Dienstag, 23. August 2011

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt

Als ich gestern über den Weg Estlands in die Unabhängigkeit geschrieben habe und über die Menschenkette zwischen Vilnius und Tallinn am 23. August 1989, machte mich der eine Jahrestag auf den nächsten aufmerksam. Denn die Menschenkette formierte sich am 50. Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, der vor allem als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist. Heute ist also der 72. Jahrestag dieses Abkommens und ich nehme ihn als Anlass für eine kurze Skizze. Natürlich haben wir alle in der Schule gelernt, dass es diesen Pakt gab. Was er für die Menschen, die damals in Estland lebten, und deren Nachkommen bedeutet hat, habe ich erst richtig begriffen – so begriffen, dass ich es nicht mehr vergesse – als ich vor drei Jahren einen Tag im Heimatmuseum in Kuressaare (auf Saaremaa) verbracht habe.

In den geheimen Zusatzprotokollen zum Nichtangriffspakt teilten das Deutsche Reich und die Sowjetunion Osteuropa unter sich auf, die eine Hälfte wurde als deutsche „Interessenssphäre“ deklariert, die andere als sowjetische. Estland, so wurde abgemacht, sollte an die Sowjetunion fallen. Konkretisiert und zum Teil noch modifiziert wurden die Abmachungen am 28. September 1939 im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Mit ihm wurde unter anderem beschlossen, dass die deutschen Bevölkerungsgruppen, die in der sowjetischen „Interessenssphäre“ lebten, nach Deutschland „umgesiedelt“ werden sollten.

In Kuressaare habe ich Fotos gesehen, auf denen Familien mit ihrem Gepäck die Schiffe betreten, auf denen die estnischen oder schwedischen Freunde zum Abschied winken, mitunter weinen. „Heim ins Reich“ sollten die Deutschbalten geholt werden, „heim“ in die neu gegründeten „Reichsgaue“ Wartheland und Danzig-Westpreußen, die zum größten Teil auf zuvor polnischem und soeben annektiertem Gebiet lagen. Die Tränen der Menschen waren nicht nur dem Abschiedsschmerz geschuldet. Sowohl die, die Estland verließen, als auch die, die blieben, ahnten sehr genau, warum die Deutschen gingen.

Ende September verlangte die Sowjetunion von Estland, Lettland und Litauen den Abschluss von „Beistandspakten“ – die Forderung war ultimativ, Widerstand gegen die Übermacht Sowjetunion aussichtslos. Am frühen Morgen des 18. Oktobers 1939 begannen 25 000 sowjetische Soldaten, die Grenze zu Estland zu überschreiten, die Stationierung der Truppen wurde durch den „Beistandspakt“ ermöglicht. Am gleichen Tag verließ das erste Schiff mit den deutschbaltischen „Umsiedlern“, die „Utlandshörn“, den Tallinner Hafen. Bis zum Jahresende hatten die meisten Deutschbalten (rund 14 000) Estland verlassen, auch wenn 1941 noch die „Nachumsiedler“ folgten – darunter viele Esten, die eine deutsche Abstammung belegen konnten.

Neben den Fotos hat sich mir in Kuressaare eine Landkarte mit Demarkationslinien und Frontverläufen ins Gedächtnis eingebrannt. Im Juni 1940 marschierten weitere Soldaten ins Land ein, besetzten Gebäude und Häuser, die politische Kontrolle übernahm Andrej Ždanov, ein Vertrauter Stalins, Estland war von der Sowjetunion okkupiert. Nach der Durchführung von Scheinwahlen wurde im August die formelle Aufnahme Estlands in die Sowjetunion vollzogen – zeitgleich mit der von Lettland und Litauen. Mitte Juni 1941 liefen die sowjetischen Massendeportationen an.

Eine Woche später begann die deutsche Wehrmacht die „Operation Barbarossa“ – den Angriff auf die Sowjetunion, am 7. Juli erreichte sie estnischen Boden. Im ersten Moment wirkten die deutschen Soldaten für viele Esten nach dem erfahrenen Leid und Schrecken mitunter eher wie Befreier, doch sie waren es nicht. Estland wurde wirtschaftlich für den Krieg ausgebeutet und die Besatzer machten sich an die „Säuberung“ des Territoriums, in den Arbeits- und Konzentrationslagern auf ehemals estnischem Gebiet wurden Juden (vor allem, aber nicht nur aus Litauen; die jüdische Gemeinde in Estland war verhältnismäßig klein), politische Gefangene und andere Personengruppen interniert und ermordet.

Im März 1944 begannen die sowjetischen Luftangriffe gegen das deutsch besetzte Estland (auch Tallinn wurde großflächig zerstört) und als sich im Sommer 1944 abzeichnete, dass die Sowjetunion Estland zurückerobern würde, begann eine Massenflucht nach Schweden. Nicht jeder, der wollte, ergatterte einen Platz auf einem Schiff. (Es flüchtete auch: Ilon Wikland.) Mitte September 1944 war Estland wieder in den Händen der Roten Armee. Zur gleichen Zeit wurden die Menschen, die es ein paar Jahre zuvor aus Estland ins besetzte Polen verschlagen hatte, Teil des riesigen Menschenstroms, der aus Polen westwärts flüchtete oder vertrieben wurde.

(Zusammengefasst nach den Besuchen des Heimatmuseums in Kuressare sowie des Okkupationsmuseums in Tallinn und nach der Lektüre von "Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt" von K. Brüggemann und R. Tuchtenhagen sowie "Die Deutschbalten" von W. Schlau.)

4 Kommentar(e):

Anonym hat gesagt…

Zu diesen großen Thema fehlen einem irgendwie die passenden Worte. Für mich ist es wirklich unvorstellbar, wie die machthabenden Menschen damals "ticken" mussten, um so unendlich viel Leid - hier für ganz Osteuropa - absichtlich herbeizuführen.
Einfach nur zu sagen "Das kommt heraus, wenn zwei der allergrößten Tyrannen / Schweine der Weltgeschichte einen Vertrag schließen", greift ja auch zu kurz.
Ich habe aber aber noch zwei interessante ergänzende Texte gefunden,
hier ein paar Hintergründe:
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0822/feuilleton/0010/index.html

und hier Material zum Nachdenken:
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0822/feuilleton/0012/index.html
Nicht alle in Europa tun sich mit der historischen Einschätzung dieses völkerpolitischen Unrechts leicht, und die ganz spezielle russische Haltung wird sich seit 2009 (von damals stammt der Artikel) kaum geändert haben.
Den Esten macht das den Umgang mit den Russen nicht leichter, egal ob innerhalb oder außerhalb des Landes.

kloty hat gesagt…

interniert ist das falsche Wort hier. Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Kommunisten und andere wurden in KZs vernichtet. Wenn Du mal nach Israel kommst, fahre nach Yad Vashem. Das erste grossformatige Foto, dass Du am Eingang siehst, ist ein Photo der verbrannten Leichen aus dem estnischen KZ Klooga. Das war für mich ein Schock. Und dass es immer noch Leute gibt, die 70 Jahre später nicht einsehen wollen, dass mit den Kämpfen auf Sinimäe sie das Vorrücken der Roten Armee aufgehalten haben, die dem Gräuel Ende bereiten konnte, das ist der zweite Schock.

Sarah Jana Portner hat gesagt…

Hallo kloty, „interniert“ reicht nicht, das stimmt. Ich habe die Stelle im Text geändert.

Sarah Jana Portner hat gesagt…

Sozusagen auch ein Kommentar zu diesem Post ist übrigens der Brief von Frank von Auer an mich, der hier zu finden ist:

http://stadtschreiber-tallinn.blogspot.com/p/post-aus-und-nach-mainz.html

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