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Sonntag, 11. September 2011

Ansichtssachen

Kurze Verblüffung: Ich stehe vor einer Haustür in der Pikk-Straße und habe den Klingelknopf gedrückt, der neben dem Schild „Kuuskemaa Galerie“ angebracht ist. Ich mache mich bereit, einzutreten, schaue zielgerichtet nach vorne und erschrecke, als plötzlich links unten neben mir eine Holzluke aufgestoßen wird und Jüri Kuuskemaa seinen Kopf herausstreckt: Willkommen! Er reicht mir die Hand und geleitet mich die vier Stufen hinunter in sein Reich.

Jüri Kuuskemaa ist einer der Altstadtexperten in Tallinn. Wenn vor Bau- und Renovierungsarbeiten im UNESCO-Erbe guter Rat gefragt ist, konsultiert man ihn, wenn Ehrengäste eine Stadtführung wünschen, gibt man sie in seine Obhut. Und dann und wann empfängt Jüri Kuuskemaa auch Besuch in seiner Galerie. Im Keller seines Hauses hat der 68-jährige Kunsthistoriker rund 90 alte Ansichtsgrafiken von Tallinn ausgestellt, die er im Lauf von vier Jahrzehnten zusammengetragen und restauriert hat.

Die meisten Bilder stammen aus der Biedermeierzeit (also aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und zeigen Reval aus einem entsprechend idyllischen und gemütlichen Blickwinkel. Die Frauen haben noch keine Hosen an, sondern tragen bauschige Röcke und stehen schwatzend auf dem Alten Markt. Der Kutscher schlägt die Peitsche und das Rösslein nimmt Anlauf, um durch das Lange Bein auf den Domberg zu traben. Auf dem Laaksberg (heute der Stadtteil Lasnamäe) spielt ein Knabe Flöte und blickt auf die Kirchtürme, die im Dunst fast verschwinden. Dass die Betrachtung solcher Szenen eine beinahe kontemplative Wirkung hat und unseren gestressten Gemütern gut tut, davon ist Jüri Kuuskemaa überzeugt.

Im 19. Jahrhundert waren die Druckgrafiken als hochwertige Mitbringsel beliebt. Nach den Vorlagen mehr oder weniger bekannter Meister, die Reval gezeichnet hatten, fertigte man in den Werkstätten in Flensburg, Augsburg, München oder Paris Druckplatten an, aus Stein, Kupfer oder Holz. Die Stiche wurden vervielfältigt, manchmal noch handkoloriert und gingen dann zurück nach Reval, damit sie an die Kurgäste verkauft werden konnten. Einige Grafiken in der Galerie von Kuuskemaa sind sogar ein bisschen kostbar. Sie gehen zum Beispiel zurück auf die Zeichnungen, die Adam Olearius oder seine Begleiter gemacht haben, als sie auf ihren Reisen nach Moskau auch in Reval Station machten, oder wurden mit Druckvorlagen von Matthäus Merian hergestellt.

Doch auch wenn ein Bild von einem absolut unbedeutenden Künstler stammt, würde er ihm sogar gegenüber einem echten Rembrandt den Vorzug geben, sagt Jüri Kuuskemaa. Im Lauf der Jahre sei er in dieser Hinsicht zu einem provinziellen Patrioten geworden. Jedes der alten Bilder ist für ihn ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Manchmal, wenn er die alten Ansichten anschaut, freut er sich, wie beständig die Stadt ist, dass viele Ecken in der Stadt noch heute so aussehen wie vor 150, 200 oder 300 Jahren. Und manchmal ist er überrascht, welch starken Umwälzungen die Stadt unterworfen war. Immer wieder neu auszuloten, welcher Eindruck überwiegt, das macht Jüri Kuuskemaa Freude.

Montag, 5. September 2011

Blumen vor der Stadt - Ende


Frage: Was ist aus der Blumenausstellung geworden, von deren Vorbereitungen ich im Mai berichtet habe? Antwort: Eine sehr beliebte und schöne Spazierstrecke. Manchmal, wenn ich auf dem Rad vorbei hastete und sah, wie viele Menschen auf einem Pfad aus Rindenmulch zwischen den Beeten entlang schritten, kam mir die ganze Ausstellung wie ein Pilgerweg vor. Auf zu den Blumen! Zu gern hätte sich mancher Pilger wohl auf einer der kleinen Bänke niedergelassen, die in vielen Gärten bereit standen. Doch diese waren mit einem Seil versperrt und rund um die Uhr von drei Aufpassern bewacht. Nur auf das rote Sofa aus Kiel durfte man klettern, und so war das Riesenmöbelstück bei jungen wie alten Besuchern der Renner. (Der dazugehörige Garten wurde von einem Team aus Tallinns Partnerstadt gestaltet und das Pendant des Sofas steht dort an der Strandpromenade.) Seit ein paar Tagen baut man einen Garten nach dem anderen ab, das Lillefestival ist schon vorbei.

Mittwoch, 3. August 2011

Apothekengeheimnisse

Rein, kurz gucken, raus. Die wenigsten Touristen, die in die Tallinner Ratsapotheke strömen, haben Kopfschmerzen oder Blasen an den Füßen. Die meisten wollen die älteste Apotheke Europas sehen. Zwar beanspruchen diesen Titel noch ein paar andere Einrichtungen, zum Beispiel in Florenz und Dubrovnik, doch der Besucherfrequenz tut dies keinen Abbruch. Und eine der ältesten Apotheken in Europa ist die Raeapteek ganz gewiss.

Das genaue Gründungsdatum der Apotheke ist unbekannt, doch aus einem alten Notizbuch der Stadtverwaltung geht hervor, dass sie im Jahr 1422 bereits den dritten Besitzer hatte. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte die Apotheke sieben Tage die Woche rund um die Uhr geöffnet, um die medizinische Versorgung der Stadt sicherzustellen. Zusätzlich erfüllte sie die Funktion eines Cafés. Hier trafen sich Ratsherren und Kaufleute und bekamen süßen Klarett (einen Würzwein) gereicht – dass der Apotheker dafür nichts verlangen durfte, war vertraglich festgesetzt. Im Pfarrhof der Heiliggeistkirche, hinter der Apotheke, wurden Heilpflanzen gezüchtet, ein weiterer üppiger Apothekergarten lag vor den Stadtmauern, zuerst beim Harju-Tor, dann beim Nunne-Tor.

In der längsten Zeit ihres Bestehens lag das Schicksal der Apotheke in den Händen einer Familie – der Familie Burchart. Im Jahr 1580 kam Johann Burchart Belavary de Sykava aus Ungarn nach Reval und pachtete die Apotheke. Als er sich zur Ruhe setzte, übergab er sie seinem Sohn und so ging es über zehn Generationen hinweg immer weiter, und immer hieß der nächste Apotheker Johann. Und auch wenn der eine Johann den Laden besser zu führen verstand als der andere, hielten die Männer doch von 1582 bis 1911 den Ruhm der Familie hoch. Sie studierten an den angesehensten Universitäten Europas, in Petersburg, Tartu, Lübeck, Halle und Stockholm, und nahmen ihr Wissen und neue Rezepturen mit in ihre Heimatstadt.

Wer mag, kann die Geschichte der Apotheke in den Chroniken nachvollziehen, die im hinteren Raum auf einer Truhe liegen. Er kann an der Holzdecke die fast verblassten Bemalungen bewundern, die noch aus dem Mittelalter stammen, und in Gläsern die Heilmittel von einst – zum Beispiel sonnengebleichten Hundekot. Und am alten Ofen sind Kräutersträußchen zum Trocknen aufgehängt: Weidenröschen, Johanniskraut, Schafgarbe, Thymian, Kamille ...


Dass diese Pflanzen an die alte Kunst des Apothekerhandwerks erinnern, ist Silja Pihelgas zu verdanken. Vor ein paar Jahren haben die Betreiber der Apotheke beschlossen, dass es schön wäre, wenn die Geschichte des Ortes nicht in Vergessenheit gerät und zusammen mit der Stadt ein kleines Projekt auf die Beine gestellt und in die Obhut von Silja übergeben. Seitdem sorgt sie dafür, dass ein bisschen was von der Atmosphäre, die die Apotheke in all den Jahrhunderten ausmachte, noch heute zu spüren ist. Über eine schmale Holztreppe nimmt mich Silja mit, hinunter in den Keller.

Was den Burcharts wohl gefallen hätte, diese Frage hatte Silja immer im Hinterkopf, als sie die Räume der Apotheke umgestaltete und einrichtete. Und so entstand im Keller nach und nach ein Refugium, in dem noch manche Schätze zu entdecken sind. Regelmäßig führt Silja Schulklassen und andere Gruppen dorthin. Dann dürfen die Kinder Apotheke spielen, Rezepte schreiben, Heilkräuter im Mörser zerstoßen. Aus den Regalen lassen sich dicke vergilbte Bücher hervorziehen, zum Beispiel die Ausgaben der Pharmaceutischen Centralhalle für Deutschland. Die älteste von ihnen stammt aus dem Jahr 1866 und in Deutschland wäre solch ein alter Schinken längst hinter einer Vitrine verschwunden. Hier steht er einfach so herum.


Aus dem Garten eines alten Herrenhauses bringt Silja immer wieder Kräuter mit und als ich da bin, stellt sie mit einem Destillierapparat eine Essenz aus Mädesüß her. Tropfen um Tropfen sammelt sich im Glasröhrchen und ab und an gießt Silja dessen Inhalt in ein Fläschchen. Unlängst wurde entdeckt, dass Mädesüß Wirkstoffe enthält, die gut gegen Falten sind. Nun ist die Pflanze mit dem lateinischen Namen Filipendula ulmaria auf dem Kosmetikmarkt hoch gefragt und ihre Essenz wird teuer bezahlt. Im Keller der Ratsapotheke geht es darum nicht. Hier wird einfach der Geist des Sommers und ein bisschen auch der Geist der Vergangenheit eingefangen. Es riecht nach Blumen und Heu.

Dienstag, 2. August 2011

Immer nur Altstadt


Aufgenommen an irgendeinem Postkartenstand an irgendeiner Straßenecke. Wenn man fünf Monate in einer Stadt lebt, kommt es vor, dass man manchen Menschen mehr als nur eine Ansichtskarte schickt. Ich tue mich mit der Motivwahl für die dritte und vierte Karte schwer. Das kennt Oma doch alles schon!

Donnerstag, 9. Juni 2011

Betrifft: Tourismus


Auf diesem Plakat steht: „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ Die Aussage hat weniger etwas damit zu tun, dass der Mensch, der das Plakat aufgehängt hat, Perlenketten bevorzugt. Vielmehr muss man wissen, dass Pfeffersteak ein Leibgericht der Finnen ist. Und da Helsinki nur 70 Kilometer entfernt ist und die Finnen gerne Wochenendtrips in den Süden unternehmen, haben viele Restaurants das Gericht auf ihrer Karte stehen. Mit Bernstein und Matrjoschka-Puppen wiederum beglücken die Souvenirläden all die Touristen, die auf der Suche nach „typisch“ osteuropäischen Mitbringseln sind.

Mit diesem Wissen lässt sich der Spruch auf dem Plakat verschieden interpretieren. Vielleicht ist der Verfasser einer derjenigen, die das Gefühl haben, dass die Altstadt mit ihrem Leben eigentlich nichts mehr zu tun hat. Viele Menschen hier sagen das. Dass in der Altstadt alles so teuer geworden sei, dass sie sich dort nicht mehr ins Café setzen würden, dass sie Tallinn im Sommer meiden würden.

Es könnte auch sein, dass der Pfeffersteak-Verschmäher die Oberflächlichkeit beklagt, mit der viele Touristen ihrem Reiseziel begegnen. Auch ich erlebe Momente des Kopfschüttelns. Neulich zum Beispiel, als ich den Dialog eines deutschen Ehepaars verfolgte. Beide um die sechzig, sie macht ein Foto von der Nikolaikirche. Er zu ihr: „Du fotografierst die ganze Zeit nur Kirchen.“ Sie zu ihm: „Ja, was Anderes gibt es hier ja auch nicht. Eine ist die Nikolai und eine ist die Olai.“

Es ist wohl das Schicksal von hübschen Innenstädten, dass die Gäste von auswärts sie den Einheimischen ein Stück weit wegnehmen. Und es ist wahrscheinlich das Schicksal des Tourismus, das er oft oberflächlich bleibt. Das Ganze ist, irgendwie, ein Dilemma, zu ändern ist die Situation eigentlich nicht. Unter „Ich mag weder Pfeffersteak noch Bernstein!“ hat ein anderer unbekannter Mensch die Gegenfrage gekritzelt: „Aber was dann?“ Sie wurde noch nicht beantwortet.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Eindrücke

Mir schwirrt der Kopf, in den vergangenen drei Tagen habe ich ungefähr 127 Menschen kennengelernt. Aber jetzt wartet die Stadt auf mich, will entdeckt werden, möchte, dass ich mich auf sie einlasse.

Den ganzen Nachmittag streune ich herum, bleibe hier und dort eine Weile sitzen, suche nach Fotomotiven für später. Auf der Aussichtsterrasse oben auf dem Domberg treffe ich einen der 127 Menschen wieder, Eduard. Er führt eine Gruppe Lehrerinnen durch die Stadt. Ich schließe mich an und bestaune Fassaden, höre Anekdoten und schlüpfe in kleine Ateliers, in denen Kunsthandwerker ihre Arbeiten präsentieren.

Was wären die Eindrücke, die ich mit nach Hause nehmen würde, wenn ich die Stadt in wenigen Tagen wieder verlassen müsste?

Die Kirchen, die Stadtmauer, viele, viele Türme. Die verwinkelten Gassen mit dem Kopfsteinpflaster, die alten Speicherhäuser. Die Mädchen, die rote Mäntel und Kopftücher tragen und mit ihren Holzwägen an den Straßenecken stehen und frisch gebrannte Gewürzmandeln verkaufen.

Und die Frage nach dem Löffel. In einer kleinen Küche im Rathausgebäude bestelle ich eine Elchsuppe. Die Frau, die mir die Suppe in ein Tongefäß schöpft, trägt ebenfalls ein Kopftuch und strahlt mich an: Ob ich denn keinen Löffel dabei hätte, ob sie mir einen leihen sollte … Es ist gelungen, das Spiel mit dem Mittelalter.