Samstag, 30. Juli 2011

Sieben Stunden ohne

Sieben Stunden ohne Schlaf, ausgesessen auf harten Kirchenbänken – das war das Opfer, das die Besucher der Orgelnacht in der Nikolaikirche bringen mussten. Eintritt hingegen mussten sie nicht zahlen. (Die Orgelnacht fand von Donnerstag auf Freitag zur Einstimmung auf das internationale Orgelfestival statt. Nachdem mich am Freitag dann doch die große Müdigkeit einholte, erst heute der Bericht …)

Gedauert hat die Orgelnacht von 21.59 Uhr bis 4.59 Uhr, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Die Menschen in Tallinn sind, wenn es um Kultur geht, erstaunlich nimmermüde. Noch nie bin ich so oft so spätabends zu irgendwelchen Veranstaltungen aufgebrochen wie in diesem Sommer. Kino auf dem Parkhausdach ab 23.30 Uhr, Schattentheater um Mitternacht – das ist hier (auch wegen der Lichtverhältnisse) ganz normal.

In jeder der sieben Stunden gab es zuerst eine halbe Stunde Orgelkonzert und anschließend eine kunstgeschichtliche Führung, zuerst zur Architektur der Kirche, dann zum Hochaltar, dann zum Totentanz … Leider waren die Führungen auf Estnisch, so konnte ich nur die Leidenschaft der Kunsthistoriker und die Aufmerksamkeit der Zuhörer bestaunen. Aber dafür wirklich staunen! Dass sich nachts um drei mehrere Dutzend Menschen einen Vortrag über Wappenepitaphe anhören, finde ich bemerkenswert.

Was ich erwartet hätte: Dass die Besucher der Orgelnacht mit heißen Getränken und Knabbereien verwöhnt werden, dass es sich irgendein Catering-Service nicht nehmen lässt, zu später Stunde noch etwas zu verdienen. Falsch gedacht. Hier geht es nicht um das ganz besondere Event, Leute treffen, mal wieder ein bisschen Kultur mitbekommen … Hier geht es um die Musik. Punkt. Und um die Kunst. Basta. (Schon über das Literaturfestival schrieb ich: „Als Verpflegung gab es Piroggen, Säfte und Bier.“ Und meinte: „Kein Sekt und keine Häppchen.“)

Und was die Musik betrifft: Wunderschön war die für mich noch ungehörte Kombination von Saxophon und Orgel. Hier passt wohl Blechbläser zu Blechbläser … Besonders das Stück „Palve“ von einer Komponistin namens G. Grigorjeva (1962) gefiel mir. Keine Ahnung, wer das ist, aber die Musik war großartig. Ganz, ganz helle, silberne, erhebende Töne …


P.S. Die Nikolaikirche habe ich aus meinem Fenster aufgenommen.

Es schüttet wie aus Kübeln

Die ganze Nacht schon prasselt der Regen auf das Fensterbrett und weckt mich immer wieder. Auch tagsüber schüttet es weiter, tiefhängende Wolken verstecken die Kirchturmspitzen und neben den Bürgersteigen fließen Bäche. Und das Allerbeste: In E-Estland ist das Internet kaputt – wahrscheinlich wegen des bisschen heftigen Regens. Ich kann nicht telefonieren, ich kann keinen Post online stellen, ich brauche keine E-Mails schreiben und nicht schauen, wie das Wetter morgen wird. Ich gehe spazieren, lasse den Wind meinen Regenschirm umstülpen, stapfe durch dicke Pfützen auf das marode Dach der Stadthalle. Nicht einmal die Angler haben sich heute nach draußen getraut. So stehe ich alleine dort oben und blicke aufs Meer. Grauer Himmel und graues Wasser gehen nahtlos ineinander über. Ich stecke den Schirm in die Tasche und so wie der Wind den Regen peitscht und pfeift erinnert er mich an schlechtes Wetter in den Bergen und ist für einen Moment ganz vertraut. Ich laufe langsam nach Hause. Kekse und Tee und Wolljacke wärmen mich und ich schreibe diese Zeilen und einen Beitrag zur Orgelnacht. Von mir aus kann es noch drei Tage weiter regnen, bitte, und das Internet genau so lange nicht funktionieren. Nichts können, nichts müssen, wie schön.


P.S. Aber natürlich hat das Internet, wie man sieht, nach ein paar Stunden wieder funktioniert.

Donnerstag, 28. Juli 2011

Lieblingswöörter - Folge III

Abschluss des Mini-Sprachkurses. Heute ohne die Hilfe deutscher und anderer Lehnwörter. Denn auch wenn es tatsächlich rund 2000 deutsche Lehnwörter im Estnischen gibt, ist Estnisch für mich meistens: ziemlich fremd!

Aber deshalb nicht weniger schön. Eins der Wörter, die Esten Ausländern am liebsten beibringen ist: öö – Nacht. Essen heißt sööma. Damit ergibt sich, was viel besser ist als Otto und Anna: Söö öös – Iss nachts! Das ist die Werbung für ein Restaurant. Genau so nett: öötöö – Nachtarbeit.


Eine Popgruppe besingt in einem Lied die tööööööbik – die Arbeitsnachtnachtigall. (töö = Arbeit, öö = Nacht, ööbik = Nachtigall) Wer zu viel schuftet, muss fürchten, eine solche zu werden. (Besonders in den Weißen Nächten.)

Ähnlich verblüffend das Wort jäääär – Eisrand. (jää = Eis, äär = Rand) Im wirklichen Leben ist dieser wahrscheinlich ähnlich unbedeutsam wie die Arbeitsnachtnachtigall, aber als Bandname macht er sich ganz gut.


Schön ist auch das Wort Läänemeri – Ostsee. Weil es uns lehrt, dass die eigene Sichtweise nur die eine ist. Denn Läänemeri bedeutet nichts anderes als Westsee. (Leider gibt es, ich habe mich erkundigt, im Finnischen keine Südsee.)

Wie dann die Sichtweise der Esten auf die Ehe ist, dürfen wir uns zusammenreimen, wenn wir wissen, was Ehemann und Ehefrau bedeutet. Ehemann heißt abielumees, Ehefrau abielunaine. Wörtlich könnte man übersetzen: Hilfe-zum-Leben-Mann und Hilfe-zum-Leben-Frau. (abi = Hilfe, elu = Leben, mees = Mann, naine = Frau) Die Ehe (abielu) ist entsprechend die Hilfe zum Leben oder die Lebenshilfe.

Ein kleiner Wort-Schatz ist für mich schließlich: iseloom – Charakter. Was den Menschen ausmacht, ist im Estnischen, wieder wörtlich übersetzt, das Selbsttier. (ise = selbst, loom = Tier)

Dienstag, 26. Juli 2011

Gut gegen Katzenjammer

Manchmal steht in diesen Tagen ein Geiger auf dem Beischlag vor dem Historischen Museum, das unweit der „Martsipanituba“ an der Gabelung Pikk – Pühavaimu zu finden ist. Nach Sonnenuntergang gibt er dort ein Konzert, ob für die Vorbeigehenden oder für seine Liebste weiß ich nicht genau. Auf jeden Fall steht etwas abseits von den Passanten immer eine junge Frau, die ihn unverwandt betrachtet.

Den Platz hätte der Geiger nicht besser wählen können. Die erhöhte Position oberhalb der Stufen entbehrt einer gewissen Theatralik nicht und die Giebel der Häuser fangen die Töne zunächst ein und lassen sie erst einen Moment später zum Abendhimmel emporsteigen. So habe ich mich gerne auf die Gehsteigkante gesetzt und zugehört.

Ich habe eine Freundin in Paris. Sie sagt, wenn sie „Katzenjammer“ verspürt, dann geht sie durch die Stadt und die zaubert ihn weg. Tallinn kann das auch. Freimütig gibt die Stadt, was sie eben gerade hat, ohne im Gegenzug etwas dafür zu fordern. Abwechslung, Zerstreuung, schöne Momente, skurrile Momente, Momente, die einen zum Lachen bringen … Jeder kann davon nehmen, ganz ohne Verpflichtung. Wer will, bleibt stehen, wer nicht will, geht weiter.

Ich verweile oft, ich mag das, dass ich Leute ein bisschen kenne, weil sie mir auf meinen Alltagswegen begegnen: Die Gitarrenspieler, die sich in wechselnden Paarungen zusammentun und auf dem Mauervorsprung im Lühike Jalg musizieren. Den Blues-Sänger an der Ecke vom Pikk Jalg, der mit seiner Stimme ganz wunderbar eine E-Gitarre imitieren kann. Die Maler auf ihren Klapphöckern zwischen den hohen Linden vor der Nikolaikirche. Und meinetwegen sogar die Hare-Krishna-Anhänger in ihren pastellfarbenen Gewändern, die täglich am späten Nachmittag tanzend vor meinem Fenster vorbeiziehen.


Das ist nicht typisch Tallinn, das könnte ich so ähnlich auch in anderen Städten erleben, aber hier habe ich die Zeit und den Sinn dafür und ich genieße das. Stadt, nicht Land. Verbundenheit in der Anonymität, Teil des Stadtgewebes sein, da sein dürfen und wieder weggehen dürfen. (Und ja, im Unterschied zum Land oder zur Landschaft: Nicht so sich selbst ausgesetzt sein.)

Sonntag, 24. Juli 2011

Tanz mit dem Tod!


Der Totentanz des Lübecker Künstlers Bernt Notke in der Antoniuskapelle der Nikolaikirche ist ein kunsthistorischer Schatz. Und das berühmteste Kunstwerk des Mittelalters, das in Tallinn zu sehen ist. Es zeigt den Tod, wie er als gruseliges Klapperskelett mit prächtig gekleideten Menschen tanzt. Gemalt hat der Künstler das Bild Ende des 15. Jahrhunderts als Replik seiner Totentanz-Darstellung in der Lübecker Marienkirche. In einer Zeit, in der sich die Menschen vor der Pest, vor Kriegen und Hungersnöten fürchten mussten, entstanden die ersten Totentänze als Freskenzyklen in Kirchen und Klöstern. Schnell wurde der danse macabre zum wiederkehrenden Motiv in der Kunst und später auch in der Literatur und der Musik. Den Lübecker Totentanz gibt es nicht mehr. Er war bereits Anfang des 18. Jahrhunderts in so einem schlechten Zustand, dass man beschloss, das Werk nicht mehr zu restaurieren, sondern eine Kopie anfertigen zu lassen. Diese wurde 1942 bei einem Luftangriff auf Lübeck vollständig zerstört. Auch vom Revaler Totentanz ist nur ein Viertel der ursprünglich 30 Meter langen Darstellung erhalten geblieben – doch immerhin!

Die Nikolaikirche sehe ich, wenn ich aus meinem Fenster schaue, seit Wochen hatte ich mir vorgenommen, das Museum endlich zu besichtigen, doch immer, wenn ich mich aufgerafft hatte, war Montag oder Dienstag und geschlossen. Jetzt war ich endlich da und wie ich vermutet habe, sieht das Gemälde aus wie im Reiseführer, nur eben größer und hinter Glas.

Der Reihe nach bittet der Tod alle Menschen zum Tanz. Zuerst den Papst, dann den Kaiser und die Kaiserin, es folgen der Kardinal, der König und der Bischof. Die übrigen Personen sind auf dem Fragment nicht mehr abgebildet, doch es dürften zum Beispiel Kaufleute, Handwerker und Bauern gewesen sein, den Abschluss machte wahrscheinlich ein Kind in der Wiege.

Mein Zugang zum Gemälde war die Übersetzung des mittelniederdeutschen Texts, der dieses erläutert. Zu Beginn läutet der Tod den Reigen ein: „Zu diesem Tanz rufe ich alle miteinander: Papst, Kaiser und alle Kreaturen, arm, reich, groß und klein. Tretet hervor, denn euch hilft kein Trauern! Aber bedenkt zu jeder Zeit, dass ihr gute Werke mit euch bringt und eure Sünden büßt; denn ihr müsst nach meiner Pfeife tanzen.

Dann reicht er seinen Tanzpartnern die Hand und die Dialoge, die sich daraufhin entwickeln, laufen immer nach dem gleichen Schema ab. Der Tod fordert: „Lass uns tanzen!“. Der so Angesprochene sagt: „Ach nein, bitte nicht!“

Der Tod zum Kaiser: „Herr Kaiser, wir müssen tanzen!“ Der Kaiser zum Tod: „O Tod, du hässliche Gestalt, veränderst mir mein ganzes Wesen.

Der Tod zur Kaiserin: „Wende du dich jetzt her, Frau Kaiserin!“ Die Kaiserin zum Tod: „Ach, lass mich noch leben, darum bitte ich dich!

Der Tod zum König: „Jetzt tritt auch du hervor, edler König!“ Der König zum Tod: „O Tod, deine Worte haben mich erschreckt! Diesen Tanz habe ich nicht gelernt.

Oh nein, diesen Tanz haben wir nicht gelernt. Wir wollen ihn nicht lernen. Tapfer versuchen wir, zu vergessen, dass wir sterben müssen. Und können wir die Endlichkeit des Lebens nicht länger leugnen, so reagieren wir mit einem auf den Moment gerichteten Genießen. Verschiebe nichts auf morgen, lebe heute, sammle das kleine Glück, lass die Sonne scheinen, male Dein Leben bunt. Durch und durch positive Sprüche lassen uns doch ohne Antwort zurück, wenn wir uns fragen, wie es geht, Tod und Unglück anzunehmen.

Die Konsequenz, die die Menschen im ausgehenden Mittelalter aus dem Anblick des Totentanzes ziehen sollten, lautete ganz anders: Lebe tugendhaft, hüte Dich vor der Hoffart. „Aber Du hast in deiner großen Hoffart hoch zu Ross gesessen“, spricht der Tod zum Kardinal. „Deshalb musst Du Dich jetzt um so mehr sorgen!“ Und zum König meint er: „Alle deine Gedanken hast du auf weltlichen Prunk gerichtet. Was nützt dir das jetzt? Du musst in die Erde und mir gleich geschaffen werden.“ Ob die Menschen mit diesen Ratschlägen leichter sterben konnten?

Samstag, 23. Juli 2011

Kugelrundes Kopfsteinpflaster

Ich laufe gerne übers Kopfsteinpflaster, vor allem abends, wenn die Straßen fast leer sind, ich manche Gasse für mich alleine habe. Es gibt normales Kopfsteinpflaster, mit eckigen Steinen, und es gibt kugelrundes Kopfsteinpflaster, mit Steinen, wie sie am Strand zu finden sind. So richtig ordentlich sind sie im Boden nicht versunken, manche gucken recht frech hervor. Die meisten sind grau, manche rötlich, andere braun. Ich balanciere von einem kugelrunden Kopfstein zum nächsten und stelle mir vor, ich wäre ein Kind, das spielen würde, es darf nicht daneben treten, denn ringsum ist Meer.

Donnerstag, 21. Juli 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail - Folge 2

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Streetart im weitesten Sinne, auf Hauswände, Stromkästen und Treppen gesprüht. Oder schnell hin geklebt und meistens schon bald wieder abgerissen.


So wie man das von Straßenkunst erwartet, werden gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen: "Koondatud" wäre wahrscheinlich mit "betriebsbedingt gekündigt" ganz gut übersetzt.


Wie ernsthaft diese diskutiert werden sollen, ist nicht immer zu erkennen. Hier die Aufforderung, zur Frage "Ist das eine Familie?" die passende Antwort abzureißen.


Ganz offen gibt man sich, was den Kunstbegriff betrifft: "Ist jetzt Kunst? (2007) Autor: unbekannt"


Also ist vielleicht auch das hier kein Gekritzel?


Über ein Repertoire an zitierfähigem Wissen aus der Kunstgeschichte scheinen die unbekannten Autoren jedenfalls zu verfügen. Hier die Anspielung auf Magrittes "Dies ist keine Pfeife", verbunden mit einem Wortspiel. ("Pfeife" heißt auf estnisch "piip", "diip" wird umgangssprachlich wie das englische Wort "deep" - also auch für tiefsinnig - verwendet.)


Und an den sonnengelben Schildern "Achtung Taschendiebe" kommt man wohl einfach nur schwer vorbei.

Mittwoch, 20. Juli 2011

Weitergeschrieben

Eben habe ich den Post von gestern weitergeschrieben. Mir sind noch ein paar mehr Gedanken zur Beziehung zwischen Tallinn und dem Meer in den Sinn gekommen. Wenn das hier mein Tagebuch wäre (so mit Seiten, zum Umblättern) könnte ich meine Texte auch nach unten fortsetzen, also habe ich das heute mal so gemacht.

Dienstag, 19. Juli 2011

Nachtrag zu: Ahoi! (Und eigentlich nicht nur zu diesem Post.)


Aufgenommen unterhalb der Stadthalle (Linnahall). Ist Tallinn jetzt eine Stadt am Meer? Ich habe mir, so wie viele Gäste dieser Stadt, eher schwer getan, das Meer gleich auf Anhieb zu finden. Musste es erst suchen. Und manch einer denkt, dass Tallinn erst wieder eine Stadt am Meer werden muss. So ist es der Wunsch von Tallinn 2011, die Menschen ans Meer zurückzuholen. Weil die Verbindung zu diesem, so erklärt man das, durch die Sowjetherrschaft unterbrochen wurde.

Wenn ich mir dieses Bild anschaue und wenn ich daran denke, wie die Leute der Krusenstern hinterher geschaut haben, dann glaube ich, dass der Traum vom Meer uralt ist. Vielleicht war er stärker als Stacheldraht und Sperrgebiet? Vielleicht ist im Kopf der Menschen die Verbindung zum Meer auch während der Sowjetherrschaft nie abgerissen?

Physisch waren die Menschen in Tallinn während der Sowjetherrschaft vom Meer mehr oder weniger abgetrennt, das steht fest. Doch ich frage mich, ob sie dieses Abgetrennt-Sein überhaupt so stark empfunden haben. Da gab es einerseits schmerzvollere Erfahrungen als die, nicht ans Meer zu kommen. Andererseits ist der Traum vom Meer mit dem Traum von der Freiheit verwandt ...

Wahrscheinlich war den Menschen Sicherheit lange wichtiger als Freiheit. Ich weiß nicht, ob die Bewohner der Stadt in all den Jahrhunderten bis hin zum Zweiten Weltkrieg einen so engen Kontakt zum Meer hatten, wie wir ihn heutzutage anstreben. Vielleicht haben die meisten Bürger im alten Reval das Meer im Alltag ähnlich selten gesehen wie die Menschen im sowjetischen Tallinn? Das waren ja nicht alles Fischer und Handelsreisende. Vielleicht fühlten sie sich innerhalb der Stadtmauern ganz wohl, weshalb hätten sie am Meer spazieren gehen sollen.

Oder geht es gar nicht um den Traum vom Meer und von der Freiheit, sondern ganz schlicht um Naherholung? Stammt daher der Wunsch, dass, wenn eine Stadt am Meer liegt, dieses für alle jederzeit und schnell erreichbar sein möge?

Mir scheint, die Diskussion, ob Tallinn eine Stadt am Meer ist bzw. eine war und nun wieder eine werden muss, verrät mehr über uns selbst als über die Stadt.

Montag, 18. Juli 2011

Ahoi!

Die Meerestage haben allen gut gefallen. Drei Tage lange spazierten die Menschen am Kulturkilometer und rund um das neue Meeresmuseum und im Passagierhafen und im alten Hafen herum. Das Programmm war nett und größtenteils kostenlos und das Bild, was ich im Kopf behalten werde, ist dieses: Viele kleine Menschen auf großen Schiffen, umrahmt von bunten Signalflaggen, die fröhlich im Wind flattern, und der hellblaue Himmel und das dunkelblaue Meer leuchten um die Wette.


Der Moment gehörte auch zum Schluss der Meerestage der Krusenstern. Drei Tage lang war die Schlange vor dem Schiff nicht kleiner geworden. Und am Sonntagabend versammelten sich die Menschen nochmal am Kai, um die Krusenstern zu verabschieden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie im Vergleich zu den Besuchern des Konzerts, das gleichzeitig stattfand, in der Überzahl waren. Wieder ein dreifaches, kräftiges Tröten, die Schlepper ziehen das Schiff aus dem Hafen, ein paar Segelyachten schippern hinterher, bald schon hat die Krusenstern die Hafenmauern hinter sich gelassen und gleitet hinaus in die Bucht, dem Horizont entgegen. So stolz und elegant, da sind die Helsinki-Fähren, die sich im Halbstundentakt in den Hafen schieben, plumpe Pötte.


Ich habe gehört, dass die Krusenstern, als sie hier zehn Jahre lang im Hafen lag, den Menschen gar nicht so wichtig war. Ahoi, Krusenstern!

Samstag, 16. Juli 2011

Die Krusenstern in Tallinn


Das Bild ist ein bisschen geschummelt, ich gebe es zu. Aber ich muss es hernehmen, denn auf diesem Bild ist ein Mythos zu sehen.

Die Ankunft der Krusenstern war der Höhepunkt der Meerestage an diesem Wochenende. Nach zwanzig Jahren kam sie gestern wieder in die Stadt zurück, die von 1981 bis 1991 ihr Heimathafen gewesen war. Als sie pünktlich um 12 Uhr im Hafen einlief, begrüßte sie die Stadt mit einem dreifachen Hupen. Es gab einen Empfang mit allem Drum und Dran, Salutschüssen, Militärorchester und hochrangigen Gästen. Doch der größte Willkommensgruß waren Hunderte von Menschen, die sich auf dem Kai versammelt hatten, um das Schiff zu bestaunen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden sie in der langen Schlange anstanden, um das Schiff zu besichtigen.


Unter den Wartenden war auch die Crew, die in den 1980er Jahren auf dem Schiff gearbeitet hatte. Für sie ist die Krusenstern die Erinnerung an gute Zeiten. Der wissenschaftliche Assistent des Kapitäns, der Ingenieur, die Maschinisten, die Ehefrauen, sie alle feierten das Wiedersehen, klopften sich auf die Schulter und tauschten alte Fotos aus. Manche hatten Blumensträuße mitgebracht, um sie ihren Kameraden zu schenken. Denn drei Besatzungsmitglieder von damals arbeiten noch heute auf dem Schiff.


Die Krusenstern ist der letzte der berühmten Flying-P-Liner der Reederei F. Laeisz, der noch im Einsatz ist. 1926 wurde das Schiff auf der Joh. C. Tecklenborg-Werft bei Bremerhaven vom Stapel gelassen – als Padua, denn traditionsgemäß begannen die Namen der Schmuckstücke der Laeisz-Flotte mit einem P. Und während die Schwesternschiffe, wie zum Beispiel die Pamir, untergegangen sind, oder, so wie die Passat in Travemünde, heute ein Dasein als Museumsschiff fristen, umsegelt der Windjammer, der einst Padua hieß, noch heute die Weltmeere. Als russisches Segelschulschiff gehört die Krusenstern nämlich seit 1991 zur Russischen Staatlichen Baltischen Akademie der Fischereiflotte, ihr Heimathafen ist seitdem Kaliningrad.


Mit seinem Namen erinnert das Schiff an die erste Weltumseglung unter russischer Flagge. Als es 1946 als Reparationsleistung an die Sowjetunion ging, wurde es dort nach dem deutschbaltischen Adligen Adam Johann von Krusenstern benannt. Der kam 1770 in der Nähe von Rappel (in Estland, heute Rapla) zur Welt und war von 1803 bis 1806 Leiter der erfolgreichen russischen Expedition. Das Grab von Krusenstern ist in der Domkirche und ich vermute, dass die Besatzung des Schiffs es gestern besucht hat, denn heute lagen zwei dicke Sträuße roter Nelken links und rechts des Grabsteins.

Die Krusenstern - das sind die dicht versponnenen und mitunter verworrenen Fäden der Geschichte von Deutschen, Russen und Esten.


Mittwoch, 13. Juli 2011

Statt Sommerhaus

Eine große Sommerfaulheit befällt in diesen Tagen die Menschen. Viele Bekannte sind jetzt auf ihren Sommerhäusern und nach all ihren Erzählungen stelle ich mir vor, dass sie den ganzen Tag nur auf der Veranda sitzen und Walderdbeeren naschen. Und wenn sie alle verspeist haben, gehen sie wieder in den Wald oder auf die Wiesen und sammeln neue. Und dann setzen sie sich wieder in den Garten und essen weiter. Und manchmal waten sie langsam ins Meer – ins Meer hüpfen können sie eigentlich nicht, das Wasser ist ja so flach.

Die Tage rund um Mittsommer waren sommertrunken, übervoll von Glück und Ausgelassenheit. Jetzt ist der Höhepunkt überschritten und es hat sich eine große gähnende Trägheit breitgemacht. Vielleicht blieb man in mancher Nacht zu lange wach? Wer noch in der Stadt bleiben muss, scheint zu leiden, rutscht ungeduldig auf seinem Schreibtischstuhl hin und her und mag den Urlaub kaum erwarten. Da haben die jungen Arbeitnehmer ohne Kinder eindeutig das Nachsehen.

Ich habe kein Sommerhaus. Mein liebstes Fluchtziel für den Alltag ist die Halbinsel Paljassaare, nordwestlich vom Stadtzentrum. Dort ist die Natur, dafür, dass ich mit dem Rad gerade mal eine halbe Stunde brauche, bis ich da bin, herrlich ungebändigt. Die Halbinsel war sowjetisches Sperrgebiet und mit mehreren Reihen mannshohem Stacheldrahtzaun gegen die Außenwelt geschützt (Flucht- ebenso wie Angriffsgefahr!). Jetzt bröckeln die Zäune und Wachtürme wie so viele Sandsteinbauten in dieser Stadt gemächlich vor sich hin und überlassen das Gebiet bereitwillig den Vögeln und den Anglern. Letztere sind so scheu wie ihre gefiederten Kollegen und nur ab und an als nackte Oberkörper im Schilf zu erspähen.

Alles scheint in diesen Tagen so vollendet, alles steht in voller Blüte. Selbst die Vögel, die vor zwei, drei Wochen noch aufgeregt gesungen haben, sind müder geworden. Der Sommer wird nimmer länger und die Wiesen werden nicht mehr bunter. Aber noch ist es herrlich, wilde Blumen, soweit das Auge reicht, grenzen ans Meer. Ich wünschte, ich könnte jede einzelne pflücken und trocknen und für den Winter aufbewahren.



Dienstag, 12. Juli 2011

Musik am Abend

Und wenn in diesen Tagen die Musik vom Domberg jeden Tag zwei Minuten früher erklingt, dann werde ich wehmütig. Genau zum Sonnenuntergang wird die estnische Flagge auf dem Langen Hermann eingeholt, dazu ertönt ein Volkslied. Jeden Abend am offenen Fenster weiß ich für einen Moment: Länger wird der Sommer nimmer.

Prinzessinnen

Bei einer Führung durch den Dom habe ich Toomas Mäeväli kennengelernt. Er ist Orgelbauer und macht jeden Freitagnachmittag eine Runde durch die Stadt, um die Kirchenorgeln zu prüfen und gegebenenfalls zu stimmen. Neulich habe ich ihn begleitet und so viel Interessantes über die Orgeln in Tallinn und Estland erfahren.


Die Besonderheit der Orgellandschaft in Estland ist, dass so viele romantische Orgeln aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert im Originalzustand erhalten sind. In Deutschland sind diese kaum noch zu finden, da dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte Orgelbewegung einsetzte. Sie versuchte, die Orgeln in den barocken Zustand zurückzuversetzen. Das war gut gemeint aber übereifrig, denn oft waren fragwürdige Kompromisslösungen das Ergebnis. Estland hat die Orgelbewegung nicht erreicht und bald darauf führte der Sowjetstaat mit seiner atheistischen Ideologie zu einem Quasi-Stillstand im Kirchenleben und damit auch im Orgelbau. Und als dieser nach 1991 beendet war, warteten die romantischen Orgeln gewissermaßen wie vergessene Prinzessinnen auf ihre Entdecker.

Was eine romantische Orgel ausmacht? Sie versucht, ein ganzes Orchester zu imitieren und dessen verschiedene Klangfarben möglichst ohne Brüche zu vermischen. Die Beschriftung der Knöpfe am Spieltisch liest sich wie die Besetzung eines Orchesters: Oboe, Horn, Klarinette, Trompete … Besonders beliebt waren bei romantischen Orgelbauern Pfeifenreihen, die wie Streicher und Flöten klingen.


In gutem Zustand ist die Domorgel, die 1998 von der Orgelwerkstatt Christian Scheffler aus Sieversdorf bei Frankfurt/Oder renoviert wurde. Alle 73 Register mit insgesamt 4500 Pfeifen funktionieren. Sie trägt die Handschrift von gleich zwei berühmten deutschen Orgelbauern. Zunächst wurde sie mit 48 Registern vom Weißenfelser Orgelmeister Friedrich Ladegast gebaut und 1878 eingeweiht. 1913 beschloss die Kirchengemeinde, die Orgel moderner zu gestalten, und ließ sie von Wilhelm Sauer aus Frankfurt/Oder erweitern. Der größte Teil der Pfeifen von Ladegast und der Prospekt – also das, was die Kirchenbesucher von der Orgel sehen – wurden aber beibehalten, so dass das Instrument heute sozusagen eine Best-of-Mischung, eine Ladegast-Sauer-Orgel ist.

Die Orgel in der Olaikirche ist weniger gut erhalten, nicht alle Register sind spielbar. Doch auch sie entfaltet einen Zauber, wie es nur die Königin der Musikinstrumente vermag. Zusammen mit Toomas Mäeväli bin ich in der Orgel herum geklettert. Ja, geklettert, denn was nach außen hin so schön silbern oder golden glänzt, ähnelt im Innern eher einem staubigen Speicher. Kleine Holzstiegen führen zu den verschiedenen Registern, den Reihen von unterschiedlich großen Pfeifen aus Holz oder Metall. Und als ich also vorsichtig die Orgel erkundete und zwischen den größten Pfeifen hindurch einen luftigen Blick hinunter in den Kirchenraum erhaschte, begann eine Probe mit der Organistin und einigen Sängern. Das Holz knarrte, die Blasebälge schnauften und die Pfeifen nebenan hoben zum Singen an und das war sehr, sehr feierlich.


Ein Tipp für alle baldigen und potentiellen Tallinn-Besucher: Jeden Samstag um zwölf gibt es im Dom ein halbstündiges Orgelkonzert. Diese "Orelipooltund", wörtlich "Orgelhalbestunde", kostet keinen Eintritt. Gerade jetzt im Sommer konzertieren häufig auch Organisten aus dem Ausland - denn die sind ganz heiß darauf, mal auf einer echten romantischen Orgel zu spielen.

Sonntag, 10. Juli 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail – Folge 1

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Zu entdecken zum Beispiel an den Fassaden. Da werden Dachgiebel von Himbeeren umrankt, da dient das Mauerwerk als Maulkorb, da streckt einem die Regenrinne die Zunge raus.





Der Herr mit der Brille wohnt in der Pikk-Straße. Von ihm erzählt man sich folgende Geschichte: Ein reicher Kaufmann hatte einst eine hübsche junge Frau geheiratet. Das Glück des Paares wurde allein dadurch getrübt, dass die Frau, wenn sie sich des Abends umzog und in ihr Nachtgewand schlüpfte, fremde Blicke ertragen musste. Der Nachbar von gegenüber, der alte Gaffer, schaute frech ins Fenster hinein. Wer sich von den Blicken mehr gestört fühlte, ob die schöne Frau oder ihr Gatte, ist nicht überliefert. Doch der reiche Kaufmann war ein findiger Mann und wusste sich zu helfen. Er ließ eine Büste anfertigen, die dem neugierigen Nachbarn wie aus dem Gesicht geschnitten war, und brachte sie am First seines Hauses an. Fortan musste dieser, wenn er die holde Maid bestaunen wollte, auch den Anblick seiner selbst ertragen. Und das verdarb ihm die Lust. Und so lebten der Kaufmann und seine Frau vielleicht glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende …

Freitag, 8. Juli 2011

Nachtrag zu: Strick-Graffiti

Die Strick-Graffiti haben also großen Anklang gefunden. Hier deshalb noch die Regenrinne aus Riga.


Wahrscheinlich ist die Regenrinne das „echteste“ Graffito – da vielleicht spontan von einem unbekannten Künstler so farbenfroh umhüllt. Die Häkeleien in Tallinn sind, wenn man so will, ja "nur" entstanden, weil es die Lehrerin gesagt hat. Und die Künstlerin Elisabeth Thiessen gibt ihren Werken in Berlin bereits Namen, das klingt schon sehr etabliert.

In Deutschland habe ich umhäkelte Laternenpfahle oder Ähnliches noch nie gesehen. Das liegt nicht nur daran, dass ich aus Bayern komme. Meine Cousine aus Berlin kannte Strick-Graffiti bislang auch nicht. Es kann also sein, dass sie – wie Italiano vermutet – tatsächlich gut „ins Baltikum“ passen. Dass es kein Zufall ist, dass wir sie dort entdecken, weil Strick-Graffiti verspielt und unprätentiös sind.

Den Strick-Graffiti irgendwie ähnlich sind, so finde ich, folgende Ergänzungen, die Menschen in Tallinn ihrer Umwelt hinzugefügt haben:




Was ist das also, was wir hier sehen? Kunst? Schon Streetart? Deko? Lebensraumverschönerung? Untermauern diese Funde die These, dass liebevoller und bescheidener Alltagsschmuck typisch für Tallinn oder sogar „das Baltikum“ ist?

Auf jeden Fall zeigen sie, dass Tallinn eine Stadt ist, in der es unglaublich viele Kleinigkeiten zu entdecken gibt. Oder anders gesagt: Ganz viel von Tallinn steckt im Detail.

Dienstag, 5. Juli 2011

Sängerfest - Laulupidu

Ja, ich habe ein klein wenig geweint. Obwohl ich gar keine Estin bin. (Darf ich trotzdem weinen?) Ich hatte – obwohl ich in etwa wusste, was mich erwartet – nicht mit dem gerechnet, was kam. „Was für ein Land ist das?“ haben sie als Eingangslied gesungen und dann die Nationalhymne. Wir saßen in der Loge und damit auf der Bühne und mitten zwischen den Chören, links und rechts jeweils mehrere Hundert singender Menschen. Und dann sangen nicht nur diese Chöre, sondern auch das Publikum stimmte mit ein. So in der Mitte eines Gesangs war ich noch nie gewesen. Um mich herum war nur Lied. Und ja, es war wirklich so, dass es sich anfühlte, als ob ein ganzes Volk singt. Das war sehr feierlich und das ging mitten ins Herz.

Was ich am Freitagabend dann zu sehen bekam, war ein echtes Spektakel. Die Tanzfläche war ein Meer aus Trachten, das hin und her wogte, in dem Wellen aufeinander zu und voneinander weg liefen. So faszinierend, dass aus den verworrenen Strudeln am Ende immer wieder geometrische Figuren entstanden! Und wenn sich fünftausend Röcke gleichzeitig um ihre eigene Achse drehten, dann drang das Rauschen bis ganz nach oben.


Der wichtigste Tag aber für die Besucher des Tanz- und Sängerfests war der Sonntag. (Kurz zur Info: Das Sänger- und Tanzfest an diesem Wochenende war nicht das große Sänger- und Tanzfest, das findet erst 2014 wieder statt, sondern das Sänger und Tanzfest der Kinder und Jugendlichen. Am Freitag- und Samstagabend fand das Tanzfest statt, am Sonntagnachmittag das Sängerfest. Am Sonntagvormitttag gab es zudem eine große Parade, Tänzer, Sänger und Musiker zogen von der Innenstadt zum Sängerfestplatz.)

Die deutschen Leser meines Blogs erahnen die Stimmung am Sonntag wohl am besten, wenn sie sich ein riesiges, riesiges, sehr frohes und sehr buntes Volksfest vorstellen. Nur die Fahrgeschäfte müssen sie sich wegdenken. Und vor allem die bayerischen Leser das Bier, das spielt keine große Rolle. Hinzudenken müssen sie sich einen gewaltigen Chor und eine große Picknickwiese.

Eigentlich versammeln sich die Esten äußerst ungern, das widerspricht, so sagen sie, ihrem Naturell. Aber zum Sängerfest machen sie eine Ausnahme, dann gibt es ein großes Hallo, wenn sich halb Estland, so möchte man glauben, zum Picknick trifft. Wer sich also das Fest im Kopf ausmalt, sollte schließlich noch folgenden Gedanken ergänzen: Dass sich alle Besucher des Fests einfach dadurch, dass sie gemeinsam da sind, als große Familie fühlen. Und sicherlich auch als Nation.

Exkurs: Die Geschichte des Sängerfests

Dass das erste estnische Sängerfest 1869 in Tartu stattgefunden hat, weiß hierzulande jedes Kind. Initiiert wurde es vom Publizisten Johann Voldemar Jannsen und schon damals versammelten sich rund 850 Teilnehmer und 15 000 Zuhörer. Das Fest hatte, wie auch die folgenden in dieser Zeit des Nationalen Erwachens, einen politischen Charakter, die Lieder unterfütterten das Selbstverständnis als Nation und dienten auch der Abgrenzung von Deutschen und Russen.

Inspirieren lassen hatten sich die damaligen Wegbereiter der Sängerfeste freilich dennoch von den Deutschbalten, die schon einige Jahre zuvor ähnliche Veranstaltungen in kleinerem Rahmen abgehalten hatten. Nachdem Janssen 1857 und 1866 an den Baltischen Sängerfesten in Reval teilgenommen hatte, nutzte er 1869 den 50. Jahrestag der Bauernbefreiung in Livland als Anlass, um die Genehmigung für ein estnisches Sängerfest einzuholen. Zehn Jahre später fand das zweite statt. Eine ähnliche Tradition entwickelte sich in Lettland und Litauen.

Viele Jahrzehnte lang konnten die Sängerfeste nur innerhalb des von oben vorgegebenen Rahmens stattfinden, erst musste mit ihnen dem Zaren gehuldigt werden, dann Lenin und Stalin. Trotzdem gelang es den Esten, sich das Fest als ihr ganz eigenes zu bewahren. Nachdem die Pflichtdarbietungen vollbracht waren, stimmten sie zu guter Letzt noch immer ihre geliebten althergebrachten Lieder und Melodien an. 1989 schließlich wurde das, was sich die Menschen in Estland, aber auch in Lettland und Litauen so bewahrt hatten, zur treibenden Kraft der „Singende Revolution“. Seit 2003 sind die Sänger- und Tanzfeste der drei Länder von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt.

Was mir am längsten im Gedächtnis bleiben wird, sind die Gesichter der Menschen. Die Kinder beim Auszug vom Sängerfestplatz, völlig ausgelassen, weil alles so gut geklappt hat, manche tragen sich gegenseitig Huckepack. Jungs, die bei der Parade voranschreiten und mit ihren kleinen Kinderarmen schwere Fahnen stemmen. Und erschöpfte Tänzer, selig schlummernd im Schatten.

Freitag, 1. Juli 2011

Was sich so tut

Schon ziemlich bald nach meiner Ankunft wurde ich von neugierigen Menschen (und insbesondere neugierigen Journalisten aus Brandenburg) gefragt, ob sich Tallinn in der Zeit, die ich schon hier verbracht habe, verändert habe. Und ob das am Kulturhauptstadtjahr läge. Ich fand diese Frage für mich zu früh. Natürlich hatte sich die Stadt verändert, doch das führte ich vor allem auf den Sommeranfang zurück.

Mittlerweile aber ist der 1. Juli, zwei Monate sind rum und ich habe Antworten auf diese Frage gefunden, die ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.

Eine besondere Sympathie hege ich ja von Anfang an für die Gegend rund um den Kulturkilometer. (Er wurde, wie mancher Leser noch weiß, Anfang Mai als Spazier- und Radweg auf einem alten Bahndamm eröffnet und gehört – natürlich – zu Kalamaja.) Regelmäßig bin ich dort unterwegs und bemerke, was sich so tut.

Unlängst hat zum Beispiel auf einem alten Fabrikgelände ein Gemeinschaftsgarten (Katlaaed) aufgemacht. Jeder, der will, bekommt kostenlos ein Stück Beet zur Verfügung gestellt, wenn er verspricht, dieses hübsch zu bepflanzen. Eine Feuerstelle gibt es schon, bald soll eine kleine Open-Air-Bühne dazukommen und vielleicht entsteht zwischen den alten Mauern eine grüne Oase.

Nahezu rund um die Uhr sind die Arbeiter am Meeresmuseum auf den Beinen. In drei großen Hangars, die früher Wasserflugzeuge beherbergten, sollen Schiffe ausgestellt werden. Eigentlich hätte das Museum im Mai eröffnet werden sollen, nun ist November angepeilt, was die Einheimischen ziemlich wurmt. Aber auch dort passiert was, immerhin der Kinderspielplatz mit einem echten Abenteuerschiff ist schon zu besuchen. Und einige besonders motivierte Touristen erkunden schon mal die Baustelle.

Das ganze Gebiet war zu Sowjetzeiten abgeriegelt und durch die Gleise der Güterbahn von der Stadt getrennt ... Wenn man das bedenkt, kann man spüren, wie eine abgewrackte und halb-vergessene Gegend aus dem Schlaf erwacht.

Irgendwann neulich hat auch die Ökoinsel (Ökosaar) im Fischerhafen angelegt. Auf einem Ponton steht ein roter London-Bus, er ist die Bar, rundherum dienen alte Kanister, Plastikplatten und Kabeltrommeln als Tische und Sitzgelegenheiten. Die Idee ist schnell verstanden, offenbar wurde die ganze Insel aus Recycling-Materialien zusammengezimmert. Kein schlechter Ort, um ein billiges Milchspeiseeis zu schlecken oder ein kühles Saku-Bier zu trinken!

Am allerbesten aber gefallen mir die neuen Liegeflächen am Fischerhafen. Der Kai ist dort an vielen Stellen halb ins Wasser gerutscht, die Betonplatten sind rissig und hängen schief Richtung Hafenbecken. Und was hat man vor einer Woche kurzerhand gemacht? Man hat diese Betonplatten mit schönen, gepflegten Holzplanken versehen, die Kanten sorgfältig an die Bruchstellen angepasst und so sind dort Liegeflächen entstanden, wie sie in einem neu eröffneten Freibad nicht besser zu finden wären. Ein perfekter Platz für Mädels, die gerade drei Monate Sommerferien haben.

Natürlich könnte man warten, ob sich der Fischerhafen irgendwann in ein romantisches Kleinod wie an der französischen Atlantikküste verwandelt, mit weiß getünchten Häusern, Segelmasten, die im Wind klappern, Restaurants und Bars, wo die Menschen abends entlang flanieren. Besser aber ist es, das zu nehmen, was jetzt schon da ist.

Jetzt das Beste aus dem machen, was wir haben! Darum geht es doch.