Dienstag, 20. September 2011

Lektüre für Tänzer

Der Herbst zieht ins Land, es ist kalt und windig und fast würde ich mich mit einem Buch in einem Berg Kissen vergraben und sieben Tage lang lesen. Zumindest für eine kurze Leseprobe möchte ich mir heute Abend die Zeit nehmen:

Mein Lieber, setze dich zu mir. […] Ich möchte dir ein paar Geschichten erzählen: Geschichten aus einer alten Stadt hoch droben im Norden, hoch droben im Osten, einer Stadt am Meer. Aber es sind nicht Geschichten von dieser Stadt: es sind Geschichten von ihren Toten.

So beginnt Werner Bergengruen sein Buch „Der Tod von Reval“. Er oder eben der Erzähler schnappt sich an einem ungemütlichen Herbstabend sein Gegenüber in der Kneipe und tischt diesem allerlei Schelmengeschichten rund ums Sterben auf. Sie sind durchweg makaber und oft ziemlich heiter. Da legt man den Verstorbenen schon mal in Branntwein ein, da wird eine Herberge für Scheintote eröffnet und da flüchtet ein Trunkenbold, der einer Schlägerei davonläuft, zu einer Toten ins Bett.

Dem ganzen Buch vorangestellt sind zwei Zitate aus dem Text von Notkes Totentanz. Wenn man also Bergengruens Geschichten als Antwort auf dieses Gemälde verstehen möchte, kann man sie so deuten, dass sie den Menschen die Angst vor dem Tod dadurch zu nehmen versuchen, dass sie ihn relativieren. Wo sich die Teilnehmer von Notkes Totentanz so schrecklich fürchten, setzt Bergengruen dem eine kräftige Prise skurille Komik entgegen. Mitunter klappt das ganz gut.

Viel stärker als all die denkwürdigen Schelmengeschichten ist mir allerdings die folgende Passage aus der Einleitung in Erinnerung geblieben. Denn ich glaube, die ruhige Ehrfurcht, die ich verspüre, wenn ich durch Tallinn laufe, hat manchmal auch mit diesem Gedanken zu tun:

Alle alten Städte sind Nekropolen. Dies wenigstens haben sie voraus vor den jungen, den überwachen, den hurtig zur Höhe gewachsenen: Das Volk ihrer Toten ist unzählbar. Eine alte Stadt mag Menschen haben, soviel sie will; was ist die Menge derer, die sie bewohnen, vor der Menge derer, die sie bewohnt haben? Die in Häusern leben und über Straßen gehen, das sind ja die Wenigen; die Vielen aber wohnen in den grauen Kirchen und Gruftkapellen der Stadt unter den schweren, gemeißelten Grabplatten, unter dem Rasen der Friedhöfe vor ihren Toren, unter dem Steinpflaster ihrer Kirchenplätze. Die Lebenden sind ein Augenblick gleich der Gegenwart; die Toten aber sind die Unendlichkeit der Zeit und sind die Beständigen. Heute ist ihnen wie gestern und morgen, den Unterschied der Jahre kennen sie nicht, und sie sind in einer großen Gelassenheit.


Werner Bergengruen wurde 1892 in Riga geboren, ging in Lübeck und Marburg zur Schule, studierte in Marburg, München und Berlin und arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg vor allem als Journalist. Er starb 1964 in Baden-Baden. Die Zitate habe ich dem Buch „Der Tod von Reval“ entnommen, das im Jahr 2006 im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen ist.

Samstag, 17. September 2011

Zur Zeit


Das ist ein Schornsteinfeger respektive ein Kaminkehrer. Er rennt unweit meiner Wohnung über die Suur-Karja-Straße. Ich glaube, er hat es eilig, er schaut immer auf die Uhr bei dem Café.

Auch ich laufe in diesen Tagen der Zeit hinterher, deshalb schreibe ich so wenig in meinem Blog. Ich bin mit den letzten Vorbereitungen für die Foto-Ausstellung beschäftigt, die ab dem 26. September hier in Tallinn zu sehen sein wird und später auch in Deutschland. Die Foto-Ausstellung ist nach dem Blog der zweite Teil des Stadtschreiberprojekts. Seit Mitte Mai habe ich Motive gesammelt, versucht, die Menschen zum Mitmachen zu motivieren, und viele organisatorische Dinge geklärt. Das war nicht immer leicht. Zwischendurch ging es mir wie dem Mädchen mit den Blütenblättern: Es klappt. Es klappt nicht. Es klappt. Es klappt nicht. Es klappt. Es klappt nicht.

Es klappt wohl doch. Weitere Informationen zu der Ausstellung folgen in Bälde. Vielleicht ist ja der eine oder andere Leser in diesem Herbst in Tallinn und hat Zeit und Lust, sie anzuschauen? Ich freue mich, dass es klappt und dass ich die Ausstellung heute endlich ankündige. Denn dieser September soll, wie gesagt, ein Monat der Vollendungen werden.

Kein schönes Ende nahm indes die Geschichte „Mein Fahrrad und ich“. Mein Fahrrad wurde mir in der Nacht zum Mittwoch geklaut. Sie haben im Hinterhof einfach das Schloss aufgeschnitten. Das ist sehr schade. Und außerdem renne ich der Zeit nun wirklich hinterher. Zuvor bin ich ihr eher hinterher geradelt, da war ich schneller.

Vielleicht hätte ich dem Schornsteinfeger öfter an seinen Jackenknopf fassen sollen? Viele Passanten machen das. Der oberste Knopf ist schon ganz blank poliert. Und der Schornsteinfeger strahlt ob dieser Zuneigung bis über beide Backen. Aber nein, ich will nicht behaupten, dass ich Pech gehabt hätte. Im Gegenteil. Wenn ich das nächste Mal beim Bronzemann vorbeikomme, werde ich ihm zuzwinkern.

Mittwoch, 14. September 2011

Nachtrag zu: Ein bisschen mehr in Kadriorg


Wenn in diesen Tagen die Sonne scheint, leuchten im Park von Kadriorg die Farben. Ich will noch ganz oft dort spazieren gehen, bis auch das Laub der Bäume bunt geworden ist.

Sonntag, 11. September 2011

Ansichtssachen

Kurze Verblüffung: Ich stehe vor einer Haustür in der Pikk-Straße und habe den Klingelknopf gedrückt, der neben dem Schild „Kuuskemaa Galerie“ angebracht ist. Ich mache mich bereit, einzutreten, schaue zielgerichtet nach vorne und erschrecke, als plötzlich links unten neben mir eine Holzluke aufgestoßen wird und Jüri Kuuskemaa seinen Kopf herausstreckt: Willkommen! Er reicht mir die Hand und geleitet mich die vier Stufen hinunter in sein Reich.

Jüri Kuuskemaa ist einer der Altstadtexperten in Tallinn. Wenn vor Bau- und Renovierungsarbeiten im UNESCO-Erbe guter Rat gefragt ist, konsultiert man ihn, wenn Ehrengäste eine Stadtführung wünschen, gibt man sie in seine Obhut. Und dann und wann empfängt Jüri Kuuskemaa auch Besuch in seiner Galerie. Im Keller seines Hauses hat der 68-jährige Kunsthistoriker rund 90 alte Ansichtsgrafiken von Tallinn ausgestellt, die er im Lauf von vier Jahrzehnten zusammengetragen und restauriert hat.

Die meisten Bilder stammen aus der Biedermeierzeit (also aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und zeigen Reval aus einem entsprechend idyllischen und gemütlichen Blickwinkel. Die Frauen haben noch keine Hosen an, sondern tragen bauschige Röcke und stehen schwatzend auf dem Alten Markt. Der Kutscher schlägt die Peitsche und das Rösslein nimmt Anlauf, um durch das Lange Bein auf den Domberg zu traben. Auf dem Laaksberg (heute der Stadtteil Lasnamäe) spielt ein Knabe Flöte und blickt auf die Kirchtürme, die im Dunst fast verschwinden. Dass die Betrachtung solcher Szenen eine beinahe kontemplative Wirkung hat und unseren gestressten Gemütern gut tut, davon ist Jüri Kuuskemaa überzeugt.

Im 19. Jahrhundert waren die Druckgrafiken als hochwertige Mitbringsel beliebt. Nach den Vorlagen mehr oder weniger bekannter Meister, die Reval gezeichnet hatten, fertigte man in den Werkstätten in Flensburg, Augsburg, München oder Paris Druckplatten an, aus Stein, Kupfer oder Holz. Die Stiche wurden vervielfältigt, manchmal noch handkoloriert und gingen dann zurück nach Reval, damit sie an die Kurgäste verkauft werden konnten. Einige Grafiken in der Galerie von Kuuskemaa sind sogar ein bisschen kostbar. Sie gehen zum Beispiel zurück auf die Zeichnungen, die Adam Olearius oder seine Begleiter gemacht haben, als sie auf ihren Reisen nach Moskau auch in Reval Station machten, oder wurden mit Druckvorlagen von Matthäus Merian hergestellt.

Doch auch wenn ein Bild von einem absolut unbedeutenden Künstler stammt, würde er ihm sogar gegenüber einem echten Rembrandt den Vorzug geben, sagt Jüri Kuuskemaa. Im Lauf der Jahre sei er in dieser Hinsicht zu einem provinziellen Patrioten geworden. Jedes der alten Bilder ist für ihn ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Manchmal, wenn er die alten Ansichten anschaut, freut er sich, wie beständig die Stadt ist, dass viele Ecken in der Stadt noch heute so aussehen wie vor 150, 200 oder 300 Jahren. Und manchmal ist er überrascht, welch starken Umwälzungen die Stadt unterworfen war. Immer wieder neu auszuloten, welcher Eindruck überwiegt, das macht Jüri Kuuskemaa Freude.

Samstag, 10. September 2011

Ankündigung: Beitrag im Magazin „Kultur.21“

Ans Vor-der-Kamera-Stehen würde sich die Stadtschreiberin am Ende noch gewöhnen … Gleich zwei ganze Tage hat mich Frank Lukeit von Deutsche Welle TV auf meinen Streifzügen durch Tallinn begleitet. Wir haben Galerien besichtigt und Künstler getroffen, Kaffee getrunken und Kalamaja erkundet, Theateraufführungen besucht und die Altstadt bewundert und am Ende ist aus all diesen Begegnungen ein kleiner Film entstanden, der heute (Samstag) als Beitrag für das Magazin „Kultur.21“ auf Deutsche Welle TV zu sehen ist. Wer Fernsehen über Satellit empfängt, kann die deutschsprachige Version der Sendung ab 21.30 Uhr und die englischsprachige Version ab 0.30 Uhr (Zeit jeweils für Deutschland) verfolgen. Menschen ohne Satellitenschüssel auf dem Dach können aufs Internet ausweichen und die Sendung noch einige Zeit dort anschauen.

Mittwoch, 7. September 2011

Ein bisschen mehr in Kadriorg

Kadriorg ist der Stadtteil Katharinental, ein ursprünglich russisches Viertel, das Anfang des 18. Jahrhunderts entstand, als Peter der Große für seine Frau Katharina ein kleines Schloss errichten ließ und sich die Arbeiter in ihren Holzhütten einrichteten. Hier verlief im 19. Jahrhundert die Grenze zwischen Stadt und Sommerfrische, Kurgäste flanierten am Strand und hinter dem Palast bauten sich die ersten Menschen ein Häuschen im Grünen.

Kadriorg ist immer noch ein bisschen mehr, so wie wenn eine Trüffelpraline auf dem Sachertortenstück liegt. Hier ist alles ein bisschen süßer, verspielter, üppiger. Es gibt nicht nur einen großen Park mit alten Eichen und Kastanien, sondern auch noch einen Teich mit Springbrunnen, auf dem die Schwäne herumschwimmen. Hier ist so manche Türe eher ein Portal und mehr als ein Häuschen im Geheimen eine Villa. Holzschnitzereien umrahmen wie Spitzengardinen die Fenster und bunte Glasornamente schmücken Erker und Wintergärten. Alles sieht so frisch gestrichen aus. Es gibt einen Rosengarten mit weißen Bänken und die Blumen im Beet sind als Nationalornamente gepflanzt. Immer wieder lassen sich Brautpaare beobachten, mit einem Fotograf im Schlepptau. Mann und Frau posieren zwischen Schilf und Schwertlilien und die Kinder bohren in der Nase. Am Wochenende gehen die Menschen, die im nahen Lasnamäe wohnen, hier spazieren und machen Picknick auf den Wiesen. Das Kindermuseum ähnelt dem Petersdom in Rom, ist nur viel, viel kleiner und wer es betreten will, muss seine Schuhe ausziehen und auf Strumpfsocken weiterlaufen. Aus einem offenen Fensterchen guckt schon seit Monaten ein weißer Stoffhase hervor. Und die Autofahrer müssen auf querende Eichhörnchen Acht geben.

Kadriorg ist ein bisschen wie das Polly-Pocket, das ich mal besessen habe. Oder wie eine Kreuzung aus Ostheimer-Figuren und Barbie-Picknick-Mobil. (Wenn sich jemand mit Spielwaren auskennt.)

Montag, 5. September 2011

Blumen vor der Stadt - Ende


Frage: Was ist aus der Blumenausstellung geworden, von deren Vorbereitungen ich im Mai berichtet habe? Antwort: Eine sehr beliebte und schöne Spazierstrecke. Manchmal, wenn ich auf dem Rad vorbei hastete und sah, wie viele Menschen auf einem Pfad aus Rindenmulch zwischen den Beeten entlang schritten, kam mir die ganze Ausstellung wie ein Pilgerweg vor. Auf zu den Blumen! Zu gern hätte sich mancher Pilger wohl auf einer der kleinen Bänke niedergelassen, die in vielen Gärten bereit standen. Doch diese waren mit einem Seil versperrt und rund um die Uhr von drei Aufpassern bewacht. Nur auf das rote Sofa aus Kiel durfte man klettern, und so war das Riesenmöbelstück bei jungen wie alten Besuchern der Renner. (Der dazugehörige Garten wurde von einem Team aus Tallinns Partnerstadt gestaltet und das Pendant des Sofas steht dort an der Strandpromenade.) Seit ein paar Tagen baut man einen Garten nach dem anderen ab, das Lillefestival ist schon vorbei.

Sonntag, 4. September 2011

Ankündigung: Mein Fahrrad und ich im ZDF

Die Idee des ZDF, mich radelnd zu interviewen, hat mir gleich gefallen. Denn, wie die meisten Leser wohl erraten haben, entdecke ich Tallinn eben besonders gerne auf dem Fahrrad. Vor zwei Wochen bin ich also zusammen mit ZDF-Moderator Andreas Klinner am Kulturkilometer und auf der Halbinsel Paljassaare herum geradelt und habe nebenbei ein paar Fragen beantwortet. Das Ergebnis dieses sportlichen und durchaus vergnüglichen Drehs ist morgen (Montag) in einem Beitrag der Sendung „heute in europa“ zu sehen. Beginn ist um 16 Uhr, wer zu dieser Zeit nicht vor dem Fernseher sitzen kann oder will, findet die Sendung noch einige Wochen unter www.heuteineuropa.zdf.de.

Ein Fest in der Neuen Welt



Ein großartiges Straßenfest findet an diesem Wochenende im Stadtteil Uus Maailm statt. Das Viertel heißt tatsächlich so, „Neue Welt“, da war keine PR-Agentur am Werk. Wahrscheinlich geht der Name zurück auf das Gasthaus „America“, das es dort gab und das im 18. und 19. Jahrhundert einen legendären Ruf genoss. Als während des industriellen Aufschwungs der Stadt mit einer intensiven Bebauung des Viertels begonnen wurde, bürgerte sich die Bezeichnung „Neue Welt“ ein und manche Straßen tragen sogar passende Namen wie „Großamerika“ und „Kleinamerika“ und „Saturnstraße“.

Durch diese Straßen zieht zur Einstimmung auf das Fest lautstark eine Parade. Ein Typ auf einem selbstgebauten Hochrad vorweg, danach die Bläser mit „Oh, when the Saints go marching in“, ihnen hinterher lauter Menschen mit bunten Hüten, junge, alte, flippige und unscheinbare, stolze Eltern mit Buggy, die Oma nebenher. Tagelang müssen die Nachbarn gebacken und gekocht haben, nun bieten sie all die Kuchen und Suppen und Gemüsequiches in ihren Hinterhöfen und Gärten an, auf Autostellplätzen und Grünstreifen. Auf Picknickdecken und Bierbänken gibt es staubige Schuhe und alte LPs zu erwerben, selbst gemachte Ohrringe und Pralinen, Äpfel aus dem Garten und Marmeladen. Auf zwei Bühnen spielen Bands und die Sonne strahlt zwischen den Herbstwolken hindurch und auf die Regenschirme, die am Hauptplatz zwischen den Stromleitungen aufgehängt sind.


Ein bisschen Wehmut verspürt der eine oder andere Besucher und vor allem Organisator des Fests. Denn das Herz des Viertels, der Ort, an dem in den vergangenen Jahren die meisten Ideen entstanden sind und gemeinsam verwirklicht wurden, ist das „community house“ in der Koidu-Straße. Ein gelbes Holzhaus, nicht mehr in allerbestem Zustand, in dem meistens um die zehn Personen gemeinsam wohnten, kaum Miete zahlten und die meisten Ausgaben aus der Gemeinschaftskasse bestritten. Couchsurfer und sonstige Bekannte kamen im Dachgeschoss unter und so war stets dafür gesorgt, dass in der Küche genug junge und lustige Leute aufeinandertrafen. Nun schließt das Haus zum 12. September. Die letzten Winter waren ziemlich kalt, die Miete ist gestiegen und manche Hausbewohner sind vielleicht auch ein bisschen zu erwachsen geworden. Das Fest aber soll und wird nächstes Jahr wieder stattfinden, da sind sich alle sicher.

Nicht nur, weil ich auf dem Fest war, sondern überhaupt werde ich viele Erinnerungen an interessante und starke Menschen mit nach Hause nehmen. Manche habe ich etwas genauer kennengelernt, manche nur flüchtig, bei vielen male ich mir mehr über ihr Leben aus als ich tatsächlich wüsste. Die Menschen, an die ich hoffentlich denken werde, das sind Menschen, die in ihrem Leben nach Aufgaben suchen. Die sie oft gefunden haben. Aber auch die, die suchen. Zur Suche stehen und nicht behaupten, alles schon entdeckt zu haben, das zeugt doch von Charakter. Das sind Menschen, die sich für etwas einsetzen, die etwas auf die Beine stellen, die etwas wagen, auch wenn es keinen finanziellen Gewinn zu holen gibt oder noch nicht sicher ist, ob sich die Mühe am Ende auch rentieren wird. Die einen wirken im großen Rahmen, die anderen im kleinen, aber alle immer auch jenseits des eigenen Sofas. Ich denke hoffentlich noch oft an diese Menschen, die Ideen haben, die ausprobieren und die wiederum andere Menschen zusammenbringen. Menschen, die aus der ganzen Vielzahl von Lebensentwürfen, die heute möglich sind, mit voller Lust schöpfen.



Freitag, 2. September 2011

Nachtrag zu: Vollendungen


Aufgenommen am Nachbarstand der Blumenfrau (am Freiheitsplatz). Auch die Euro-Einführung in Estland ist noch nicht ganz abgeschlossen …

Donnerstag, 1. September 2011

Vollendungen

Jetzt ist es amtlich, beim Blick in den Kalender nicht zu übersehen: Der letzte Monat läuft. Ich bin ein wenig außer Atem und habe das Gefühl, dass ich mehr erlebe als ich mir unmittelbar merke und festhalten kann. Mein Alltag überholt sich immer wieder selbst und ich könnte in diesem letzten Monat noch gefühlte 73 Posts schreiben.

Vor vier Monaten fotografierte ich eine Frau, die die ersten Frühblüher zu kleinen Sträußchen zusammengebunden hatte. Ihre Hände steckten noch in dicken Fäustlingen, doch sie hatten Primeln, Buschwindröschen und Scillas gepflückt. Ich schrieb, dass das Kleid der Scilla die Farbe des Sommerhimmels ankündigt und nannte den Post „Erwartungen“.

Der Himmel war sehr oft sehr blau, das Wetter viel besser als in Deutschland und ich habe die Darbietung des Sommers so gebannt und aufmerksam verfolgt wie nie zuvor. Fast schon akribisch versuchte ich, mir die Abfolge seiner Auftritte zu merken: Vor einer Woche hat der Löwenzahn geblüht, jetzt duftet der Flieder, wann folgen die Rosen? Sicherlich entstand dieses Bedürfnis, die Jahreszeiten genau zu beobachten, durch die Verdichtung, die ein Sommer im Norden erfährt. Aber ich konnte es nur deshalb befriedigen, weil das Hinterland in Tallinn so präsent ist, viel stärker als in anderen Großstädten, die ich kenne. Auch wenn ich mich tagelang nur im Zentrum aufhielt, wusste ich, welche Blumen gerade am Wegrand wuchsen, welche Früchte auf den Feldern reiften, wann die Pilzsaison begonnen hat. Die Sträuße, die ich mir fast jede Woche für den Schreibtisch kaufte, das Obst auf dem Markt und die Gespräche der Menschen verrieten es mir.

Ich habe mich auch selten so auf den Herbst gefreut, wie in diesem Jahr. Ist der Herbst nicht das Versprechen von Vollendung? Begründet er nicht die Hoffnung, dass es gelingen kann, die Dinge rund zu machen? Ein Blumenstrauß Anfang September sieht ganz anders aus als ein Blumenstrauß Anfang Mai. Kräftiger, verschwenderischer, leuchtender. Noch ein ganzer Monat in Tallinn liegt vor mir und ich bin gespannt, auf das, was er bringen mag. Vielleicht sogar erwartungsvoll.


Dienstag, 30. August 2011

... dass das Feuer nie aufhört zu brennen


Am letzten Samstag im August entzünden die Menschen an der Ostseeküste Hunderte von Feuern, um gemeinsam den Sommer zu verabschieden und die „Nacht der alten Lichter“ zu feiern. Also bin ich nach Sonnenuntergang an den Strand von Kadriorg gefahren, denn auch dort hatten sich einige Dutzend Menschen zusammengefunden und ein Feuer entfacht, Fackeln in den Sand gesteckt und Windlichter in den Dünen verteilt.

Lagerfeuer haben es sowieso so an sich, dass man zu gerne in sie hinein starrt und das lodernde Spiel der Flammen beobachtet, um hier und da einen Gedanken zu entdecken, dem man nachhängen kann. Wenn sich gleichzeitig der Sommer zurückzieht und die dunkle Nacht die Erde überspannt, muss man ein leichtes Frösteln schon verscheuchen. Vielleicht auch deshalb bemerkte ich besonders viele Paare. Die jüngeren standen umschlungen am Wasser. Die älteren saßen weiter hinten, zwischen den Dünen, hatten sich Kerzen mitgebracht und schauten schweigend hinaus aufs Meer, das als schwarzglänzende Fläche an den Strand schwappte.

Die Tradition der nächtlichen Feuer ist gleichzeitig sehr alt und sehr jung. Früher entzündeten die Menschen an der Küste Leuchtfeuer, um den Schiffen den Weg zu weisen, sie vor Gefahren zu warnen und in den sicheren Hafen zu lotsen. Die Idee, eine „Nacht der alten Lichter“ zu feiern, entstand 1992 in Finnland, zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit. Nach und nach verbreitete sich der Brauch in den Nachbarländern und so erhellten am Samstag nicht nur in Finnland Feuer die Nacht, sondern auch in Estland, Schweden, Russland, Lettland, Litauen und Polen.

Ein anderes Feuer außer „unserem“ am Strand von Kadriorg konnte ich zwar nicht erblicken. Aber ich wusste, was die Idee der Lagerfeuernacht ist, dass sie die Menschen rund um die Ostsee verbinden soll. Und so habe ich den Anflug von Wehmut genossen, weil ich mir vorstellte, dass ich ihn, so wie die Erinnerung an den Sommer, die Vorfreude auf den Herbst und das Unbehagen angesichts des schwarzen Meeres, mit anderen teile.

P.S. Wer zum Beispiel nächstes Jahr an der deutschen Ostseeküste ein Feuer entfachen will, sollte sich die Seite www.ancientlights.eu anschauen.

Freitag, 26. August 2011

Graffiti ohne Strick


Seit kurzem ein farbenfroher Hingucker am Kulturkilometer bzw. am Fischerhafen: Die Installation „KONT“, die zwei Wochen lang von Graffiti-Künstlern aus Estland, Frankreich, Italien, Polen und Brasilien gestaltet wurde. Wenn genug Menschen die Kunst bestaunt haben, reisen die Container weiter auf Schiffen und Lkws um die Welt.

Donnerstag, 25. August 2011

Parsifal in der Kapsel

Die Premiere von Parsifal (und die erste Aufführung der Oper in Estland überhaupt) findet heute in der Noblessner-Halle statt. Seit 2009 wird die ehemalige Gießerei auf dem Gelände einer Werft immer wieder für Konzerte genutzt und dass dort alles andere als Festspielhaus-Atmosphäre herrscht, macht den Reiz aus. So etwas sei in Deutschland nicht zu finden, sagt Regisseurin Nicola Raab, und dass die Spielstätte für sie so etwas wie eine „Zeitkapsel“ sei.

Tatsächlich entzieht sich die Zeit in der Industriebaracke jeglichem Zugriff. Wahrscheinlich haben die Arbeiter ihre Halle schon vor zwanzig Jahren aufgegeben, vielleicht auch erst vor drei Wochen. Überall stehen Blechtonnen herum, in der Ecke lehnt ein Besen, zwischen Kabeln und Werkzeugen liegt auf dem Boden ein Hinweisschild mit der pädagogischen Mahnung in Du-Form: „Verstelle nichts an den Maschinen!“ Der rote Teppich führt über ein Gerüst auf die Ränge hinauf und wer in den Zuschauerraum tritt und sich umdreht, blickt auf eine Uhr hoch oben an der Wand. Das Ziffernblatt ist zerschlagen, die Zeiger stehen für immer auf halb acht, darunter ist aufs Wellblech die Losung gepinselt: „Marxismus und Leninismus sind das Banner unserer Epoche.“ Die Bläser hocken, wie in einer Garage, im Seitenflügel der Halle, zwischen alten Gerätschaften und unter dem überlebensgroßen Konterfei eines emsigen Arbeiters. Sogar der metallisch-beißende Geruch ist noch erhalten und hat wohl, obgleich er über die Jahre hinweg doch etwas nachgelassen hat, drei Bratschistinnen und eine Cellistin veranlasst, Mundschutz zu tragen.

Reminiszenzen an die real existierende Vergangenheit der Halle sind in der Inszenierung mit Bedacht platziert, sie lassen sich finden, aber nicht überall und mitunter nur mit Phantasie. Ich entdecke naheliegende, dass Lüftungsrohre eine Hügellandschaft mit Burg formen, beklemmende, als die Gralsritter für mich aus Sibirien zurückkehren und erheiternde, weil sich unter der grünen Arbeiterkluft der Blumenmädchen Spitzenröcke verstecken. Eine kurzweilige fünfstündige Generalprobe, so dass ich mich schon auf die „echte“ Aufführung am Sonntag freue.




P.S. Die Noblessner-Halle befindet sich in Kalamaja, unweit des Kulturkilometers.

Dienstag, 23. August 2011

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt

Als ich gestern über den Weg Estlands in die Unabhängigkeit geschrieben habe und über die Menschenkette zwischen Vilnius und Tallinn am 23. August 1989, machte mich der eine Jahrestag auf den nächsten aufmerksam. Denn die Menschenkette formierte sich am 50. Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, der vor allem als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist. Heute ist also der 72. Jahrestag dieses Abkommens und ich nehme ihn als Anlass für eine kurze Skizze. Natürlich haben wir alle in der Schule gelernt, dass es diesen Pakt gab. Was er für die Menschen, die damals in Estland lebten, und deren Nachkommen bedeutet hat, habe ich erst richtig begriffen – so begriffen, dass ich es nicht mehr vergesse – als ich vor drei Jahren einen Tag im Heimatmuseum in Kuressaare (auf Saaremaa) verbracht habe.

In den geheimen Zusatzprotokollen zum Nichtangriffspakt teilten das Deutsche Reich und die Sowjetunion Osteuropa unter sich auf, die eine Hälfte wurde als deutsche „Interessenssphäre“ deklariert, die andere als sowjetische. Estland, so wurde abgemacht, sollte an die Sowjetunion fallen. Konkretisiert und zum Teil noch modifiziert wurden die Abmachungen am 28. September 1939 im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Mit ihm wurde unter anderem beschlossen, dass die deutschen Bevölkerungsgruppen, die in der sowjetischen „Interessenssphäre“ lebten, nach Deutschland „umgesiedelt“ werden sollten.

In Kuressaare habe ich Fotos gesehen, auf denen Familien mit ihrem Gepäck die Schiffe betreten, auf denen die estnischen oder schwedischen Freunde zum Abschied winken, mitunter weinen. „Heim ins Reich“ sollten die Deutschbalten geholt werden, „heim“ in die neu gegründeten „Reichsgaue“ Wartheland und Danzig-Westpreußen, die zum größten Teil auf zuvor polnischem und soeben annektiertem Gebiet lagen. Die Tränen der Menschen waren nicht nur dem Abschiedsschmerz geschuldet. Sowohl die, die Estland verließen, als auch die, die blieben, ahnten sehr genau, warum die Deutschen gingen.

Ende September verlangte die Sowjetunion von Estland, Lettland und Litauen den Abschluss von „Beistandspakten“ – die Forderung war ultimativ, Widerstand gegen die Übermacht Sowjetunion aussichtslos. Am frühen Morgen des 18. Oktobers 1939 begannen 25 000 sowjetische Soldaten, die Grenze zu Estland zu überschreiten, die Stationierung der Truppen wurde durch den „Beistandspakt“ ermöglicht. Am gleichen Tag verließ das erste Schiff mit den deutschbaltischen „Umsiedlern“, die „Utlandshörn“, den Tallinner Hafen. Bis zum Jahresende hatten die meisten Deutschbalten (rund 14 000) Estland verlassen, auch wenn 1941 noch die „Nachumsiedler“ folgten – darunter viele Esten, die eine deutsche Abstammung belegen konnten.

Neben den Fotos hat sich mir in Kuressaare eine Landkarte mit Demarkationslinien und Frontverläufen ins Gedächtnis eingebrannt. Im Juni 1940 marschierten weitere Soldaten ins Land ein, besetzten Gebäude und Häuser, die politische Kontrolle übernahm Andrej Ždanov, ein Vertrauter Stalins, Estland war von der Sowjetunion okkupiert. Nach der Durchführung von Scheinwahlen wurde im August die formelle Aufnahme Estlands in die Sowjetunion vollzogen – zeitgleich mit der von Lettland und Litauen. Mitte Juni 1941 liefen die sowjetischen Massendeportationen an.

Eine Woche später begann die deutsche Wehrmacht die „Operation Barbarossa“ – den Angriff auf die Sowjetunion, am 7. Juli erreichte sie estnischen Boden. Im ersten Moment wirkten die deutschen Soldaten für viele Esten nach dem erfahrenen Leid und Schrecken mitunter eher wie Befreier, doch sie waren es nicht. Estland wurde wirtschaftlich für den Krieg ausgebeutet und die Besatzer machten sich an die „Säuberung“ des Territoriums, in den Arbeits- und Konzentrationslagern auf ehemals estnischem Gebiet wurden Juden (vor allem, aber nicht nur aus Litauen; die jüdische Gemeinde in Estland war verhältnismäßig klein), politische Gefangene und andere Personengruppen interniert und ermordet.

Im März 1944 begannen die sowjetischen Luftangriffe gegen das deutsch besetzte Estland (auch Tallinn wurde großflächig zerstört) und als sich im Sommer 1944 abzeichnete, dass die Sowjetunion Estland zurückerobern würde, begann eine Massenflucht nach Schweden. Nicht jeder, der wollte, ergatterte einen Platz auf einem Schiff. (Es flüchtete auch: Ilon Wikland.) Mitte September 1944 war Estland wieder in den Händen der Roten Armee. Zur gleichen Zeit wurden die Menschen, die es ein paar Jahre zuvor aus Estland ins besetzte Polen verschlagen hatte, Teil des riesigen Menschenstroms, der aus Polen westwärts flüchtete oder vertrieben wurde.

(Zusammengefasst nach den Besuchen des Heimatmuseums in Kuressare sowie des Okkupationsmuseums in Tallinn und nach der Lektüre von "Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt" von K. Brüggemann und R. Tuchtenhagen sowie "Die Deutschbalten" von W. Schlau.)

Montag, 22. August 2011

Luftballons am Nachthimmel


„Happy birthday“ – das haben die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton und die irische Sängerin Sinéad O´Connor Estland gewünscht. Wenn man so will, stieg zum 20. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit am Samstag eine große Geburtstagsparty. Es gab ein kostenloses Konzert („Song of Freedom“) mit verschiedenen Musikgruppen, Ansprachen und Videobotschaften und am Ende ein Feuerwerk. Am Tag darauf fand ein „Islandtag“ statt.

Dass Estland am 20. August 1991 wieder unabhängig wurde, kam nicht aus heiterem Himmel – und doch war bis zuletzt nicht damit zu rechnen gewesen. Seit der Mitte der 1980er Jahre schwand die sowjetische Autorität dahin, während National- und die Reformbewegung erstarkten. Höhepunkte wie die Menschenkette zwischen Vilnius und Tallinn am 23. August 1989 und politische Wegmarken wie die einseitige Souveränitätserklärung 1988 oder die Wiedereinsetzung der Nationalhymne reihten sich aneinander und schufen die Voraussetzungen dafür, dass am 20. August 1991 im Windschatten des Putschversuchs in Moskau der letzte Schritt vollbracht werden konnte.

Während die Politiker berieten, wie auf die Moskauer Ereignisse zu reagieren sei, versammelten sich die Menschen in Tallinn vor dem Schloss auf dem Domberg und am Fernsehturm. Denn es war unklar, ob das Militär den Putsch in Moskau unterstützen würde, und man wollte sich ihm im Fall des Falles entgegenstellen. Doch das Militär griff nicht zu den Waffen und spätabends, um 23.02 Uhr, riefen der estnische Oberste Sowjet und der Estnische Kongress gemeinsam die Wiederherstellung der Unabhängigkeit aus. Als erstes westeuropäisches Land erkannte zwei Tage später Island die Estnische Republik offiziell an.

In den letzten Sekunden vor der magischen Uhrzeit von vor 20 Jahren zählten die Menschen auf dem Sängerfestplatz am Samstag gemeinsam den Countdown. Dann ließen sie die Luftballons los, die sie am Eingang bekommen hatten. Tausende weiße Kugeln stiegen zum Nachthimmel empor.

Ob jeder dieser Ballons einen Wunsch zu den Wolken getragen hat? Wonach sich die Esten Ende der 1980er Jahre sehnten, wofür sie kämpften, war eindeutig zu benennen. Die Menschen, die in den Videos von damals zu sehen sind, gutmütige Vokuhila-Männer, Frauen in bunten Nylonblousons, dazwischen die Alten, die Gesichter voller Falten, erinnern mich auch an Friedensdemobilder aus der 1980er-BRD. Für Deutschland schon kommt es mir vor, als seien diese Zeiten ewig her, doch der Zeitensprung, den Estland in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, ist ungleich krasser. Was wünschen sich die Menschen, die damals für die Freiheit sangen, heute? Oder waren die meisten Menschen auf dem Sängerfestplatz am Samstag wunschlos glücklich? Wenn ich die Menschen hier beobachte, und zum Beispiel schmunzle, weil vierzigjährige Männer ohne Scheu ein blau-schwarz-weißes Häkelkäppchen auf dem Kopf tragen, kommt es mir oft vor, als ob viele Esten durch ihre Nationszugehörigkeit ein regelrechtes Glücksgefühl erfahren.

Sonntag, 21. August 2011

Ein Tag Haapsalu - Teil 2

Im Stadtmuseum in Tallinn werden den Besuchern, didaktisch geschickt, auf großen Tafeln Fragen gestellt und durch die passenden Exponate beantwortet. Eine davon lautet: „Haben weltbekannte Menschen in Estland gelebt?“ Ich hätte sie vor einigen Monaten nicht beantworten können.

Dabei kannte ich schon als Kind eine berühmte Estin: Ilon Wikland, die Frau, die all meinen Helden ihre stupsnasigen Gesichter verpasst hat. Madita, Ronja Räubertochter, den Kindern von Bullerbü, den Brüdern Löwenherz und Lotta aus der Krachmacherstraße … Die Illustratorin kam 1930 in Tartu zur Welt und weil sie als Mädchen mehrere Jahre in Haapsalu bei ihren Großeltern lebte, wurde dort 2006 ein Museum („Ilons Wunderwelt“) eröffnet. Ich habe es mir angeschaut und nun eine Ahnung, warum Ilon Wikland so malt, wie sie malt.

Weil ihre Eltern immer so schrecklich beschäftigt waren, lebte Ilon Wikland die ersten drei Jahre ihres Lebens bei den Großeltern in Tartu. Als der geistig behinderte Onkel dort mit der Pistole herumschoss und eine Kugel die kleine Ilon an der Schulter streifte, holten ihre Eltern sie zu sich nach Tallinn. Dort war Ilon ziemlich oft allein. Das hatte zwar auch Vorteile, zum Beispiel den, dass man sich hauptsächlich von Schokoladenkuchen ernähren konnte, doch im Geheimen schwor sich das Mädchen damals, später eine bessere Mutter zu werden als ihre eigene.

Als ihre Mutter beruflich nach Italien ging, wurde Ilon, die damals acht Jahre alt war, zu ihren Großeltern nach Haapsalu gebracht. Dort in der Kleinstadt fühlte sie sich geborgen, sie spielte mit ihren Freunden am Strand, die Großeltern passten auf sie auf und ihr Hund war auch immer dabei.


Weil die Eltern sich scheiden ließen und weiterhin in der Weltgeschichte unterwegs waren, blieb Ilon dort, bis sich abzeichnete, dass die Sowjetunion Estland erneut besetzen würde. Dann, im Herbst 1944, schickten die Großeltern die 14-jährige Enkelin nach Schweden. Bei der Überfahrt geriet das Flüchtlingsschiff in einen Sturm, Ilon dachte, sie würden alle umkommen. Aber irgendwann erreichten sie die Schären vor Stockholm und Ilon nahm sich vor, so schnell wie möglich eine Schwedin zu werden.

Sie kam bei Verwandten unter, lernte die Sprache mühelos, ging auf die Kunstschule und als junge Mutter, die nach der Geburt des ersten Kinds endlich wieder zeichnen wollte, traf sie auf Astrid Lindgren, die gerade einen Illustrator für „Mio mein Mio“ suchte. Eine lange, inspirierende und vertrauensvolle Zusammenarbeit begann.

Nach Haapsalu kehrte Ilon Wikland zusammen mit Astrid Lindgren im Jahr 1989 zurück. Dass dies nochmal möglich werden würde, hatte sie eigentlich nicht mehr geglaubt. Als sie vor den Ruinen der Bischofsburg stand, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zu weinen. Nach und nach wurde ihr klar, dass in ihrer Seele all die Jahre auch ganz viel Estnisches gesteckt hatte.

Nachdem ich das wusste, entdeckte ich auf Ilon Wiklands Bildern Kleinigkeiten, die ich so ähnlich in den letzten Monaten fotografiert habe: Blühende Kastanienbäume, Rauchschwalben und einen Fliederzweig auf dem Fensterbrett.

Auch Tallinn hat Ilon Wikland gemalt – auf zwei Bildern zu dem Buch „Mein unglaublicher erster Schultag“ („Sammeli, Epp och jag“). Auf dem ersten rennt die Mama mit ihrer Tochter den Domberg hoch, weil sie am ersten Schultag zu spät dran sind. Auf dem zweiten vertreiben sich zwei Freundinnen auf dem Rathausplatz die Zeit.



Und die Mattisburg von Ronja Räubertochter hat Ilon Wikland keiner anderen Burg nachempfunden als der Bischofsburg von Haapsalu.

Samstag, 20. August 2011

Ein Tag Haapsalu - Teil 1

Auch in Haapsalu war ich nun, wieder war der Besuch ein Sonntagsausflug und für den schnellen Vergleich halte ich fest: Haapsalu ist eigentlich wie Pärnu, nur dörflicher und dadurch heimeliger.

Bekannt ist Haapsalu für die hauchdünnen Schals, die dort hergestellt werden. Sie müssen so fein gearbeitet sein, dass sie sich durch einen Ring ziehen lassen. Als wir durch das Städtchen spaziert sind, fand gerade ein Straßenfest statt und ein Programmpunkt von diesem war der Strickwettbewerb. Rund zwanzig Damen strickten nach Anleitung um die Wette und, von wegen Handarbeit sei etwas für Omas, die jüngste Teilnehmerin war vielleicht gerade 16.


An mondäne Zeiten erinnert der Bahnhof, der leider nicht mehr von Zügen, aber immerhin von Bussen angefahren wird. Als er 1907 erbaut wurde, konnte sich Haapsalu rühmen, den längsten überdachten Bahnsteig Europas (214 Meter) zu besitzen. Stillgelegt wurde die Strecke nach Haapsalu Mitte der 1990er Jahre, seitdem enden die Züge aus Tallinn in Riisispere. Seit 2004 gibt es nicht mal mehr Gleise, nur noch das Eisenbahnmuseum und ein alte paar Loks dazu.


Ihre einstige Bedeutung weniger verloren haben das Kurhaus und die Strandpromenade. Dort genießen die Gäste auch heute Kaffee und Kuchen auf Spitzendeckchen und flanieren gemächlichen Schrittes am müde platschenden Wasser entlang. Und über all den hellen Holzhäuschen thront schützend die Ruine der Burg, die über Jahrhunderte hinweg Sitz der Bischöfe von Ösel-Wiek war.


Freitag, 19. August 2011

Ein Rad, wo zwei Leute drauf sitzen können

Neulich haben meine Schwester und ich uns ein Tandem gemietet und sind zu meinem Lieblingsstrand auf der Halbinsel Paljassaare geradelt. Das Wetter war augustig, herrlich windig, es gab hohe Wellen zum Drüberhupfen und viel Sonne dazu. Doch nicht vergessen werde ich den Nachmittag allein wegen der Menschen, die uns in Kalamaja und Kopli begegnet sind.

Zuerst ist uns ein kleines Mädchen mit seiner Oma entgegengekommen. Als es uns gesehen hat, hat es große Augen gemacht und dann ernst und gar nicht so laut gesagt: „Super!“ Kurz darauf sprach uns ein älteres Ehepaar auf einer Parkbank an: „Wie nennt man denn so ein Fahrrad?“ Dann zeigten drei Buben gleichzeitig auf uns: „Mama, schau mal!“ Ein Motorradfahrer, der an uns vorbeifuhr, ließ kurz den Motor aufheulen, eine Gruppe Jungs, die auf einer Wiese Picknick machte, rief uns zu, wir sollten uns zu ihnen setzen. Und als wir das Rad einen kleinen Berg hochschieben mussten, fragten uns zwei Frauen, beide in unserem Alter: „Und wie steigt man da auf?“ Na so, haben wir gesagt, uns auf den Sattel geschwungen und unsere Tour fortgesetzt. An den Holzhäusern vorbei, den Kulturkilometer entlang, klingelnd zwischen den Fußgängern hindurch. Am nettesten und denkwürdigsten war die Begegnung an der Bushaltestelle. Dort saß eine Frau mittleren Alters in einem verwaschenen T-Shirt auf der Bank, mehrere Plastiktüten zu ihren Füßen. Sie sieht uns, stutzt, und fängt lauthals an, zu lachen, so ein richtiges Glucksen, von ganz innen heraus, völlig perplex. Wir haben ihr fröhlich zu gewunken und auch gelacht.

Donnerstag, 18. August 2011

Staumeldung

Ein neuer Tag beginnt und ich habe wieder nichts in meinen Blog geschrieben. Mir fehlt das schon und in meinem Kopf gibt es einen Gedankenstau, so viel hätte ich von den vergangenen Tagen zu erzählen. Von der Heiterkeit des Tandemfahrens zum Beispiel. Oder von idyllischen Bildern in Haapsalu. Aber im Moment besteht mein Stadtschreiberleben aus ganz anderen Aufgaben und Erfahrungen als gewöhnlich. Ich stehe für Deutsche Welle TV in Hinterhöfen und Museen vor der Kamera und sitze in Cafés vor der Kamera und gehe mitunter fünf Mal um die gleiche Straßenecke, vor der Kamera. Wer heute Abend auf einen neuen Post wartet, sollte vielleicht besser Fernschauen: Um 22.30 Uhr sendet das ZDF in der Reihe „Die Schönen des Ostens“ einen ausführlichen Bericht über Tallinn.

Montag, 15. August 2011

Ankündigung: Porträt auf Deutschlandradio Kultur

Morgen eine Vormittagspause gefällig? Wie wäre es mit zehn Minuten Radiohören zwischen 10:50 Uhr und 11 Uhr? In dieser Zeit läuft in der Sendereihe "Profil" von Deutschlandradio Kultur ein kurzes Porträt von mir. Entstanden ist es, als eine Gruppe des Journalistenverbands Berlin-Brandenburg im Juni die Kulturhauptstädte Tallinn und Turku besucht und an einem Abend auch mich getroffen hat. Nach der Ausstrahlung ist die Sendung noch für einige Zeit auf www.dradio.de zu finden. Viel Spaß beim Zuhören!

Überbleibsel


Unten bei mir im Haus gibt es einen Buchladen. Das gehört sich so, für das Schriftstellerhaus, auch wenn es nicht mehr der gleiche ist, wie in den sowjetischen Jahrzehnten, sondern ein Antiquariat, das erst vor einigen Jahren eröffnet hat. Es gibt dort, natürlich, viele Bücher, vor allem auf Estnisch, aber auch englische Taschenbücher und russische Bilderbücher. Man kann sich dort hinsetzen und einen Kaffee aus dem Automaten trinken. Touristen finden Postkarten und Briefmarken, Musikliebhaber alte Platten. Und in einer Ecke stehen zwei Regale mit besonders abgefingerten und zerfledderten Büchern – das ist die deutschsprachige Abteilung des Ladens.


Bislang unentdeckte Schätze sind dort nicht zu heben, nein. Wenn deutsche Touristen kommen und fragen, ob es einen gut erhaltenen Stadtplan aus dem 18. Jahrhundert gibt, oder den Nachlass einer deutschbaltischen Adelsfamilie, oder irgendwelche handgeschriebenen Dokumente, ärgert sich Maiu Varner ein bisschen. Dann antwortet die Mitarbeiterin des Ladens, dass so etwas ins Museum gehöre, und nicht hier in die Regale. Und dann verlieren die meisten Kunden schnell das Interesse an den deutschen Büchern.

Das allerdings ist ein bisschen schade, denn ein vergnüglich-besinnliches Stündchen kann man mit ihnen allemal erleben.

Zunächst fallen einem so sperrige Titel wie Abwasser-Hauskläranlagen und Siedlungsabwässerverwertung (1938), Jahrbuch der Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1911 (1911) oder Wirtschaftslehre des Forstwesens (1943) ins Auge und erinnern daran, dass die Deutschbalten fast alle zur gebildeten Oberschicht gehörten.

Dann gibt es die Widmungen, die in Schönschrift erklären, wer wen zu welchem Anlass mit einem Büchlein bedacht hat. Zur Konfirmation gab es einen Band mit geistvollen Gedichten, der Schwägerin wurde ein Kochbuch vermacht und in den Roman Zur Neujahrszeit im Pastorat zu Nöddebo (1884) ist geschrieben: „Meiner lieben lieben Galja ein kleines Zeichen, dass ich ihrer in Freundschaft gedenken und sie nicht vergessen werde. Die alte Hessinka.“ Vielleicht ist das Buch das letzte Ding, was an die innige Verbundenheit der beiden Damen erinnert …

Kleine Aufkleber und Stempel verweisen auf die einstigen Besitzer und Verkäufer der Bücher: „Vereidigter Rechtsanwalt E. R. Koch, Reval“ hat sich Amerika und der Amerikanismus (1927) zu Gemüte geführt, bei „Emil Treufeldt, Buch & Musikalien-Handlung Pernau“ war die Zeitschrift Der Angelsport (1933) erhältlich. Natürlich, die Leute gingen auch früher gerne Angeln und haben sich über die neuesten Ruten und Fischkrankheiten informiert. Auch So spielt man Tennis (1927), Balkongärtnerei und Vorgärten (1922) und einige Bücher zum Stricken und zum Singen sind Überbleibsel des Teils vom Leben, der auch früher ein heiterer und banaler Alltag war. (Und wieder taucht Renata auf, die so oft mit Olaf Tennis gespielt hat.)

Besonders gerne mag ich das Buch Heim und Herd, das 1901 in Riga erschienen ist. Dicht an dicht sind die Leerseiten am Anfang und Ende des Buches mit fein säuberlich notierten Kochrezepten beschriftet: Eins für Kürbissuppe, eins für Piroggenteig, eins für Apfelsinensaft und eins für Okroshka (das ist eine russische Gurkensuppe). Im Lauf der Jahre hat das Nachschlagewerk so manchen Soßenspritzer abbekommen.


Zu guter Letzt entdecke ich die vielen, vielen Karten und Broschüren zu Italien, sie alle wurden Anfang der 1930er Jahre vom italienischen Fremdenverkehrsamt herausgegeben. Die italienische Riviera, Die oberitalienischen Seen, By mail motor coach to Italy … Im Heftchen Sommer- und Herbstferien in Italien ist eine Panoramaansicht von Meran zu sehen und darunter steht der Satz: „Die erste Reise nach Italien bleibt sicher nicht die einzige, denn wer Italien einmal gesehen hat, sehnt sich immer wieder dahin zurück.“ Ich wünsche dem einstigen Besitzer dieser Broschüre posthum, dass die erste Reise stattgefunden hat.

Samstag, 13. August 2011

Samstag, Einkaufstag


Aufgenommen auf dem Markt am Bahnhof (Balti jaam): Die Sonne zieht sich schon lange wieder zurück. Aber sie hinterlässt uns die Früchte, die sie reifen ließ.

Donnerstag, 11. August 2011

Was die Tauben tun


Aufgenommen beim Morgenspaziergang auf dem Domberg. Siebenundzwanzig Tauben saßen auf einem Dach. Die einen sechs flogen weg. Die anderen sechs flogen weg. Die einen sechs kamen wieder. Die anderen sechs kamen wieder. Da sitzen sie alle siebenundzwanzig wieder. (Oder so ähnlich.)

Mittwoch, 10. August 2011

Ein Tag Pärnu

Die Städte in Estland sind miteinander verwoben und erfüllen oft ganz spezifische Funktionen. Tartu ist, habe ich im Juni gelernt, die Stadt des Geistes und der Ideen. Pärnu ist die Stadt der Muße und der Erholung, man nennt sie die Sommerhauptstadt.

Am Wochenende hat mich ein Sonntagsausflug dorthin geführt. Die Sommerhauptstadt ist natürlich viel kleiner als die echte. Beschaulicher, bunter und über und über mit Jugendstilblüten berankt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die erste Badeanstalt gegründet und so etablierte sich die Stadt als Kurort im russischen Zarenreich und erlebte einen echten Hochbetrieb schließlich in den 1930er Jahren, als eine Schiffsverbindung über die Ostsee eingerichtet wurde. An diese glanzvollen Tage erinnert die Villa Ammende, die der Kaufmann Hermann Ammende 1904 errichten ließ, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.


Mein Andenken an Pärnu ist eine Musik, ich muss kurz ausholen, um zu erzählen, welche:

Neulich habe ich einen anderen Sonntagnachmittag in einem Café in der Lai-Straße verbracht, wo man auf verschnörkelten Holzstühlen sitzt und von Spitzendeckchen Schokoladenkuchen isst. Meine Lektüre war das ebenfalls etwas altmodische Buch „Liebe Renata“, in dem die jungen Mädchen ständig mit rosigen Wangen Walzer und Mazurka tanzen. Und die CD im Hintergrund spielte – fast schon zu passend – heitere Salonmusik dazu.

In Pärnu sitzt vor dem Kursaal ein Mann auf einer Mauer und spielt Akkordeon. Die Musik kommt aus einem Lautsprecher, der in einer Hecke versteckt ist. Für einen Moment kann ich sehen, wie die Sommergäste im Kursaal tanzen, wie die Herren den Damen ihren Arm anbieten, wie diese lächelnd nicken, leichtfüßig den Takt aufnehmen, sich drehen lassen, bis ihnen schwindlig wird. Oh, wie Renata solche Abende liebte! Da ist sie wieder, die Melodie, die mich neulich im Café begleitet hat.


Froh über diese Entdeckung frage ich ein älteres Ehepaar, das auf einer Parkbank sitzt, was das für Musik sei. Die beiden schauen mich verwundert an: Da müsse ich die Leute fragen, die diese Party organisieren. Ein paar hundert Meter weiter ist eine Open-Air-Bühne aufgebaut und zum Soundcheck testet man gerade die Bässe. Die Weise, die leise aus der Hecke tönt, hat das Ehepaar überhört.

Zum Glück habe ich den entscheidenden Hinweis auch ohne das Ehepaar entdeckt, es ist der Name des Mannes mit dem Akkordeon: Raimond Valgre. Der wurde 1913 geboren und starb 1949. Dazwischen, in den 1930er Jahren, füllte er die Salons und ließ die Menschen tanzen – unter anderem zum Saaremaa-Walzer (Saaremaa valss).