Donnerstag, 25. August 2011

Parsifal in der Kapsel

Die Premiere von Parsifal (und die erste Aufführung der Oper in Estland überhaupt) findet heute in der Noblessner-Halle statt. Seit 2009 wird die ehemalige Gießerei auf dem Gelände einer Werft immer wieder für Konzerte genutzt und dass dort alles andere als Festspielhaus-Atmosphäre herrscht, macht den Reiz aus. So etwas sei in Deutschland nicht zu finden, sagt Regisseurin Nicola Raab, und dass die Spielstätte für sie so etwas wie eine „Zeitkapsel“ sei.

Tatsächlich entzieht sich die Zeit in der Industriebaracke jeglichem Zugriff. Wahrscheinlich haben die Arbeiter ihre Halle schon vor zwanzig Jahren aufgegeben, vielleicht auch erst vor drei Wochen. Überall stehen Blechtonnen herum, in der Ecke lehnt ein Besen, zwischen Kabeln und Werkzeugen liegt auf dem Boden ein Hinweisschild mit der pädagogischen Mahnung in Du-Form: „Verstelle nichts an den Maschinen!“ Der rote Teppich führt über ein Gerüst auf die Ränge hinauf und wer in den Zuschauerraum tritt und sich umdreht, blickt auf eine Uhr hoch oben an der Wand. Das Ziffernblatt ist zerschlagen, die Zeiger stehen für immer auf halb acht, darunter ist aufs Wellblech die Losung gepinselt: „Marxismus und Leninismus sind das Banner unserer Epoche.“ Die Bläser hocken, wie in einer Garage, im Seitenflügel der Halle, zwischen alten Gerätschaften und unter dem überlebensgroßen Konterfei eines emsigen Arbeiters. Sogar der metallisch-beißende Geruch ist noch erhalten und hat wohl, obgleich er über die Jahre hinweg doch etwas nachgelassen hat, drei Bratschistinnen und eine Cellistin veranlasst, Mundschutz zu tragen.

Reminiszenzen an die real existierende Vergangenheit der Halle sind in der Inszenierung mit Bedacht platziert, sie lassen sich finden, aber nicht überall und mitunter nur mit Phantasie. Ich entdecke naheliegende, dass Lüftungsrohre eine Hügellandschaft mit Burg formen, beklemmende, als die Gralsritter für mich aus Sibirien zurückkehren und erheiternde, weil sich unter der grünen Arbeiterkluft der Blumenmädchen Spitzenröcke verstecken. Eine kurzweilige fünfstündige Generalprobe, so dass ich mich schon auf die „echte“ Aufführung am Sonntag freue.




P.S. Die Noblessner-Halle befindet sich in Kalamaja, unweit des Kulturkilometers.

4 Kommentar(e):

Anonym hat gesagt…

ich lese gar nix, über die vorstellung ???? Am 26.8 gab e s ja soagr standing Ovations, das Publikum hat Kundry und Parsifal stürmisch Bravo Rufe gegeben und zugejubelt..... kein Bericht ???

Anonym hat gesagt…

Hallo Anonymus,

es ist nicht der Kerninhalt dieses Blogs, über die Kultur-Events im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres in Tallinn zu berichten.
Falls Sie / Du bei einer der Aufführungen Gast sein konnten / konntest, wäre es schön, hier in der Kommentarabteilung etwas über die Eindrücke lesen zu können.

Viele Grüße

Sarah Jana Portner hat gesagt…

In der Tat, ich bin, auch wenn das viele Menschen zunächst vermuten, keine Kulturhauptstadtschreiberin. Und (leider(?)) auch keine ausgebildete Musikkritikerin. Wie ich geschrieben habe, habe ich das Stück am Sonntag nochmal gesehen. Auch an diesem Tag hat das Publikum die Darsteller mit stehenden Ovationen bedacht. Doch so, wie ich das mitbekommen habe, lässt sich das Publikum in Estland recht schnell zu begeistertem Beifall hinreißen, das muss nichts heißen.

„Parsifal“ war mein erster Wagner. Ich kann deshalb nicht über die Aufführung urteilen, auch wenn sie mir gut gefallen hat. In meinem Bekanntenkreis sind die Meinungen geteilt, sie reichen von „Das war nichts Neues.“ bis zu „Überwältigend!“ Auf jeden Fall sorgt „Parsifal“ auch einige Tage nach der letzten Darbietung noch für viel Gesprächsstoff. „Er“ war ja auch, so habe ich gehört, das größte Opernprojekt, das jemals in Estland realisiert wurde.

Anonym hat gesagt…

Hallo zusammen,

ich komme erst jetzt dazu diesen spannenden Beitrag über die erste Aufführung des "Parsifal" in Estland zu kommentieren.

Als am Werk Wagners Interessierter möchte ich beitragen, dass es sich bei "Parsifal" nicht um eine "Oper" im landläufigen Sinne handelt. Im Allgemeinen hat Wagner mit Ausnahme seiner "Jugendwerke" ("Feen", "Liebesverbot" und "Rienzi") lediglich den "Holländer", "Tannhäuser" und "Lohengrin" als Opern bezeichnet. "Tristan und Isolde" sowie "Die Meistersinger" bezeichnet er als "Handlung", den "Ring des Nibelungen" als "Festspiel".

Den "Parsifal" wiederum als "Bühnenweihfestspiel". Darunter ist Folgendes zu verstehen: nicht eine Bühne wird durch die Aufführung des Stücks (ein)geweiht, sondern das Stück wird einer einzigen Bühne geweiht - dem Bayreuther Festspielhaus, auf dessen einzigartige Akustik Wagner nach den ersten Festspielen 1876 den "Parsifal" nach 1877 zuschnitt und auch 1882 uraufführte. Der damalige Urheberschutz erlaubte tatsächlich, dass das Stück dreißig Jahre nach Wagners Tod 1883 nur in Bayreuth aufgeführt werden durfte (wenngleich man sich wohl in den USA darüber hinweggesetzt hat).

Warum ist "Parsifal" aber auch keine dem landläufigen Verständnis entsprechende Oper? Nun, es gibt keine Arien, die als populäre Versatzstücke bspw. netrebsk auf gut sich verkaufende Tonträger pressen oder bei Fernseh-Gastspielen berühmter Sänger zum Besten geben oder gar vom Volksmund als Gassenhauer verwenden lassen. Es gibt stattdessen typisch für Wagner die sog. "unendliche Melodie", die Musik und der Gesang leiten sich logisch aus der Handlung ab, nicht umgekehrt wie bei so vielen anderen Opern, die quasi um die einzelnen "Hits" herumgedichtet wurden. Generell ist das Stück in sehr langsamen Tempi gehalten, es fehlt über weite Strecken an äußerer Handlung, stattdessen wird viel aus der Vergangenheit erzählt oder berichtet, in oftmals fast statisch wirkenden Figuren-Tableaus - was natürlich Inszenierungsschwierigkeiten schafft.

Zum Weiterlesen für Interessierte:
Rappl, E. (1981 [1967]): Wagner. Opernführer. Regensburg, 4. Auflage.

Zum Weiterhören:
http://www.youtube.com/watch?v=nJ3yTbvwjkI&feature=related

Hans Knappertsbusch dirigiert bei den ersten Nachkriegs-Festspielen 1951 das Vorspiel zum 1. Aufzug.

Allgemein: vielen Dank für die tollen Berichte aus Tallinn und liebe Grüße!

Kommentar veröffentlichen