Freitag, 24. Juni 2011

Jaanipäev – Johannitag

Die Stadt ist in diesen Tagen sehr ruhig, denn der Jaani-Tag ist ein Fest, das auf dem Land gefeiert wird. (So ist, wer in der Stadt bleibt und kein Tourist ist, ein wenig zu bedauern. Vielleicht hat er kein Sommerhaus und keine Freunde?) Das „Land“ allerdings beginnt in diesem Fall noch im Stadtgebiet Tallinn, auf dem Gelände des Freilichtmuseums in Rocca al Mare. Dorthin hatten sich gestern Hunderte von Menschen aufgemacht, um bei Musik und Tanz und Würsten vom Grill die Johanninacht zu feiern.

Am allerschönsten waren für mich (neben den frischen Blumensträußen vor den Häusern und in den Zimmern) die Tänze, die eine Gruppe nicht nur für die Zuschauer sondern vor allem für sich selbst getanzt hat. Das waren einfache Kreis- und Reihentänze zur Musik von Geige, Kontrabass und Akkordeon und herrlich ausgelassene, alberne Tanzspiele. Die Männer stupsen ihre Hintern aneinander, mimen einen grölenden Drachen. Die Frauen hocken sich eine hinter der anderen auf die Wiese und formen einen langen Bandwurm. Die Männer ziehen daran, purzeln durcheinander.




Nach einer Weile haben die Herren die Zuschauer aufgefordert, mitzutanzen, und so mischten sich Regenjacken und Kapuzenpullis unter die roten Röcke und immer mehr Menschen füllten die grüne Wiese. Für eine Viertelstunde hat sich mein Leben vielleicht so angefühlt, als wäre ich eine Estin. Die Füße im Wiegeschritt über das Gras, ein fescher junger Mann an meiner Seite, flatternde Bänder in wehenden Haaren in der Abendsonne, durch einen Tunnel aus Armen und den knallbunten Streifen von langen Röcken.

Eine ganz wunderbare Erfindung sind auch die estnischen Schaukeln, die, aus stabilen Brettern zusammengezimmert, an dicken Baumstämmen schwingen. Auf ihnen können acht Kinder gleichzeitig so hoch schaukeln, dass die Schuhspitzen über die Wipfel der Birken hinaus fliegen. In die Klänge des Akkordeons mischten sich helle Lachen und manchmal ein seliges Quietschen.

Ich ahne, wie sehr sich die Kinder in Estland auf den Jaani-Tag freuen müssen. Dann können sie einen ganzen Abend lang schaukeln und tanzen und sich Blütenkränze ins Haar setzen. Und ich ahne, dass einen bei dem Gedanken daran, dass die Tage nun wieder kürzer werden, eine süß schmerzende Wehmut befallen kann.

3 Kommentar(e):

Tathi hat gesagt…

Märchenhaft! Ein bisschen erinnern mich diese Szenenbeschreibungen auch an Astrid Lindgren-Filme. Beispielsweise Michel aus Lönneberga oder Madita...da passt das doch gut dazu, oder? (Idas Sommerlied hab ich gleich als Ohrwurm dazu ;-))
Mag sein, dass ich eine Kulturbanausin bin, wenn ich "Schweden aus Kinderliteratur" mit Beschreibungen aus Estland vergleiche. Aber ich möchte ja gar nicht sagen, dass sie identisch sind. Ich habe bloß Assoziationen. Und freu mich an ihnen und den hier beschriebenen Eindrücken!

Anonym hat gesagt…

Die Assoziation mit Schweden hatte ich auch gleich, hatte doch am gleichen Tag auch unsere Tochter bei ihrem Taizé-Aufenthalt von einer schwedischen Gruppe eine Einladung zur Mittsommer-Feier, einen Blumenkranz zu flechten hat sie aber nicht geschafft...
Langsam wird immer deutlicher, wie intensiv und fast gedrängt dieser nordische Sommer ist. Gerade ist der Flieder verblüht, da ist der Höhepunkt auch schon erreicht, kein langsames Gleiten vom Frühling in den Frühsommer und weiter in den Hochsommer. Alles muss innerhalb weniger Wochen blühen, reifen und aussamen, brüten, schlüpfen und flügge werden. Wie geruhsam mag dann wohl der nordische Winter sein?

Nicoletta hat gesagt…

Auch ich finde, dass sich durch diese Fotos von fröhlich feiernden Menschen und die Geschichte von Koit und Hämarik erahnen lässt, wie intensiv die Menschen auch in Estland den Jahreslauf erleben...
Und wenn ich meine Gedanken schweifen lasse, dann fällt mir auf, dass Ilon Wikland, die ihre Kindheit ja in Estland verbracht hat und die viele der Bücher von Astrid Lindgren illustriert hat, die besonderen Stimmungen der unterschiedlichen Jahreszeiten in ihren Bildern häufig aufgegriffen hat...
Und wenn ich dann noch die beiden Kommentare zu diesem Post über den Johannitag lese, dann meine ich, dass ich jetzt ein bisschen besser als zuvor verstehen kann, warum manche Szenen aus den Geschichten von Astrid Lindgren und manche der Illustrationen von Ilon Wikland so sind wie sie sind.

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