Freitag, 1. Juli 2011

Was sich so tut

Schon ziemlich bald nach meiner Ankunft wurde ich von neugierigen Menschen (und insbesondere neugierigen Journalisten aus Brandenburg) gefragt, ob sich Tallinn in der Zeit, die ich schon hier verbracht habe, verändert habe. Und ob das am Kulturhauptstadtjahr läge. Ich fand diese Frage für mich zu früh. Natürlich hatte sich die Stadt verändert, doch das führte ich vor allem auf den Sommeranfang zurück.

Mittlerweile aber ist der 1. Juli, zwei Monate sind rum und ich habe Antworten auf diese Frage gefunden, die ich meinen Lesern nicht vorenthalten will.

Eine besondere Sympathie hege ich ja von Anfang an für die Gegend rund um den Kulturkilometer. (Er wurde, wie mancher Leser noch weiß, Anfang Mai als Spazier- und Radweg auf einem alten Bahndamm eröffnet und gehört – natürlich – zu Kalamaja.) Regelmäßig bin ich dort unterwegs und bemerke, was sich so tut.

Unlängst hat zum Beispiel auf einem alten Fabrikgelände ein Gemeinschaftsgarten (Katlaaed) aufgemacht. Jeder, der will, bekommt kostenlos ein Stück Beet zur Verfügung gestellt, wenn er verspricht, dieses hübsch zu bepflanzen. Eine Feuerstelle gibt es schon, bald soll eine kleine Open-Air-Bühne dazukommen und vielleicht entsteht zwischen den alten Mauern eine grüne Oase.

Nahezu rund um die Uhr sind die Arbeiter am Meeresmuseum auf den Beinen. In drei großen Hangars, die früher Wasserflugzeuge beherbergten, sollen Schiffe ausgestellt werden. Eigentlich hätte das Museum im Mai eröffnet werden sollen, nun ist November angepeilt, was die Einheimischen ziemlich wurmt. Aber auch dort passiert was, immerhin der Kinderspielplatz mit einem echten Abenteuerschiff ist schon zu besuchen. Und einige besonders motivierte Touristen erkunden schon mal die Baustelle.

Das ganze Gebiet war zu Sowjetzeiten abgeriegelt und durch die Gleise der Güterbahn von der Stadt getrennt ... Wenn man das bedenkt, kann man spüren, wie eine abgewrackte und halb-vergessene Gegend aus dem Schlaf erwacht.

Irgendwann neulich hat auch die Ökoinsel (Ökosaar) im Fischerhafen angelegt. Auf einem Ponton steht ein roter London-Bus, er ist die Bar, rundherum dienen alte Kanister, Plastikplatten und Kabeltrommeln als Tische und Sitzgelegenheiten. Die Idee ist schnell verstanden, offenbar wurde die ganze Insel aus Recycling-Materialien zusammengezimmert. Kein schlechter Ort, um ein billiges Milchspeiseeis zu schlecken oder ein kühles Saku-Bier zu trinken!

Am allerbesten aber gefallen mir die neuen Liegeflächen am Fischerhafen. Der Kai ist dort an vielen Stellen halb ins Wasser gerutscht, die Betonplatten sind rissig und hängen schief Richtung Hafenbecken. Und was hat man vor einer Woche kurzerhand gemacht? Man hat diese Betonplatten mit schönen, gepflegten Holzplanken versehen, die Kanten sorgfältig an die Bruchstellen angepasst und so sind dort Liegeflächen entstanden, wie sie in einem neu eröffneten Freibad nicht besser zu finden wären. Ein perfekter Platz für Mädels, die gerade drei Monate Sommerferien haben.

Natürlich könnte man warten, ob sich der Fischerhafen irgendwann in ein romantisches Kleinod wie an der französischen Atlantikküste verwandelt, mit weiß getünchten Häusern, Segelmasten, die im Wind klappern, Restaurants und Bars, wo die Menschen abends entlang flanieren. Besser aber ist es, das zu nehmen, was jetzt schon da ist.

Jetzt das Beste aus dem machen, was wir haben! Darum geht es doch.



2 Kommentar(e):

Anonym hat gesagt…

Die Liegeflächen aus Holzplanken würden sich auch in jeder anderen Freifläche gut machen - sehr modern - aber wo sonst gibt es so schön ins Wasser "rutschende" Betonklötze.
Das Umfeld dieser kleinen Idylle ist allerdings schon noch sehr spröde - wie man auf dem Bing-Luftbild erkennen kann (übrigens die ganze Stadt Tallinn in wunderbaren Schrägluftbildern):

http://www.bing.com/maps/?v=2&cp=tx6vmsk1w6rt&lvl=18.436027379253172&dir=345.1049979637593&sty=b&where1=Tallinn%2C%20Estland&q=Tallinn&form=LMLTCC

Gibt es das alte Schiff noch, das man auf dem Luftbild erkennt? Ich kann mich nicht erinnern.

Aus stadt- und landschaftsplanerischer Sicht ergeben sich allerdings wunderbare Entwicklungsmöglichkeiten entlang des ganzen Küstenstreifens. Hier schafft jetzt die Tatsache, dass die ganze Gegend abgeriegelt war, erst die offenen Optionen für die Zukunft.
Vielleicht sind ja jetzt bald genug glitzernde Hochhäuser im Zentrum und prächtige Wohnhäuser in der Peripherie gebaut, so dass man sich z. B. an die Grünanlagen um den alten Fischerhafen machen könnte - der Platz dafür, in wunderbarer Lage, ist da. Manch andere Stadt würde sich die Finger ablecken nach solchen Entwicklungsmöglichkeiten. Nicht nur direkt am Fischerhafen, sondern auch an vielen anderen nahegelegenen Küstenabschnitten. Dann würde Tallinn tatsächlich wieder eine Stadt am Meer.
(man sollte aber vorher noch nach Altlasten suchen ...)
Meint „Italiano“

Sarah Jana Portner hat gesagt…

Hallo Italiano!

Ja, das gekenterte Piratenschiff, das auf dem Luftbild zu erkennen ist, gibt es noch. Es ist allerdings weiter im Meer versunken bzw. verrottet, das Heck ist quasi nicht mehr vorhanden. Trotzdem wird es ebenso gerne als Sprungbrett genutzt wie die rutschenden Betonblöcke. Als ich am Wochenende da war hatten gerade zwei Jungs viel Spaß auf ihrem Privatsteg ...

Von wann das Schiff wohl ist? Warum es dort gestrandet ist? Weiß das jemand?

Die Luftbilder von Bing sind klasse und gerade für Kalamaja sehr aufschlussreich. Man sieht z. B. noch die Eisenbahn, auf deren Trasse jetzt der Kulturkilometer verläuft. Und das Gefängnis (westlich der Brachfläche neben dem Fischerhafen) ist noch von hohen Mauern umzäunt. Jetzt laufen dort Touristen rum und genießen einen von Stacheldrahtresten umrahmten Meerblick.

Nun müsste man nur noch wissen, von wann die Aufnahmen sind ... Vielen Dank auf jeden Fall für den Link!

Und in fünf oder zehn Jahren möchte ich wiederkommen und sehen, wie es rund um den Fischerhafen aussieht. Hoffentlich entscheiden sich die Stadtplaner für viel Park, Liegewiese, Bolzplatz ...

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