Posts mit dem Label Literatur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Literatur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 20. März 2012

Ankündigung: Fotos aus Tallinn auf Usedom

Wer das Glück hat, in den nächsten Wochen nach Usedom zu kommen, kann sich meine Foto-Ausstellung anschauen! Und zum Beispiel solche Bilder sehen:



„In Tallinn leben – Geschichten von Menschen und Häusern“ wird im Rahmen der Usedomer Literaturtage am Donnerstag, 29. März, in der Villa Irmgard eröffnet. Wer will und kann, ist hiermit herzlich zur Vernissage um 16 Uhr eingeladen, auf der ich natürlich etwas zur Entstehungsgeschichte der Ausstellung erzählen werde.

Danach ist die Ausstellung bis zum 27. April zu sehen, und zwar immer Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr. (Villa Irmgard, Maxim-Gorki-Straße 13, Heringsdorf.)

Noch mehr Gründe, um bald einen Ausflug nach Usedom zu unternehmen, finden sich im gesamten Programm der Usedomer Literaturtage (28. März bis 1. April). Lesungen, Diskussionen, Filme und eine Inselrundfahrt führen in die „wortreichen Landschaften“ zwischen Ostsee und Karpaten. Das Programm kann hier heruntergeladen werden.

Ich freue mich sehr, dass meine Ausstellung in Deutschland angekommen ist und Teil der Usedomer Literaturtage sein wird. Ich freue mich außerdem auf die Schüler des Gymnasiums Ahlbeck, die ich am 30. März für eine kleine Stadtschreiber-Lesung treffen werde und die mich hoffentlich ganz viele Sachen fragen werden.

Und ich freue mich auf ein Wiedersehen mit der Ostsee. Vielleicht schicke ich eine Flaschenpost mit Grüßen los. Vielleicht wird sie in Tallinn an den Strand von Paljassaare gespült.

Mittwoch, 28. September 2011

Ich war's nicht

Das Angebot von Juhan Kreem war nett und provokativ: „Kommen Sie zu uns ins Stadtarchiv, dann zeige ich Ihnen, was ich unter einem Stadtschreiber verstehe!“ Natürlich konnte ich diese Einladung nicht ausschlagen.

Juhan Kreem ist Historiker und hat für seine Promotion zum Verhältnis zwischen der Stadt Reval und dem Deutschen Orden als Landesherren geforscht. Seit 1996 arbeitet er als Forscher im Tallinner Stadtarchiv. Den Raum, in den mich Juhan Kreem bei meinem Besuch dort hineinführt, nennt er „Schatzkammer“. Doch er glitzert ganz und gar nicht und sieht – pardon – eher wie ein Heizkeller aus. An der Decke verlaufen dicke Lüftungsröhre, hinter zwei Türen stehen große metallene Schubladenschränke. Hier lagern die wichtigsten Dokumente der Tallinner Stadtgeschichte: Prächtige Urkunden, die mit schweren Siegeln dekoriert sind, Messebücher und Ablassbriefe, Unterlagen der Kämmerei. Die älteste Urkunde ist eine Übertragung von Rechten an das Johannes-Siechenhaus aus dem Jahr 1237. Die wichtigste ist wahrscheinlich die Verleihung des lübischen (also Lübecker) Stadtrechts im Jahr 1248.


Wie ich so die verschiedenen handschriftlich mit Tinte und Feder abgefassten Dokumente betrachte, begreife ich schnell: Im Mittelalter waren die Stadtschreiber ziemlich genau das Gegenteil von mir: Nämlich juristisch gut ausgebildete Menschen, die in der Verwaltung der Stadt arbeiteten und gewissenhaft die tägliche Arbeit dokumentierten. Ihre Tätigkeit besaß einen durch und durch technischen Charakter, an literarische Selbstverwirklichung dachten sie nicht.

Das älteste umfassende Werk eines Tallinner Stadtschreibers ist, wenn man so will, ein so genanntes „Denkelbuch“ für die Jahre 1333 – 1374. Es ist ein Notizbuch, in dem ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung all das festgehalten hat, was nicht zu vergessen war: Ratsherren- und Steuerlisten, Vermerke über den Verleih von Kriegsrüstungen und die banale Notiz, an wen man die Schlüssel zu den Stadttürmen ausgegeben hat.


Von ihrer späteren Bedeutung als Chronisten konnten die Stadtschreiber nichts ahnen. Sie erfüllten nur ihre Pflicht und wussten nicht, dass wir ihr Geschreibsel Jahrhunderte später als Dokument der Zeitgeschichte auswerten und in gut gesicherten Vitrinen ausstellen würden. Welche Quellen werden in 500 oder 600 Jahren für das Jahr 2011 untersucht werden? Dieser Blog sicherlich nicht. Ob es den Historikern der Zukunft überhaupt gelingen wird, die Informationsflut unserer Zeit zu sortieren?

Früher war wenigstens Pergament ein knappes Gut und damit ein Filter, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Im Jahr 1347 hat man auf einer Pergamentrolle alle Rechte und Privilegien der Stadt Reval zusammengetragen. Fein säuberlich wurde sie eng beschriftet; wäre das Ganze am Computer ausgedruckt worden, hätte man bestimmt Schriftgröße 9 wählen müssen. Entsprechend pragmatisch recycelte man katholische Messebücher, nachdem die Reformation Estland erreicht hatte: Ihre Seiten wurden gebleicht und für Kaufmannsbücher wieder verwertet. So schimmern zwischen manchen Rechnungen über erhaltene Waren noch die Noten liturgischer Gesänge durch.

Doch aller Pedanterie zum Trotz: Eine gewisse Vorliebe für das Schöne und Nebensächliche konnten auch die mittelalterlichen Stadtschreiber nicht unterdrücken. Der Übersichtlichkeit halber kennzeichneten sie die einzelnen Posten in den Rechnungsbüchern oft mit Symbolen – sozusagen anstatt Post-its zu verwenden. So mancher Jurist zeigte wahrhaftig ein künstlerisches Talent, wenn er mit geschicktem Federstrich Waagen, Türme, Hufeisen oder Flaschen skizzierte. Und es blieb nicht immer bei den Symbolen zum schnellen Auffinden bestimmter Posten: Zwischendurch auch mal den Kollegen mit seiner Grimasse zu porträtieren, das konnten sich die Stadtschreiber nicht verkneifen.

Na dann. Da muss ich das Amt des Stadtschreibers im Internet-Zeitalter wohl doch nicht gänzlich in Frage stellen. Man braucht eben beides, die Zahlen und die wichtigen Fakten und die schönen Worte und die Nebensächlichkeiten.

PS: Bilder Nummer 2, 3 und 4: Stadtarchiv Tallinn.

Sonntag, 25. September 2011

Ein Vorgeschmack

Wie versprochen, hier vorab ein Eindruck von dem, was es in der Ausstellung zu sehen gibt:

Während die meisten Bilder, die die Besucher Tallinns machen, im Vorübergehen aufgenommen sind, möchte ich auch Bilder zeigen, die nach dem Hineingehen entstanden sind. Damit setze ich in dem Moment an, in dem sich Reisende auf die Zehenspitzen stellen, um einen Blick über den Zaun zu werfen oder versuchen, durch die Gardine kurz in ein Wohnzimmer zu schielen. Und in dem Moment, in dem sie, wenn sie Glück haben, die Menschen kennenlernen, die in einer Stadt leben.

Folgerichtig präsentieren sich die Fotos immer im Doppelpack, mit einer Aufnahme von außen und einer Aufnahme von innen. Die dazugehörigen Texte erzählen jeweils eine kurze Geschichte, die aus zwei Teilen besteht. Einer spielt in der Vergangenheit, einer in der Gegenwart. Es liegt am Betrachter, diese Geschichte beliebig fortzuspinnen.


Zum Beispiel mit Bildern und Texten wie diesen:


Für die Gebäude auf der Südseite der Vaimu-Gasse ist die Existenz für das frühe 15. Jahrhundert belegt, als in einem Grundbuch von „Häusern zwischen der Langen und der Kleinen Straße“ (letztere wohl die Vaimu-Gasse) die Rede ist. Noch ist nicht der ganze Komplex renoviert und bauhistorisch erforscht worden, so dass in den kleineren Häusern rund um den Innenhof noch interessante Entdeckungen zu machen sind. Vielleicht begründet diese Tatsache den romantischen Charakter des Hinterhofs, der durch den wilden Wein, der die Mauern berankt, noch verstärkt wird.


Eine Holztreppe führt vom Innenhof in die gemeinsame Werkstatt eines Schusters und eines Scherenschleifers. Slava Hanov ist der Scherenschleifer und arbeitet seit 31 Jahren in seinem Laden. Politische Wechsel und Wirtschaftskrisen ließen sein Geschäft beinahe unberührt, genug Kundschaft gab es immer. Friseure lassen ihre Scheren schärfen, Köche ihre Messer, Chirurgen ihr Operationswerkzeug. Und manche Landsleute, die im Ausland leben, liefern im Urlaub ihre Nagelknipser ab – in den Städten, in denen sie arbeiten, gibt es keine Scherenschleifer mehr.



Der Stadtteil Nõmme ist eine echte Gartenstadt und versteckt sich zwischen Kiefernwäldern. In diesem Haus in der Väikese-Illimari-Straße lebten gleich zwei berühmte Literatenpaare. Zuerst Marie Under und Artur Adson, die auf dem Grundstück 1933 ein Häuschen errichtet haben. Als diese 1944 nach Schweden geflüchtet waren, überließen sie ihr Heim ihren Freunden Elo und Friedebert Tuglas. Die lebten dort bis 1971, erweiterten das Haus noch um einen Anbau und liebten, wie schon ihre Vorgänger, besonders den Garten, in dem seinerzeit über 100 verschiedene Rosen blühten.


Von den Rosen sind kaum welche erhalten geblieben. Doch die Bibliothek der Schriftsteller gibt es noch und sie steht heute der Allgemeinheit zur Verfügung. Mit ihren rund 20 000 Büchern ist sie eine wichtige Anlaufstelle für Wissenschaftler, die in einem kleinen Lesesaal arbeiten können. Und wenn einer von ihnen nicht weiß, wo sich das dringend benötigte Buch versteckt, steht Eha Rand ihm mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem führt sie Besucher durch die Räume, denn das ehemalige Literatenhaus ist nicht nur Bibliothek sondern seit 1976 auch ein Museum.

Dienstag, 20. September 2011

Lektüre für Tänzer

Der Herbst zieht ins Land, es ist kalt und windig und fast würde ich mich mit einem Buch in einem Berg Kissen vergraben und sieben Tage lang lesen. Zumindest für eine kurze Leseprobe möchte ich mir heute Abend die Zeit nehmen:

Mein Lieber, setze dich zu mir. […] Ich möchte dir ein paar Geschichten erzählen: Geschichten aus einer alten Stadt hoch droben im Norden, hoch droben im Osten, einer Stadt am Meer. Aber es sind nicht Geschichten von dieser Stadt: es sind Geschichten von ihren Toten.

So beginnt Werner Bergengruen sein Buch „Der Tod von Reval“. Er oder eben der Erzähler schnappt sich an einem ungemütlichen Herbstabend sein Gegenüber in der Kneipe und tischt diesem allerlei Schelmengeschichten rund ums Sterben auf. Sie sind durchweg makaber und oft ziemlich heiter. Da legt man den Verstorbenen schon mal in Branntwein ein, da wird eine Herberge für Scheintote eröffnet und da flüchtet ein Trunkenbold, der einer Schlägerei davonläuft, zu einer Toten ins Bett.

Dem ganzen Buch vorangestellt sind zwei Zitate aus dem Text von Notkes Totentanz. Wenn man also Bergengruens Geschichten als Antwort auf dieses Gemälde verstehen möchte, kann man sie so deuten, dass sie den Menschen die Angst vor dem Tod dadurch zu nehmen versuchen, dass sie ihn relativieren. Wo sich die Teilnehmer von Notkes Totentanz so schrecklich fürchten, setzt Bergengruen dem eine kräftige Prise skurille Komik entgegen. Mitunter klappt das ganz gut.

Viel stärker als all die denkwürdigen Schelmengeschichten ist mir allerdings die folgende Passage aus der Einleitung in Erinnerung geblieben. Denn ich glaube, die ruhige Ehrfurcht, die ich verspüre, wenn ich durch Tallinn laufe, hat manchmal auch mit diesem Gedanken zu tun:

Alle alten Städte sind Nekropolen. Dies wenigstens haben sie voraus vor den jungen, den überwachen, den hurtig zur Höhe gewachsenen: Das Volk ihrer Toten ist unzählbar. Eine alte Stadt mag Menschen haben, soviel sie will; was ist die Menge derer, die sie bewohnen, vor der Menge derer, die sie bewohnt haben? Die in Häusern leben und über Straßen gehen, das sind ja die Wenigen; die Vielen aber wohnen in den grauen Kirchen und Gruftkapellen der Stadt unter den schweren, gemeißelten Grabplatten, unter dem Rasen der Friedhöfe vor ihren Toren, unter dem Steinpflaster ihrer Kirchenplätze. Die Lebenden sind ein Augenblick gleich der Gegenwart; die Toten aber sind die Unendlichkeit der Zeit und sind die Beständigen. Heute ist ihnen wie gestern und morgen, den Unterschied der Jahre kennen sie nicht, und sie sind in einer großen Gelassenheit.


Werner Bergengruen wurde 1892 in Riga geboren, ging in Lübeck und Marburg zur Schule, studierte in Marburg, München und Berlin und arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg vor allem als Journalist. Er starb 1964 in Baden-Baden. Die Zitate habe ich dem Buch „Der Tod von Reval“ entnommen, das im Jahr 2006 im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen ist.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Der Saal mit der schwarzen Decke

Wie es sich 1989 angefühlt hat, in der Harju-Straße 1 zu wohnen, hat Irja Grönholm in ihrer ersten E-Mail beschrieben. Wie ich den gleichen Ort mehr als zwanzig Jahre später erlebe, unterscheidet sich davon durchaus. Und doch ahne ich nun, wie es gewesen sein könnte. Denn fünf Tage lang musste ich nur über den Hinterhof laufen, um das Literaturfestival „HeadRead“ zu besuchen.

Der Saal mit der schwarzen Decke (Musta laega saal) wurde für das Fest üppig mit orangener Löcherfolie dekoriert und empfing so herausgeputzt bestens gelaunte Gäste. Die meisten machten es sich in kleinen Grüppchen an runden Tischen gemütlich, manche lehnten weiter hinten an Stehtischen und wer gerade lieber selbst diskutieren als zuhören wollte, setzte sich im Vorraum auf die Heizung und beobachtete das Geschehen aus dem Augenwinkel. Als Verpflegung gab es Piroggen, Säfte und Bier.

So wie im Stundentakt jeweils andere Menschen auf der Bühne saßen, änderte sich auch das Publikum. Mal platzte der Saal mit der schwarzen Decke aus allen Nähten, mal hatten sich nur ein paar Dutzend Eingeweihte zusammengefunden. Familien mit Kindern, die junge Generation in Blumenkleidern und Cordhosen, Ehepaare, ältere Herrschaften, sie alle kamen und gingen und hatten offenbar wirklich Lust auf Literatur.

Zumindest für diese Tage hat der Vergleich mit dem Taubenschlag seine Gültigkeit zurückerhalten.


Maarja Kangro (rechts) kündigt Robert Service (links) und Mart Laar an.
Foto: Kärt Kukkur